Vettel: "Ich bin überwältigt"
Der Rennsieger von Suzuka im Interview: Was ihm der erneute Japan-Triumph bedeutet, wie er die WM-Situation bewertet und warum Zahlen nicht alles sind
(Motorsport-Total.com) - "Unglaublich." Dieses Wort hat Sebastian Vettel nach seinem fünften Saisonsieg in Folge gleich mehrfach in den Mund genommen. Der deutsche Rennfahrer konnte es selbst kaum fassen: Er hat auch in diesem Jahr den Großen Preis von Japan in Suzuka gewonnen. Das bedeutet: Vettel reicht beim nächsten Rennen schon ein fünfter Platz, um vorzeitig den vierten Titelgewinn nach 2010, 2011 und 2012 sicherzustellen. In seiner Medienrunde spricht er darüber, aber auch über einiges mehr...
Frage: "Sebastian, es ist bereits dein neunter Saisonsieg. Die WM ist aber noch offen. Was sagst du dazu?"
Sebastian Vettel: "Konnichiwa ("Guten Tag" auf Japanisch; Anm. d. Red.), erst einmal. Ja, ich möchte mich vorneweg bei den Fans bedanken. Jedes Mal, wenn wir hierher kommen, wird uns Fahrern hier ein unheimlicher Respekt entgegengebracht. Das Rennen heute haut mich schier um. Mein Start war ziemlich schlecht. Dann hing ich zwischen Romain (Grosjean) und Lewis (Hamilton; Anm. d. Red.)."
"Dabei kam es zu einer Berührung an meinem Frontflügel. Ich glaube, Lewis hat sich dabei einen Plattfuß eingefangen. Ich aber hatte einfach keinen Platz gehabt. Danach musste ich erst einmal Geduld beweisen. Ich schonte die Reifen und hatte dann am Ende ein unglaubliches Tempo. Wir sind an Romain vorbeigekommen, haben Mark mit der Strategie bezwungen. Alles in allem einfach fantastisch. Ich bin jedes Mal, wenn wir hier sind, überwältigt. Vielen Dank nochmals für die Unterstützung."
Frage: "Du und dein Renningenieur Guillaume Rocquelin habt das Rennen scheinbar gut im Griff gehabt..."
Vettel: "Es war fantastisch. Wir hatten aber auch einen regen Funkverkehr. Der Start war richtig furchtbar. Ich weiß gar nicht, was da schief lief. Ich schaute zur Seite und sah, dass Mark ebenfalls schlecht wegkam. Ich dachte: 'Okay, es gibt halt nicht viel Grip.' Und dann schossen Grosjean und Hamilton vorbei."
"Ich befand mich plötzlich in einer Sandwich-Position, mein Frontflügel bekam eine Berührung ab und Hamilton fing sich einen Reifenschaden ein. Zum Glück ging an meinem Flügel nichts kaputt. Danach griff unser Plan, den wir von unserer Position am Ende der ersten Runde abhängig gemacht hatten. Wir wollten lange fahren und das hat so auch funktioniert."
Ständiger Funkkontakt zur Red-Bull-Box
Frage: "Wer traf denn die finale Entscheidung, welche Reifen ihr verwenden würdet? Es schien, als würdest du immer erst im letzten Moment entscheiden..."
Vettel: "Nun, um ehrlich zu sein, es passierte... Ich denke, die Entscheidung ist schon im ersten Stint getroffen worden. Wir blieben länger auf der Strecke. Wir nahmen es also in Kauf, dass wir langsamer sein würden als die Leute auf frischeren Pneus. Das taten wir, um später im Rennen Druck machen zu können."
"2011 hatten wir hier ein ähnliches Rennen. Damals kam ich, glaube ich, immer als Erster zum Reifenwechsel und geriet gegen Rennende unter Druck, wurde sogar noch von zwei Autos überholt. Dieses Mal drehten wir den Spieß um. Wir hatten genug Tempo, um die Reifen zu schonen und das Rennen zu kontrollieren. Ja, es war nicht einfach, die Zweistopp-Strategie richtig umzusetzen, vor allem nicht im zweiten Stint. Der erste Stint war aber entscheidend."
Frage: "Und wer entscheidet? Dein Renningenieur hörte sich am Funk manchmal sehr bestimmend an..."
Vettel: "Nun, im Auto weißt du natürlich genau, wie sich die Reifen anfühlen. Am Kommandostand ist dir das nicht so bewusst. Du kannst deinen Leuten via Funk natürlich eine Rückmeldung geben, wie sich das Rennen aus deiner Sicht gestaltet und wie sich das Auto verhält. Reicht es, um noch länger draußen zu bleiben? Solche Dinge."
Frage: "Im zweiten Stint, der mit 23 Runden ziemlich lang war, hattest du ein paar Verbremser. Hat dich das in irgendeiner Form beeinträchtigt? Und waren die Reifen über die komplette Distanz hinweg in gutem Zustand?"
Vettel: "Nun, am Ende hat man natürlich etwas mehr zu kämpfen. Ich habe einfach versucht, die Abstände zu kontrollieren."
"Wir hatten ja schon im ersten Stint damit begonnen, länger als Romain auf der Strecke zu bleiben. Wir nahmen also an, dass wir für zwei, drei Runden etwa eine Sekunde pro Runde auf ihn verlieren würden. Wir blieben deshalb länger draußen, um im nächsten Stint den Spielraum zu haben und sie am Ende unter Druck setzen zu können. Das war zumindest der Plan, den wir uns zurechtgelegt hatten."
