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Ex-Renault-Teamchef Bob Bell: Formel 1 wird bald besser denn je sein
In der aktuellen Folge unserer Interviewreihe #ThinkingForward spricht Bob Bell über die Zukunft der Formel 1 und wie er mit "Grid4Good" die Welt verbessern will
(Motorsport-Total.com) - Bob Bell kann auf eine glanzvolle Karriere als Top-Ingenieur in der Formel 1 zurückblicken, wo er für McLaren, Benetton, Jordan, Renault und Mercedes gearbeitet hat. In den Jahren der Titelgewinne von Fernando Alonso war er Technischer Direktor von Renault, nach dem Abgang von Flavio Briatore übernahm er den Posten des Teamchefs. Zuletzt war er einer der Architekten der aktuellen Erfolgsära von Mercedes.
Eines seiner wichtigen Anliegen war immer schon, das Wissen und die Technologie der Formel 1 zum Nutzen breiter Teile der Gesellschaft einzusetzen. Dazu hat er 2019 das gemeinnützige Projekt Grid4Good.org ins Leben gerufen, mit dem Formel-1-Teams und Ingenieure Probleme außerhalb des Rennsports lösen wollen.
In diesem Jahr war die Gruppe zentral an der Reaktion der Formel 1 auf COVID-19 beteiligt und trug neben anderen Projekten dazu bei, die Entwicklung von Beatmungsgeräten für schwerkranke Patienten zu beschleunigen.
Was hinter "Grid4Good" steckt
In der aktuellen Folge unserer Interviewreihe #ThinkingForward mit führenden Köpfen des Sports erklärt Bell die Mission von Grid4Good, prophezeit der Formel 1 ein goldenes Zeitalter und blickt voraus auf eine mögliche Fussion von Formel 1 und Formel E. Das komplette Interview gibt es als Podcast und Video.
#ThinkingForward-Interview mit Bob Bell
Das komplette Gespräch mit Ex-Renault-Teamchef Bob Bell im Rahmen unserer Interviewreihe #thinkingforward. Weitere Formel-1-Videos
Frage: "Herr Bell, wie ist die Initiative Grid4Good entstanden?"
Bob Bell: "Ich bin vor einigen Jahren 60 geworden und hatte immer gesagt: Wenn ich diesen Punkt erreiche, ziehe ich mich aus dem Rennsport zurück und mache etwas anderes, etwas für die Gesellschaft. Motorsport bewirkt viel für die Gesellschaft, und darauf bin ich stolz. Aber persönlich war ich immer der Meinung, dass der Einfluss unmittelbarer sein sollte. Anfang 2019 haben wir mit einigen Kollegen aus der Formel 1 Grid4Good ins Leben gerufen."
"Die Idee war, dass wir im Hintergrund Projekte im gemeinnützigen Sektor übernehmen und diese mit potentiell kostenlosen oder kostengünstigen Lösungsansätzen aus der Welt des Motorsports verknüpfen. Wir haben einigen britischen Wohltätigkeitsorganisationen geholfen, ihre PR und ihr Marketing zu erneuern, einige PR-Agenturen aus der Formel 1 haben das für uns ohne Honorar getan. Und wir haben einem Formel-1-Team dabei geholfen, elektrische Rollstühle neu zu entwickeln. "
"Zu Beginn dieses Jahres kam dann die Coronakrise, und alle im Fahrerlager waren entschlossen, die Regierung bei der Bewältigung der technischen Herausforderungen zu unterstützen. Grid4Good war durch die Initiative 'Project Pitlane' ein Teil davon. Es hat das Konzept auf eine Weise bestätigt, die ich mir nie hätte erhoffen können. Wir haben ein paar ältere medizinische COVID-19-Projekte auf den Weg gebracht. Und wir sind immer auf der Suche nach neuen Projekten."
Bob Bell: Motorsport kann schnelle Lösungen liefern
Frage: "Sie haben das 'Project Pitlane', diese tolle Reaktion der Formel-1-Teams, bereits erwähnt. Bemerkenswert war daran nicht nur die technische Innovation, sondern auch die Reaktionsschnelligkeit. Normalerweise dauert es in der Medizintechnik lange, Beatmungsgerät zu entwickeln, aber das Tempo, was die Formel 1 in diesem Bereich an den Tag gelegt hat, war einfach herausragend."
Bell: "Absolut! Auf die Reaktionsschnelligkeit kam es an. Die Formel 1 hat diese 'Wir machen das'-Haltung, die im Rest der Welt immer mehr verschwindet. Die Welt wird immer komplexer, immer bürokratischer, es fällt immer schwerer, schnell zu handeln."
