• 27. November 2021 · 07:39 Uhr

Lewis Hamilton im Interview: W12 ist "ein Monster von einer Diva"!

Lewis Hamilton spricht über die "verwirrende" Saison 2021, den miserablen Start in den Testwinter und seine harten Duelle gegen Max Verstappen

(Motorsport-Total.com) - Lewis Hamilton gibt selten Interviews. Noch seltener der Fachpresse. Wenn er sich schon löchern lässt, dann am liebsten für Hochglanzmagazine wie die GQ. Doch manchmal macht er eine Ausnahme. So auch vor den letzten beiden Rennen der Formel-1-Saison 2021, die darüber entscheiden werden, ob er zum achten Mal Weltmeister wird oder Max Verstappen zum ersten Mal.

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Lewis Hamilton könnte 2021 zum achten Mal Formel-1-Weltmeister werden Zoom Download

Es ist kein exklusives 1:1-Interview, das Motorsport Network mit Hamilton geführt hat. Aus England waren neben unserem Kollegen Jonathan Noble auch noch Mark Hughes (The Race, Motor Sport, Sky) und Andrew Benson von der BBC dabei. Aus Deutschland Michael Schmidt von auto motor und sport.

Auf anderen Portalen wurden eingekürzte Versionen des Interviews teilweise bereits veröffentlicht. Jetzt gibt's erstmals die komplett ungekürzte Fassung in deutscher Sprache nachzulesen. Hinweis: Für eine bessere Lesbarkeit haben wir die Reihenfolge der Fragen teilweise ein wenig verschoben.

Frage: "Lewis, Sie waren auch in der Vergangenheit schon in intensive Titelkämpfe involviert. Wie fühlt sich dieser jetzt im Vergleich dazu an?"

Lewis Hamilton: "Ich habe während meiner Karriere schon viele Titelkämpfe erlebt. Jeder einzelne war anders, einzigartig auf seine ganz eigene Art und Weise. Schwer zu sagen, ob einer härter war als ein anderer, weil man sich ja auch selbst weiterentwickelt."

"Als ich meine erste WM in der Formel 1 gewonnen habe, war ich noch ein Kind. Ich hatte nicht das gleiche Wissen wie mein damaliger Teamkollege. Ich wusste, dass ich das Können habe, aber ich habe nicht verstanden ... Ich hatte noch nicht viele Interviews gemacht, hatte nicht viel Ahnung davon, wie das ist, in der Öffentlichkeit zu stehen. Da ist so viel passiert. Aber ich war als Youngster ganz anders drauf."

"Der Titelkampf, in dem ich mich jetzt befinde, ist einzigartig. Ich würde sagen, der größte Teil des Drucks kommt durch die Pandemie. Das macht einen monumentalen Unterschied, weil du dich isolieren musst und nicht weißt, bei wem du dich aufhalten darfst. Das ist schon hart. Mir fällt es da schwerer, im normalen Leben das Gleichgewicht zu finden, und im Arbeitsleben auch."

Gelockerte Coronaregeln: Hamilton muss wachsam bleiben

Frage: "Was ist dieses Jahr anders als im vergangenen Jahr?"

Hamilton: "Es ist definitiv anders als vergangenes Jahr. Ich würde sagen, vergangenes Jahr war die Saison kompakter, ziemlich gequetscht. Das waren sechs Monate, die ziemlich schwierig waren, aber dieses Jahr ist das ganze Jahr so. Daher finde ich, dass es jetzt schwieriger ist."

"Einige Länder entspannen ihre Regeln ein wenig. Da wäre es leicht, die Wachsamkeit zu verlieren und in Probleme zu geraten. Du musst das andauernd im Hinterkopf haben. Es ist auch ganz anders, wie man sozial interagiert. Mein Kontakt zu anderen Menschen ist anders als in der Vergangenheit, weil man zu jedem Abstand wahrt. Am besten Luft anhalten! Das macht es viel, viel schwieriger."


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Frage: "Kommen wir zum Sportlichen. Bei den Wintertests in Bahrain haben Sie erste Schwächen am Auto festgestellt. Wie hat sich Ihre Herangehensweise dadurch geändert?"

