Interview mit Toto Wolff: "Den Job kann man nicht lange machen"
Mercedes-Sportchef Toto Wolff zeigt sich im Interview von seiner philosophischen Seite: Was das Ausschalten des Smartphones mit seinem Erfolg zu tun hat
(Motorsport-Total.com) - Das Mercedes-Team stellte in der Formel-1-Saison 2015 reihenweise Rekorde auf und beherrschte die Szene wie einst Michael Schumacher und Ferrari. Dreh- und Angelpunkte des Erfolgs der modernen Silberpfeile ist Sportchef Toto Wolff. Der 43-jährige Österreicher hält 30 Prozent der Anteile am Team, ist verheiratet mit Rennfahrerin Susie Wolff und Geschäftspartner von Niki Lauda. Während seine (mäßig erfolgreiche) aktive Karriere mit einem schweren Unfall auf der Nürburgring-Nordschleife endete, ist er als Manager ungleich erfolgreicher. Soweit die Fakten.
Als wir Wolff zwei Tage nach dem letzten Saisonrennen zum Interview in den Petronas-Towers in Kuala Lumpur treffen, entdecken wir seine philosophische Seite. Der Sohn polnischer und rumänischer Einwanderer, der aus einfachen Verhältnissen stammt, mit Geldsorgen aufwuchs und seinen Vater früh verlor, offenbart intime Einblicke. Er spricht über die Liebe zu seiner Frau, die Bedeutung des Handys in seinem Leben und den Grundstein des Erfolgs, der noch von seinen Vorgängern bei Mercedes gelegt wurde.
Frage: "Herr Wolff, sprechen wir zunächst über Gerüchte, die in Abu Dhabi die Runde gemacht haben. Es gab Zeitungsberichte über ein Zerwürfnis zwischen Ihnen und Niki Lauda. Es hieß, dass er deswegen am Saisonende zurücktreten würde. Was ist die Wahrheit?"
Toto Wolff: "Zuerst muss ich dazu sagen, dass ich meine Meinung in der Formel 1 geändert habe. Ich war ein sehr engagierter und emotionaler Teilhaber dieses Business' und hatte das Gefühl, dass es nicht gut wäre, den Sport schlecht zu reden und schlecht zu schreiben. Heute glaube ich, dass die Kontroversen abseits der Strecke und einige der Geschichten, die man so lesen kann, immerhin Schlagzeilen produzieren."
"Manche Storys, die man so liest, sind eine Entstellung der Fakten. Fast bis zu einem Grad, dass ich denke, es könnte für den Sport schädlich sein und sich auf die Zuschauerzahlen auswirken. Die Niki-Story ist ein weiterer Blödsinn, von dem jemand das Gefühl hatte, dass er ihn verbreiten müsste. In jeder erfolgreichen Organisation gibt es immer unterschiedliche Standpunkte und Ansichten. Das ist nicht nur zwischen Niki und mir so. Zwischen vielen von uns finden manchmal hitzige Diskussionen statt - ob sie nun positiv oder negativ für das Team sind."
"Unter dem Strich verfolgen wir das gleiche Ziel, nämlich das Team so erfolgreich wie möglich zu machen, und zwar auf einer funktionierenden Plattform. Einige der Gerüchte, die am Wochenende verbreitet wurden, waren so lächerlich, dass wir fanden, wir sollten darauf mit einem genauso lächerlichen Foto reagieren, nämlich händchenhaltend."
Frage: "Hatten Sie eine dieser Diskussionen mit Niki Lauda über die Motoren für Red Bull? Es heißt, es hätte einen Handschlag zwischen ihm und Dietrich Mateschitz gegeben, aber Sie und der Vorstand hätten widersprochen und sich dagegen entschieden."
Wolff: "Meines Wissens hat Niki nicht über einen Deal die Hände geschüttelt. Das ist nicht die Art und Weise, wie man so etwas machen würde. Wir sind nie in richtige Vertragsverhandlungen gegangen. Ich respektiere, dass jeder zu diesem speziellen Thema eine andere Meinung hat. Red Bull hat sicher eine. Niki ist unser Außenminister. Er hat ein sehr gutes Verhältnis zu den meisten Leuten. Das ist genauso wichtig. Aber aus Teamsicht haben wir sehr lange darauf gewartet, da hinzukommen, wo wir jetzt stehen."
