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"Gesundschrumpfung" der F1? "Hatte Gefühl, dass Geld keine Rolle spielt!"
Marc Surer im Interview zur Zukunft des Motorsports: Wie ein "Gesundschrumpfen" durch Corona möglich ist und die Formel 1 wieder zum Vorreiter für die Umwelt wird
(Motorsport-Total.com) - Marc Surer (68) bestritt von 1979 bis 1986 insgesamt 82 Grands Prix in der Formel 1, darüber hinaus startete er bei Rallyes und Langstreckenrennen. Anfang der 90er-Jahre fungierte er in der DTM als Fahrertrainer und Rennleiter für BMW, ehe er zwischen 1996 und 2017 als TV-Kommentator arbeitete (DF1/Premiere/Sky). Seit 2019 ist der Schweizer beim SRF zu hören. Unser Kooperationspartner 'FOCUS Online' erreicht Surer in seiner Wahlheimat Spanien am Telefon.
Frage: "Herr Surer, die Formel 1 plant ihren Saisonstart für Anfang Juli. Haben Sie Zweifel?"
Marc Surer: "Ich glaube nie, dass sie 15 Rennen hinkriegen. Wir brauchen acht, um eine Weltmeisterschaft zu haben - das sollte gelingen."
Frage: "Mit Hockenheim?"
Surer: "Das wäre toll. Von der Anlage her ist Hockenheim optimal, die Teams wären alle innerhalb der Strecke im Fahrerlager, also abgeschirmt. In Spa, zum Beispiel, sehe ich große Probleme - wie will man kontrollieren, dass die Fans nicht trotzdem zur Strecke kommen, über die Zäune im Wald?"
Frage: "Der britische Sportwagenbauer McLaren streicht 1.200 von 4.000 Stellen, für das Formel-1-Team sind 70 von 800 Jobs betroffen. Zeigt das schon, dass auch eine Milliardenbranche in der Coronakrise um die Existenz kämpft?"
Surer: "Es sind keine Existenzsorgen, sondern normale Folgerungen der Budgetobergrenze, dass man nicht mehr mit so vielen Personen arbeiten kann. Und bei McLaren geht's ja mehr um Straßenautos."
Formel-1-Experte Surer: Was gegen einen Mercedes-Ausstieg spricht
McLaren-Teamchef Andreas Seidl nennt die Coronakrise einen "finalen Weckruf, dass wir dringend noch drastischere Maßnahmen brauchen". Die für 2021 geplante Budgetobergrenze stand ursprünglich bei 175 Millionen Dollar pro Jahr und Team, wegen Corona wurde sie auf 145 Millionen Dollar reduziert, bis 2023 soll sie auf 135 Millionen Dollar gesenkt werden (mit etlichen Ausnahmen, etwa für Marketing, Fahrergagen oder die bestbezahlten Angestellten).
Frage: "Reicht das, um die Teams leben zu lassen?"
Surer: "Eigentlich ist die Grenze noch zu hoch, aber für die großen Teams bedeutet sie einen brutalen Einschnitt. Was McLaren machen musste, werden die großen Teams auch müssen: Leute entlassen. Das ist ja nicht der Sinn der Budgetobergrenze, es geht darum, weniger Entwicklung zuzulassen."
"Natürlich wird es Mitarbeiterplätze kosten, weswegen man die Grenze nicht noch weiter runterfahren konnte auf 100 Millionen oder was auch immer die kleinen Teams gewünscht haben - dieser Einschnitt wäre für die Topteams zu groß gewesen."
Frage: "Haben sie Hoffnung, dass sich die sportliche Zweiklassengesellschaft - Mercedes, Ferrari, Red Bull, dann lange nichts, dann der Rest - etwas einpendelt und bald mehr Chancengleichheit herrscht?"
Surer: "Die Budgetobergrenze wird nur langsam Einfluss haben. Das Knowhow der großen Teams fließt in den nächsten zwei Jahren noch in die Autos ein - erst dann wird es weniger, weil die Möglichkeiten nicht mehr da sind. Was mir beim neuen Reglement sehr gut gefällt: Dass sie eine Handicap-Formel für die Aerodynamik einführen und den Topteams nicht mehr erlauben, 100 Prozent ihrer Windkanalstunden zu nutzen."