Hamilton: "Es deprimiert einen nicht. Du weißt eh nicht, was du erwarten kannst, bevor du zum ersten Test kommst. Ich gehe immer aufgeschlossen an sowas ran."

"Für unsere Verhältnisse war der Test ziemlich schlecht. Du konzentrierst dich halt auf das, was zu tun ist: Wie bringen wir das Auto besser in Balance, wie kriegen wir es da hin, wo es hingehört? Wie können wir die Fahrbarkeit verbessern? Das sind die Dinge, in die man seine Energie steckt. Du ärgerst dich nicht drüber, dass es nicht so toll läuft, sondern du suchst, was gut ist, und dann überlegst du, wie du die Bereiche, die noch nicht so gut sind, besser machen kannst. Das war unser Fokus."

"Ich würde sagen, es war ein verwirrendes Jahr, weil wir so schlecht angefangen haben, aber trotzdem das erste Rennen gewinnen konnten. Es gab einige Rennen, da waren wir vorn, und es gab andere, da waren wir meilenweit hinten. Du weißt einfach vorher nie, wie sie sich verhalten wird, wenn du auf die nächste Strecke kommst."

Keine Muster: Mercedes- oder Red-Bull-Strecke?

Frage: "Können Sie ein Muster erkennen, welche Strecken dem Auto besser liegen?"

Hamilton: "Ich persönlich sehe ehrlich gesagt kein Muster. Ich würde tippen, dass die Ingenieure die Sache vielleicht schon ein bisschen besser verstehen, aber für mich ist das alles noch ziemlich nach Prinzip Zufall und komplett unerwartbar. Das kann immer an vielen verschiedenen Elementen liegen: unterschiedliche Kurventypen, eine andere Asphaltoberfläche, Umgebungstemperaturen, Asphalttemperaturen. Es ist ziemlich wild."

Frage: "Wie schätzen Sie Ihre eigenen Leistungen ein? In Brasilien haben wir 'Super-Lewis' gesehen. Andere Rennen liefen nicht so toll ..."

Hamilton: "Ich würde sagen, dass ich entschlossener war als je zuvor. Ich bin mit meiner Entschlossenheit und meiner Performance sehr zufrieden."


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"Wir haben dieses Jahr gemerkt - das ist Tatsache -, dass unser Auto sehr knifflig abzustimmen ist. Ich weiß nicht mehr genau, ob das im vergangenen Jahr war, als Toto gesagt hat, das Auto ist eine Diva. Aber dieses ist ein Monster von einer Diva!"

"Wir hatten außerdem weniger Trainingszeit. Da ist es noch schwieriger, das Auto ins richtige Fenster zu bekommen. Und wenn du es nicht im richtigen Fenster hast, limitierst du dir dein eigenes Potenzial. So gesehen schaffe ich es einfach nicht, mein Potenzial zu maximieren, weil das Set-up nicht optimal ist, und das ist mir manchmal sehr, sehr schwergefallen."

"In Katar hatte ich das Auto genau da, wo ich es wollte. Da haben wir den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber das war dieses Jahr vielleicht ein- oder zweimal so. Vergangenes Wochenende haben wir das Optimum ausgeschöpft, würde ich sagen. Aber meistens nicht."

Wie erklären Sie die Fahrfehler, Lewis?

Frage: "Wir haben dieses Jahr ein paar seltene Fehler von Ihnen gesehen: Imola, Baku. Was ist die Erklärung dafür?

Hamilton: "Nehmen wir Imola. Ich konnte es mir nicht leisten, weitere sieben Punkte zu verlieren, und im Rückblick könnte man fragen: 'War ich zu hastig, zu aggressiv?' Vielleicht."

"Ich kann Ihnen sagen, dass es sehr wehgetan hat, in dieses Kiesbett zu fahren. Wäre ich nur ein kleines bisschen geduldiger gewesen und hätte ich bis nach der Kurve gewartet, um diese Überrundeten zu überholen, dann hätte ich weiter auf Max aufgeholt, richtig? Das war nicht so toll. Ein echter Fehler."

"Baku sehe ich weniger als Fahrfehler, das war eher ein mechanisches Problem. Der Fehler musste fast passieren. Ich hatte diesen Knopf noch nie zuvor irrtümlich erwischt. Der Knopf ist da als 'Magic Button', um die Bremsen aufzuwärmen. Es deaktiviert die Hinterradbremsen, damit du die Vorderbremsen aufwärmen kannst, damit die Bremsscheiben und Reifen auf Temperatur kommen."