"Es ist so viel geistiges Eigentum reingeflossen, dass wir fanden, wir wollen es nicht jemandem geben, der entschieden hat, dass sein Motor und seine Partnerschaft nicht mehr die beste wären, er aber die beste haben möchte. Es kam fast so rüber, als hätten sie das Recht auf die beste Antriebseinheit, aber so arbeitet Mercedes nicht. Was wir haben, haben wir entwickelt, als die Antriebseinheit nicht ganz oben stand, nämlich 2010, 2011, 2012 und 2013. Wir haben es einfach gemacht."
Fotostrecke:
Einst waren sie dicke Kumpels, gemeinsam im Urlaub, beim Hamburger auf der Couch vereint und gemeinsam fröhlich tanzende Podiumsbesucher. Mittlerweile herrscht zwischen Lewis Hamilton und Nico Rosberg Eiszeit. Die Saison 2015 markierte neue Höhepunkte einer Teamfehde, die die Formel 1 zuvor so nicht gekannt hat. Zwar bekämpften sich Erzfeinde wie Ayrton Senna und Alain Prost oder Nigel Mansell und Nelson Piquet mit unlautereren Mitteln - jedoch waren sie keine Sandkastenfreunde. 'Motorsport-Total.com' zeigt den Titelfight in der Chronologie. Fotostrecke
Frage: "Werfen wir einen Blick zurück auf die vergangenen Jahre. Zwei WM-Titel, eine Hochzeit, 30 Prozent am zweitwertvollsten Team der Formel 1. Klingt nach der Zeit Ihres Lebens."
Wolff: "Wenn ich mich eines Tages umdrehen und darauf zurückblicken werde, werde ich es wahrscheinlich so bezeichnen. Aber wenn man quasi mittendrin ist im Kriegsgebiet, ist es nicht immer einfach, so zu reflektieren. Das ist eine philosophische Diskussion."
"In meinem Privatleben, mit meiner Familie und meinen Kindern bin ich sehr glücklich. Die Hochzeit mit meiner Frau war mein absolutes Highlight. Ich habe 2011 geheiratet und habe die beste Beziehung der Welt. Die ist auch einer der Gründe, warum ich das machen kann, was ich tue, und dass ich da bin, wo ich bin. Manchmal zwickst du dich. Zweiter Platz im ersten Jahr, den zweiten Titel geholt, all diese Rekorde, die sich in Zahlen in irgendwelchen Büchern widerspiegeln. Das ist gut."
"Ich glaube, letzten Endes geht um die Zeit, die du hast - das ist eigentlich das, was mir Spaß macht. Die Entwicklung des Teams und die Interaktion mit den Menschen: Wir haben wirklich Spaß bei der Sache, obwohl wir alle sehr ehrgeizig sind. Das ist das, was von diesen Jahren bleibt: Viele neue Freunde, viele neue Beziehungen im Team, die mich persönlich weitergebracht haben und die das Team weitergebracht haben. Das ist für mich das Wichtigste."
Frage: "Bleibt überhaupt genug Zeit, das alles in Ruhe zu reflektieren? Oder wollen Sie das vielleicht nicht?"
Wolff: "Ich würde das gerne, aber jedes Mal, wenn ich versuche, es zu reflektieren, beißt mich die Skepsis, wie es morgen wird. Das ist etwas, was man machen muss, was sehr schwierig ist. Unsere Zeit ist höchstens die im Flugzeug."
"Ich bin im vergangenen Jahr 1.000 Flugstunden geflogen. Das ist die Zeit, in der ich versuche, mich zurückzulehnen, den Kopfhörer aufzusetzen und Musik zu hören. Da versuche ich zu reflektieren, aber die Gedanken schweifen dann wieder ab zu Dingen, wo ich Verbesserungspotenziale sehe - was wir neu machen können und verändern müssen, um weiter konkurrenzfähig zu sein."