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"Das ist etwas, was die Formel 1 von der MotoGP lernen konnte, wo es schon länger eine Handicap-Formel gab, wodurch kleine Teams mehr testen und entwickeln dürfen. Das hat gut funktioniert: Bei MotoGP-Rennen sind drei, vier Marken praktisch gleich schnell unterwegs, und ein kleines Team hat trotzdem die Chance mitzuhalten. Daher hat die Formel 1 einen ersten Schritt gemacht, indem die Großen ihren Vorsprung nicht immer weiter ausbauen, sondern die Kleinen aufholen können."
Frage: "In den 80er-, 90er- und 2000er-Jahren wurde in der Formel 1 unendlich Geld verbrannt, ausgerechnet zum 70-jährigen Bestehen steht der Sport vor Grundsatzfragen, die es in dieser Dimension noch nie gab. Nach der Finanzkrise 2008 zogen Honda, BMW und Toyota den Stecker. Wie groß sehen sie die Gefahr, dass Renault oder sogar Ferrari und Mercedes wegen Corona aussteigen? Zumal Mercedes doch alles gewonnen hat."
Surer: "Eigentlich ist die Budgetobergrenze etwas, was dagegen spricht. Bisher hat Mercedes die Formel 1 rund 300 Millionen pro Jahr gekostet, das wird sich durch die Budgetobergrenze ändern."
"Topteams holen alleine rund 100 Millionen an Preisgeldern rein, den Rest kann man mit Sponsoren abdecken - oberflächlich betrachtet muss Mercedes eigentlich gar nichts mehr drauflegen, um die laufenden Kosten zu decken. Es ist also ein Grund pro Formel 1, weil die großen Werke auch große Sponsoren haben."
Coronakrise: Surer sieht "Gesundschrumpfung" für Formel 1
Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff sagte im vergangenen Jahr, dass die Hybrid-Turbos inklusive Energierückgewinnung aufgrund ihrer thermischen Effizienz bedeutsam seien, um die Formel 1 attraktiv für Konzerne zu machen respektive zu halten - ansonsten wäre "heute mit Sicherheit kein großer Hersteller mehr dabei". Mit Corona machte Daimler im 1. Quartal 2020 allerdings horrende Umsatzeinbußen von 78 Prozent, und in der deutschen Automobilindustrie sind 100.000 Arbeitsplätze bedroht.
Frage: "Wie legitimiert ein Konzern da noch Multi-Millionen-Investitionen für ein Showgeschäft wie die Formel 1? Marketing, also Autos verkaufen - oder technischer Fortschritt mit Entwicklung für die Serie?"
Surer: "Das ist schwierig. Ich denke, in erster Linie muss es eine Marketing-Geschichte sein. Mercedes hat bekanntgegeben, dass Formel-1-Motoren die effizientesten Motoren auf dem Markt sind, weil sie über 50 Prozent Energie ausnutzen können - das schafft kein anderer Motor."
"Insofern hat Mercedes auch technisch einen Vorteil, den sie in der Formel 1 entsprechend vermarkten können. Mit der Budgetobergrenze dreht sich die Geschichte von selbst: Wenn Mercedes kein Geld mehr investieren muss, sondern es von allein läuft mit den Sponsoren, die sie schon haben, und dem Geld, das von der Formel 1 kommt."
Frage: "Also sehen Sie die Coronasituation gar nicht so dramatisch für die Formel 1?"
Surer: "Im Gegenteil. Ich glaube, wir sehen hier eine Gesundschrumpfung. Vorher hatte man immer das Gefühl, dass Geld keine Rolle spielt. Ob es jetzt 1.000 oder 700 Mitarbeiter sind - es war einfach eine Wahnsinnsmasse. Plötzlich wird es, vielleicht beschleunigt durch Corona, auf ein vernünftiges und überschaubares Maß zurechtgestutzt. Es gibt doch nichts Besseres als einen Sport, der sich selber trägt."
Formel-1-Zukunft: "Synthetischer Kraftstoff ist genau die richtige Lösung"
Mercedes-Boss Wolff prophezeite 2019: "Alles dreht sich um Nachhaltigkeit und darum, CO2-neutral zu werden." Künftig soll synthetischer Kraftstoff genutzt werden, ein E-Fuel, der partiell aus erneuerbaren Energien entsteht und annähernd CO2-neutral sein soll - was der Formel 1 sogar Vorteile im Vergleich mit der Elektro-Rennserie Formel E bescheren würde. Über die Jahre soll die Rate gesteigert werden mit dem Fernziel, irgendwann unabhängig von fossilen Brennstoffen zu sein.