"Bei der Reaktion der Motorsport-Welt auf die COVID-Situation war nicht die Technologie entscheidend, sonder die Tatsache, dass wir es in dieser Zeitspanne hinbekommen haben. Wenn wir vor eine Herausforderung gestellt werden, finden wir mit unseren Mitteln schneller als alle anderen eine Lösung. Denn dafür werden wir bezahlt!"
Frage: "Sie haben schon lange die Ansicht vertreten, dass der Transfer von Technologie und Arbeitsweisen aus dem Motorsport in die breite Gesellschaft unglaublich wichtig ist. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass Sicherheitsgurte, Scheibenbremsen oder verformbare Crash-Strukturen - viele alltägliche Dinge - ihren Ursprung im Motorsport haben. Dass diese Tatsache immer mehr anerkannt wird, muss Sie ziemlich zufrieden machen."
Bell: "Ja, auf die Verdienste der gesamten Branche bin ich wirklich stolz. Sie haben schon einige konkrete Produkte genannt, von denen heute viele in der Gesellschaft profitieren. Was dabei aber ein wenig untergeht ist der Fortschritt, denn der Motorsport und vor allem die Formel 1 bei Arbeitsabläufen und Methoden bringt. Wir nutzen in der Formel 1 beispielsweise intensiv Computational-Fluid-Dynamics (CFD) zum Design der Aerodynamik der Autos."
"In der der COVID-Krise haben wir CFD genutzt, um die Verteilung der Aerosole von Krankenhaus-Patienten zu analysieren. Wenn sie während einer Intubation Husten müssen, wie verteilen sich dann die Aerosole? Wie lange dauert es, dass Zimmer zu evakuieren? Solche wirklich schwierigen Probleme zu analysieren, geht nur mit CFD. Und wir haben die Expertise, schnell glaubwürdige Antworten zu liefern."
Frage: "Wir beobachten eine starke Verlagerung hin zum zweckgebundenen Motorsport. Das gilt für alle Sportarten, aber bei unserem Sport wird es in Zukunft nicht mehr ausreichen, nur eine Unterhaltungsplattform zu sein, insbesondere für die Generation der Millennials. Nachhaltigkeit, Vielfalt und Zugänglichkeit - die Nachfrage nach all diesen Dingen hat sich beschleunigt. Und der Aspekt der sozialen Gerechtigkeit wird im Sport immer größer und größer. Wie stehen Sie zu diesen Aspekten?"
Bell: "Die Corporate Social Responsibility [Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung] ist besonders für große Konzerne, die ein eigenes Formel-1-Team besitzen, unglaublich wichtig. Diese Unternehmen müssen sich der sozialen Fragen in der Welt viel stärker bewusst werden, und das gilt auch für ihre Rennteams. Das wird wirklich wichtig, weil sich die Gesellschaft verändert. Die jüngere Generation, die Fans, die wir zu gewinnen und zu halten versuchen, verlangen von uns etwas anderes als ihre Vorgänger."
"Wenn wir das nicht anerkennen und nicht darauf reagieren, werden wir sie verlieren. Ich denke, die Formel 1 unter der neuen Führung von Liberty, mit Ross [Brawn] und Chase [Carey], tut alles, was sie kann, um sicherzustellen, dass die Formel 1 an der Spitze steht. Und es geht nicht nur um Umweltfragen, es hat viel mit Inklusivität zu tun, Dinge wie MINT-Fächer, Vielfalt, Gleichheit und Fairness."
Nachhaltigkeit in der Formel 1 entscheidend
Frage: "Im vergangenen Jahr habe ich bei Mercedes einige junge Ingenieure getroffen, und recht viele von ihnen waren Frauen. Und auch wenn man sich im Fahrerlager umschaut, findet man in vielen Teams Frauen auf wichtigen Positionen, zum Beispiel bei der Rennstrategie. Spüren Sie, dass die Beteiligung von Frauen innerhalb des Sports zunimmt und dass die Gesichter an der Boxenmauer in fünf oder zehn Jahren in den Schlüsselpositionen ganz anders aussehen werden?"
Bell: "Oh, absolut. Und es ist zu begrüßen. Aber ich glaube, das Problem beginnt in der Gesellschaft früher als im Motorsport. Ich glaube, es gibt ein Problem, das schon in den ersten Tagen der Schulzeit beginnt. Wir müssen einen viel größeren Sektor der Gesellschaft dafür interessieren, Ingenieure und Wissenschaftler zu werden. Ich denke, wir müssen auf allen Ebenen arbeiten, von der Basis, von der Grundschule an aufwärts."
"Wir müssen eine Kultur des Interesses an Fächern schaffen, die traditionell als 'Männerfächer' betrachtet wurden, nämlich die Wissenschaften. Die Formel 1 und der Motorsport können ihren Teil dazu beitragen. Aber wir müssen auch Veränderungen auf den unteren Ebenen sehen."