FIA-Gala: Hamilton, Rosberg und Vettel geehrt
Lewis Hamilton, Nico Rosberg und Sebastian Vettel werden bei der FIA-Gala in Paris für ihre Erfolge in der Formel 1 ausgezeichnet Weitere Formel-1-Videos
Frage: "Sind das auch die einzigen Momente, in denen das Handy ausgeschaltet ist?"
Wolff: "Das Handy ist ein fürchterliches Werkzeug unserer Zeit. Mit der ständigen Erreichbarkeit und mit den verschiedensten Kommunikationsformen - ob E-Mail, SMS, WhatsApp oder die sozialen Medien - hast du einen ständigen Überfluss an Informationen, der es so weit kommen lässt, dass du eigentlich nicht mehr aufnahmefähig bist. Du liest nur noch drüber."
"Ich halte es für ein wirkliches Problem, dass es dir den Fokus raubt. Wann immer wir eine freie Sekunde haben, greifen wir zum Handy und scrollen durch irgendwelche Nachrichten. Das ist etwas, was ich bewusst versuche zu vermeiden und es nicht zu machen. Der erste Griff in der Früh ist nicht der zum Handy, auch wenn's manchmal schwierig ist."
"Wenn ich auf einem Flughafen sitze oder eine freie Minute habe, versuche ich, mich nicht über die sozialen Medien selbst zu entertainen, sondern stattdessen über die wichtigen Sachen nachzudenken - seien es die geschäftlichen oder die familiären. Es ist eine Frage der Disziplin, die mir nicht immer gelingt. Aber umso öfter es gelingt, desto mehr wird es Bestandteil eines Verhaltens. Ich glaube, das betrifft uns alle."
Frage: "Ist das ein Job, den man 20 oder 30 Jahre machen kann, oder wird der Punkt kommen, an dem man eine Auszeit braucht, weil man zu viel auf 100 Prozent gelaufen ist?"
Wolff: "Nein, das ist kein Job, den man lange machen kann. Es ist mehr als 100 Prozent - wobei das nicht geht -, es ist 24/7. Es geht so viel verloren an Möglichkeiten, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, mit Hobbys, mit der Familie, mit deinen Freunden. Wenn du hundertprozentig fokussiert sein willst auf diesen Job, musst du zwangsläufig immer voller Energie sein. Und ich bin nicht sicher, ob man das 20 Jahre lang machen kann."
Frage: "Nico Rosberg hat zum zweiten Mal in Folge den WM-Titel verloren. Haben Sie die Befürchtung, dass sich das Berger/Senna-Phänomen einstellen könnte, als man auch sehen konnte, dass Gerhard Berger von seinem übermächtigen Teamkollegen gebrochen schien?"
Wolff: "Ich kann das nicht beurteilen, weil ich in dieser Zeit nicht in diesem Sport tätig war, sondern nur die Ergebnisse kenne. Ich kenne auch Gerhard, der ein wirklich starker Charakter ist. Ich kann die Dynamik kaum nachvollziehen, ob er wirklich gebrochen war oder ob er schlussendlich einen Teamkollegen hatte, der einfach diesen Schritt besser war, und er das neutral anerkannt hat. Gebrochen hat es ihn glaube ich nicht."
"Zwischen Nico und Lewis ist die Situation anders. Nico weiß vielleicht ganz genau, wo er Defizite hat, aber auch, wo er Vorteile hat. Er hält dagegen und optimiert diese Defizite und arbeitet an seinen Vorteilen. Dieses Dagegenhalten, dieses sich nicht unterkriegen lassen und das Team zu motivieren, in dem Team eine wichtige Rolle zu spielen, das versteht er unheimlich gut. Insofern sehe ich die beiden trotz Lewis' zwei Titeln - und das werden viele Leute kritisieren - als äquivalente Bestandteile des Teams, auch wenn die Statistik rein nach Zahlen für Lewis spricht."
Frage: "Rein hypothetisch gefragt: Könnte man das Kräfteverhältnis zwischen den beiden als Team steuern?"