"Ich lege meine Hand immer da drauf, wegen der Art und Weise, wie ich am Start die Kupplung bediene, um nicht irrtümlich runterzuschalten. Es ist ein bisschen kompliziert, das zu erklären. Als ich meine Hand bewegt habe, muss ich irgendwie diesen Knopf berührt haben. Ich hatte keine Ahnung, dass ich ihn aktiviert hatte."

"Letztendlich war es ein Fehler, ja, aber kein klassischer Fahrfehler in dem Sinne, dass ich mich in einer Kurve verbremst hätte oder in eine Mauer geknallt wäre. Es war einfach großes Pech. Das hat mich viele Punkte gekostet, die ich nicht zurückbekomme. Wir haben danach Änderungen vorgenommen, damit das nicht noch einmal passieren kann. Später haben wir dann noch einmal was verändert, sodass 'Magic' heute kein Thema mehr ist."

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In Baku hat Lewis Hamilton einen möglichen Sieg liegen gelassen Zoom Download

Frage: "Die jungen Fahrer wollen den König stürzen. Ist das eine zusätzliche Motivation? Gehen die jungen Fahrer anders an die Sache heran?"

Hamilton: "Die jungen Fahrer heutzutage ... Mittlerweile haben die Strecken große Auslaufzonen. Als ich mit dem Rennfahren anfing, waren die meisten Strecken noch nicht so weitläufig. Das machte mehr Spaß, war riskanter und man musste so fahren, dass man nicht immer über das Limit ging. Man musste sich langsam herantasten."

"Die heutige Generation kann weit über das Limit hinausfahren und dann wieder auf die Strecke zurückkehren. Es rächt sich nicht so sehr. Das ist der einzige wirkliche Unterschied. Aber sie scheinen super motiviert zu sein. Wir wissen, dass es heute mehr Fahrer gibt, die aus wohlhabenderen Verhältnissen kommen als aus der Arbeiterklasse. Das ist nichts Neues. Aber ich denke, wir haben eine ziemlich anständige Riege von Fahrern, die sich gerade in diesem Sport etablieren."

Kein Vertrauensvorschuss für Verstappen

Frage: "Max Verstappen hat, man könnte fast sagen, seine eigenen Regeln für das Rennfahren aufgestellt. Wie fahren Sie gegen so jemanden?"

Hamilton: "Man muss einfach sehr, sehr vorsichtig sein. Vorsichtiger als jemals zuvor. Anstatt jemandem einen Vertrauensvorschuss zu geben, muss man wissen, dass genau das passieren wird. Man muss immer bereit sein, eine Kollision um jeden Preis zu vermeiden, auch wenn das bedeutet, dass man weit ausweichen muss, denn schließlich will man das Rennen zu Ende fahren, oder? Wenn man stur ist und nicht nachgibt, wird man einen Unfall bauen."

"Ich habe versucht, eine Kollision zu vermeiden. Und ich denke, das ist mir in den meisten Fällen ganz gut gelungen. Man kann es nicht immer perfekt machen, aber dann gibt es andere Fahrer, die auf unterschiedliche Weise aggressiv und respektvoll sind. Aber er ist nicht der einzige Fahrer, gegen den ich gefahren bin, der sich so verhält. Ich bin schon gegen so viele Fahrer gefahren, und sie haben sich alle sehr unterschiedlich verhalten. Das ist interessant."

"Jetzt, wo ich älter bin, schaue ich mir ihren Charakter und ihren Hintergrund, ihre Erziehung etwas genauer an. Unsere Erziehung ist der Grund, warum wir so handeln und uns so verhalten, wie wir es tun, ob gut oder schlecht. Ich versuche also, sie zu verstehen, damit ich den Charakter derer, gegen die ich Rennen fahre, besser einschätzen kann."

Frage: "Aber Sie können nicht immer nachgeben, das wäre eine Schwäche. Es muss doch den Punkt geben, an dem Sie auch mal dagegenhalten."