Frage: "Dies war ein wichtiges Jahr für die Formel 1: die Unterzeichnung des Concorde-Agreement, eine vernünftige Budgetobergrenze und Nivellierungsmaßnahmen, von denen ich nie gedacht hätte, dass wir sie in der Formel 1 erleben würden. Es hat Stabilität in einem schwierigen Moment gebracht. Aber mit all Ihrer Erfahrung: Glauben Sie, dass der Sport tatsächlich in der Lage sein wird, daraus Kapital zu schlagen und die Formel 1 noch besser und zukunftstauglich zu machen?"
Bell: "Auf jeden Fall. Die Formel 1 ist immer gut. Ich denke, was wir jetzt haben und worauf wir uns weiterentwickeln werden, wird das Beste sein, was es bisher gegeben hat. Die Richtung, in die es geht, mit echten Versuchen, die Kosten zu senken, ist absolut entscheidend. Man kann die Budgets, die für die Formel 1 aufgewendet werden müssen, gegenüber dem Rest der Gesellschaft nicht rechtfertigen, das ist nicht nachhaltig."
Bob Bell: Formel 1 muss junge Zielgruppen ansprechen
"Und wir müssen die Wettbewerbsbedingungen angleichen; das wird nicht von allein geschehen. Es wird nur durch eine starke Führung geschehen, und die haben wir mit den Eigentümern von Liberty und mit der FIA. Ich glaube nicht, dass dies das Sportspektakel in irgendeiner Weise schmälern wird. Es wird immer noch großartige Rennen geben, wir haben immer noch große Champions, große Fahrer."
"In der Formel 1 geht es nicht nur darum, was auf der Rennstrecke passiert. Zunehmend ist das, was abseits der Rennstrecke passiert, von großem Interesse für die Öffentlichkeit und die Fans. Der Erfolg der Netflix-Serie 'Drive to Survive', die wachsende Bedeutung der sozialen Medien - die Menschen wollen mehr als nur das Rennen an einem Sonntagnachmittag. Um nachhaltig zu sein, muss sich die Formel 1 verändern und die Wünsche und Bedürfnisse einer potenziellen Fangemeinde widerspiegeln. Andernfalls wird sie nur verwelken."
"Wo liegt dann technisch gesehen die Zukunft des Sports? Wir haben diese Herausforderung vor uns. Die Formel 1 ist im Wesentlichen eine Hybridformel, die momentan von der Technologie der Verbrennungsmotoren dominiert wird. Wir haben die Formel E parallel laufen, die vollständig elektrisch betrieben wird. Dieses Zweiklang muss irgendwann gelöst werden. Ich bin sehr optimistisch, was die Formel 1 betrifft. Ich denke, sie ist in guter Verfassung, und die Aussichten sind gut."
Was ist die Zukunft: Elektro oder Wasserstoff?
Frage: "Wir sehen aktuell, dass sich die Budgets der Formel 1 und der Formel E annähern. Wie Sie sagen, werden die Serien irgendwann in der Zukunft fusionieren müssen. Aber die Formel E hat die für lange Zeit eine Exklusivlizenz für elektrische Formelautos erhalten. Wenn wir in 15, 20 Jahren auf die Strecke schauen und uns vorstellen, wie der Motorsport dann wäre: Sehen Sie dann in der Top-Formelklasse und in Le Mans elektrisch oder mit Wasserstoff abgetriebene Autos? Und wie wird es im Kundensport, in serienbasierten Kategorien wie den Tourenwagen aussehen?"
Bell: "Letztendlich wird die Spitze des Marktes ohne CO2-Emissionen auskommen. Formel 1 und Formel E werden ihrer Differenzen beilegen und vielleicht zu einer Serie verschmelzen, wie auch immer sie dann aussehen wird. Dasselbe gilt für Le Mans - diese Formeln werden alle elektrisch oder mit Wasserstoff betriebenen oder was auch immer auf uns zukommt. Ich denke, es wird in den Herzen und Köpfen vieler Menschen immer noch einen Platz für den Rennsport geben, der in eine andere Ära zurückreicht."
Ich glaube, es gibt viele Elemente des Rennsports, insbesondere an der Basis, die vielleicht noch etwas veraltet sind. Aber es ist wichtig, dieses Erbe zu bewahren. Das große Ganze, die Nachhaltigkeit kann von den großen Serien erreicht werden. Der Unterschied bei der Formel 1 und den anderen großen Serien, ist die Vorreiterrolle, indem sie Technologien demonstrieren, die auf der ganzen Welt anwendbar sind, und den technischen Fortschritt beschleunigen. Um ein Beispiel für den Rest der Welt zu setzen."