Wolff: "Nein, das kannst du nicht. Wir leben in einer transparenten Zeit. Was auch immer das Auto da draußen tut, ist sichtbar für alle Ingenieure, für die Fahrer und schlussendlich für die Medien. Alles wird in den Medien und im Fernsehen millionenfach transportiert, insofern besteht diese Möglichkeit nicht. Früher sind Autos ohne jegliche Telemetrie herumgefahren. Da war das möglich. Heute nicht mehr."
Wolff: "Nein. Über die Tobphase bin ich hinweg. Das würde er nicht machen. Weil die Jungs - obwohl sie natürlich Alphatiere sind und im Auto den eigenen Vorteil suchen - auch wissen, welche enormen Ressourcen und wie viele Menschen an diesem Erfolg beteiligt sind und mitarbeiten."
"Und wenn eine Entscheidung getroffen wird, die die Strategie betrifft oder die Motorpower, muss der Fahrer sie annehmen. Es kann ja beispielsweise sein, dass er ein Problem mit dem Motor hat, wie es in Abu Dhabi der Fall war. Es kann sein, dass andere externe Faktoren, die für ihn nicht ersichtlich sind, eine Rolle spielen."
"Tatsache ist: Wir investieren viel Aufwand, um immer gleiche Chancen für beide zu haben. Wir versuchen absolut neutral zu sein, wir versuchen beiden die Möglichkeit zu geben, Rennen und Titel zu gewinnen. Das reibt das Team mittlerweile ziemlich auf. Das ist einer der Bereiche, in denen wir arbeiten werden."
"Die Lösung ist nicht zu sagen: 'Hurra, jetzt wissen wir, wie wir es tun, wir geben jedem seinen Strategen', weil das ultimativ dazu führen würde, dass wir so eine Konfrontation im Team haben - und es würde trotzdem einer gewinnen und einer verlieren. Wenn einer verliert, würde er versuchen Ausreden zu finden, warum er verloren hat. Also denke ich, dass es besser ist, man managt das zentral und bietet trotzdem beiden gleiche Chancen und gleiches Material."
Frage: "Es gibt Zyniker, die sagen: Toto Wolff und Niki Lauda ernten nur die Früchte, die Ross Brawn bei Mercedes gesät hat. Ist da etwas Wahres dran? Kommt die wirkliche Bewährungsprobe für Sie noch, wenn es die nächste große Regeländerung gibt?"
Wolff: "Da ist absolut etwas dran. Ross und Norbert - und viele andere - haben einen nicht unwesentlichen Faktor dazu beigetragen, dass das Team erfolgreich ist. Das wissen wir, jeden einzelnen Tag."
Frage: "Sind Lauda/Wolff hinter den Kulissen und Hamilton/Rosberg auf der Strecke die besten Paarungen der Formel 1?"
Wolff: "Nein. Das wäre die Antwort von denen, die vermeintliche Experten sind und glauben, sie würden sich auskennen. Die Erfolgsformel ist, dass wir 1.200 richtig gute Leute haben, die miteinander als Team zusammenarbeiten."
"Jeder leistet seinen Beitrag - so wie die, die im Team vorher die Grundsteine gelegt haben, die man genauso honorieren muss. Das ist die Basis für den Erfolg - und nicht die paar Gesichter, die in den Medien herumtanzen und das Team nach außen hin vertreten. Sei es auf der Strecke, sei es im Management oder im Marketing. Es ist eine Teamleistung. Anders geht es heutzutage nicht mehr."
Frage: "Würden Sie behaupten, dass Lewis Hamilton und Nico Rosberg die besten Fahrer der Formel 1 wären?"
Wolff: "Ich glaube, sie zählen mit zu den besten Fahrern in der Formel 1. Es gibt sicher ein paar, die auf einem ähnlichen Level sind, aber letztlich zählen die Punkte. Der, der die meisten Punkte hat, ist der beste Fahrer und gewinnt die Meisterschaft. Das ist Lewis. Daran hat das Auto sicher einen sehr wesentlichen Anteil. Aber mir fallen ein paar andere ein, die ich auch in diese Liga hineinnehmen würde."