Hamilton: "Wenn man auf der Außenseite liegt, ist ein Ausweichmanöver so gut wie immer die vernünftigste Option, um das Rennen beenden zu können. Auf der Innenseite gab es Szenarien, in denen ich wirklich glaube, dass ich im Recht war."


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"Schauen Sie sich zum Beispiel in Silverstone die Aufnahmen an: Mein Vorderrad war neben seinem Vorderrad, es war also nicht so, dass ich mich am Kurveneingang auf der Höhe seines Hinterrads befand. Und wenn ich in dieser Situation so gehandelt hätte wie Max in Brasilien, einfach auf dem Gas geblieben und von der Strecke abgekommen wäre und dann die Position gehalten hätte, was wäre passiert? Hätten sie sich die Regeln dort angesehen?"

"Ich bin nicht zu groß oder zu erfolgreich, um zurückzuziehen und an einem anderen Tag zu kämpfen. Ich weiß, dass das manchmal der Weg ist, den man gehen muss. Man muss der Klügere sein."

"Manchmal verliert man dabei Punkte, das ist klar, aber es geht nicht nur um mich. Hinter mir stehen 2.000 Mitarbeiter, und durch diese egoistische Entscheidung zu sagen, nein, ich beharre auf meinem Standpunkt und komme nicht ins Ziel, entgehen meinem Team am Ende des Jahres potenzielle Prämien. All die harte Arbeit, die sie leisten müssen, die Schäden am Auto. Ich bin mir auch dieser Dinge bewusst."

Hamilton: Würde Silverstone wieder genauso machen

Frage: "In Imola und Spanien haben Sie nachgegeben. Gibt es den Punkt, wo Sie sagen, dass das beim nächsten Mal nicht mehr passiert?"

Hamilton: "In Imola war ich außen. Das wäre nicht gut gegangen. Dann hat er uns beinahe beide von der Strecke gedrängt. Spanien war ähnlich. Ich würde mich in diesen Situationen wieder genauso verhalten. Auch in Silverstone. Ich würde es nochmal genauso machen. So bewerte ich das mit der Rennerfahrung, die ich habe."

"Ich denke, dass ich eine ganz gute Bilanz habe, was Überholen betrifft, wo ich meine Auto positioniere und wie aufmerksam ich dabei bin. Aber es waren einfach unterschiedliche Situationen. Ich würde nicht sagen, dass ich meine Herangehensweise ändern musste, aber es ist schon so, dass es wichtig war, die Punkte zu holen, und dass mit der Zeit die Bereitschaft, noch einmal nachzugeben, sinkt, weil sich die Punkte sonst im Saisonverlauf summieren. Zu dem Zeitpunkt war ich in den Punkten ja ziemlich weit hinten."


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Frage: "Das Überholmanöver in Brasilien gegen Max Verstappen, hatten Sie das vorher geplant?"

Hamilton: "Ja. Ich ging nach innen, weil ich wusste, dass er sich so bewegen würde, dass er selbst neben die Strecke kommt. Das war geplant. Ich wusste, aus Kurve 12 heraus, dass ich nicht nahe genug dran bin, um innen reinzustechen. Aber wenn ich ihn dazu kriegen würde, zu glauben, dass ich es innen auf der letzten Rille probiere, dann würde er darauf reagieren, und er hat darauf genau so reagiert, wie ich es antizipiert hatte."

"Beim ersten Mal war ich nicht nahe genug dran. Ich lenkte auf der gleichen Linie ein wie er und habe ein bisschen Meter verloren, dadurch war ich ausgangs Kurve 3 etwas weiter hinten. Beim nächsten Mal wählte ich eine andere Linie, aber ich bekam ihn trotzdem dazu, nach innen zu ziehen, und dadurch hatte er keine Chance. So konnte ich eine andere Linie fahren und die auch halten."

"Das war vorausgeplant. Ich plane sowas aber nicht vor dem Rennen. Man muss schon vorausdenken. Es gibt ein paar Runden, in denen schmiedet man so einen Plan. So ungefähr: Wenn ich aus Kurve 12 so rauskomme, dann werde ich es so probieren, wenn ich dann bei Kurve 2, 3 und 4 bin."

Teil 2 des Interviews mit Lewis Hamilton kann hier nachgelesen werden.

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