Frage: "Alle relevanten Hersteller engagieren sich mittlerweile in der Formel E. Besteht die Möglichkeit, dass die Formel 1 in ihrer Relevanz mittelfristig überholt wird? Anders ausgedrückt: Muss die Formel 1 auch elektrisch werden?"
Surer: "Nein. Ich glaube, dass die Idee mit dem synthetischen Kraftstoff genau die richtige Lösung ist. Ich habe auch einige Formel-E-Rennen kommentiert: Hinter den Boxen lagen Generatoren, die die Autos aufladen und Strom erzeugen. Das sind Dieselaggregate, die teilweise mit Biobenzin laufen - aber wieso muss man dafür Batterien aufladen?"
"Wir kommen genau an den Punkt, dass E-Mobilität für alle gar nicht möglich ist - weil es ganz einfach nicht genug Strom gibt. Das wird natürlich verschwiegen, weil es aktuell 'in' ist, Elektroautos zu haben. Ich glaube, dass der Motorsport hier zeigen könnte: Es gibt auch andere Wege. Und wenn synthetischer Kraftstoff wirklich mit erneuerbaren Energien gewonnen wird, könnte er dieser Weg sein."
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Frage: "Liegt darin auch die Daseinsberechtigung für die Formel 1 in Zeiten von massiv gesteigertem Umweltbewusstsein?"
Surer: "Richtig. Das ist ja genau der Vorteil: Wenn man es für die Straße machen würde, wäre der Liter viel zu teuer. Aber wenn die Formel 1 da Vorreiter spielt, wird man Wege finden, es irgendwann günstiger herzustellen, und dann bringt es wieder etwas für den Straßenverkehr. Das ist doch die ursprüngliche Formel 1. Durch die Hybrid-Motoren haben wir Autos, die in einer Runde ihre Batterien wieder vollladen - versuchen Sie das mal durch Bremsen auf der Straße."
"Genau so könnte es jetzt mit dem Benzin gehen: Unter Wettbewerbsdruck wird synthetischer Kraftstoff gewonnen, noch dazu CO2-neutral. Wenn man ihn irgendwann in größeren Massen herstellt, wird er auch billiger, dann tut man der Umwelt einen riesigen Gefallen. Die Formel 1 hat eine gute Chance, wieder Vorreiter zu werden, wie das immer wieder der Fall war. Das letzte Mal mit der Halbautomatik, also mit der Wippenschaltung am Lenkrad, was heute sehr viele Straßenautos haben. Dann kam Hybrid. Jetzt wäre synthetischer Kraftstoff der nächste große Schritt."
Surer: "Die Formel 1 ist auf dem besseren Weg als die Formel E"
Frage: "FIA-Präsident Jean Todt benannte die Formel für die Formel 1: 'Hybridtechnologie, Energieeffizienz, immer geringerer Benzinverbrauch - das sind die wichtigen Faktoren für die Zukunft.'"
Surer: "Der Vorteil der Formel 1 gegenüber dem Straßenauto ist, dass der Benzinpreis nicht unbedingt eine Rolle spielt. Ein Liter Formel-1-Benzin kostet rund 200 Dollar, bei solchen Preisen kann man durchaus synthetischen Kraftstoff herstellen."
"Damit würde die Formel 1 wieder Zukunftsforschung betreiben. Deswegen glaube ich, dass die Formel 1 auf dem besseren Weg ist als die Formel E, wo man riesengroße, 350 Kilo schwere Batterieklötze baut, die recycelt werden müssen. Ich glaube nicht, dass das die Zukunft des Motorsports sein kann - dieser Batteriebau ist ja schon in Verruf geraten."
Frage: "Aber grundsätzlich sehen Sie die Zukunft des Motorsports nicht bedroht?"
Surer: "Ich glaube nicht. Solange es Autos gibt, gibt es auch Motorsport. Wenn man sieht, welchen Zulauf etwa die Oldtimer-Szene hat: Die Menschen haben Freude am Auto und am Wettbewerb. Ich glaube, das wird bleiben."
Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst am 29. Mai bei FOCUS Online erschienen. Zur Originalversion bei unserem Kooperationspartner geht es hier!