"Schon bald nach dem ersten Boxenstopp, es war wohl früh im zweiten Stint, hat sich Mark für eine Dreistopp-Strategie entschieden. Damit war er nicht weit weg. Vor dem Rennen hatten wir mehr in Richtung zwei Stopps tendiert, aber die Reifen hielten nicht gar so gut, wie wir gedacht hatten. Ich versuchte in meinen Stints stets, anfangs die Abstände konstant zu halten, um am Ende die Lücken zuzufahren. Das hat perfekt funktioniert, vor allem mit Romain."
Vettel überholt Grosjean und fährt zum Sieg
"Am Ende des zweiten Stints saß ich ihm schon im Getriebe, als er dann in die Box abbog. Ich konnte noch ein paar Runden draußen bleiben und hatte dann mehr oder weniger frische Reifen, als ich ihn überholte. Also ja, die Strategie hat wunderbar gepasst. Sie ging auf. Wir haben es geschafft. Weil wir anfangs nicht die Geduld verloren haben. Wir haben die Stints maximal verlängert, was uns am Ende des Rennens zugutekam."
Fotostrecke: Die längsten Siegesserien
Nur neun Fahrer haben es in der Geschichte der Formel 1 geschafft, fünf oder mehr Rennen hintereinander zu gewinnen. Die erste Serie dieser Art eröffnet Ferrari-Pilot Alberto Ascari beim dritten Grand Prix der Saison 1952 in Spa-Francorchamps. Ja, die Eau Rouge gab es damals schon! Fotostrecke
Frage: "Gab es ein Problem, als du Romain Grosjean überholt hast? Dein DRS schien nicht richtig zu funktionieren..."
Vettel: "Doch. Der Flügel klappte sofort nach oben. Ich setze mich neben ihn. Als er nach rechts zog, überraschte mich das. Ich denke, ich ging kurz vom Gas. Dabei schließt sich der Heckflügel. Ich fragte mich: 'Warum gelingt es mir nicht, an ihm vorbeizuziehen? Warum geht es nicht voran?' Dann sah ich, dass DRS deaktiviert war. Ich aktivierte es erneut. Damit reichte es, denn ich hatte zuvor schon seinen Windschatten und einen guten Anlauf gehabt."
Frage: "Du scheinst diesen Sieg wirklich zu genießen. Liegt das daran, dass es auf dem Weg dorthin ein paar Probleme gegeben hat? Der Start zum Beispiel. Und dann gab es noch den einen oder anderen Verbremser..."
Vettel: "Ja, klar. Es liegt zum größten Teil aber an der Strecke und an den Fans. Suzuka ist einer der Höhepunkte im Kalender. Ich liebe diesen Kurs. Und ich darf mich sehr, sehr glücklich schätzen, dass ich hier in der Vergangenheit immer ein klasse Auto hatte. Wie auch in diesem Jahr. Ich stand auf dem Podest und habe hier schon viermal gewonnen. Unglaublich."
"Wenn wir morgens das Hotel verlassen ist es für uns alle das Gleiche, denke ich. Das macht es so besonders. Die Leute sind verrückt nach der Formel 1. Sie bewundern uns regelrecht. Das ist toll. Sie lieben, was wir tun. Und sie schätzen es, dass wir hier sind. Selbst als ich am Samstag über die Strecke lief, saßen noch etwa 5.000 Fans auf den Tribünen, um zuzusehen. Sie sind begeistert von der Formel 1. Ich denke, all das macht es so speziell und angenehm. Ja, der Start heute war furchtbar, aber wir haben die Kurve ja noch gekriegt."
Frage: "Nachdem du an Romain Grosjean vorbei warst, hast du dann per Funk nachgefragt, auf welchem Platz Fernando Alonso liegt?"
Vettel: "Nein."
Frage: "Hat dich das Team darüber informiert?"
Vettel: "Nach dem Rennen. Nachdem ich im letzten Stint an Romain vorbei war, wusste ich, dass von Mark die größte Bedrohung ausgehen würde. Er hatte die frischeren Reifen und war ziemlich schnell. Er war jedoch etwas hinter Romain festgehangen, was mir natürlich geholfen hat. Ich habe aber nicht nachgefragt, denn ich wollte es gar nicht wissen."
"Es kann schließlich immer noch einiges passieren, auch wenn man einen gewissen Vorsprung hat. Heute haben wir zum Beispiel viele Verbremser gesehen. Ich bin einmal in Kurve zwei von der Linie gerutscht. Mark hat eben gesagt, er wusste genau, wo ich in einem Stint war, weil er hier und dort Rauch hat aufsteigen sehen. Ich hatte ein paar Probleme mit stehenden Rädern. Ich war also gut beschäftigt damit, das Auto ins Ziel zu tragen."
Der WM-Titel ist noch weit weg...
Frage: "Wann wusstest du, dass du hier würdest gewinnen können?"
Vettel: "Nun, du weißt natürlich nicht von Anfang an, wie es am Ende ausgeht. Wir haben aber vor allem 2011 gelernt, dass es kein Nachteil ist, hier in einem Stint ein, zwei Runden länger zu fahren. Dann kannst du am Ende mehr Druck ausüben. Ich stand immer in Kontakt zum Team und wusste, was das andere Auto machte."
Vettel: "Erst einmal will ich den heutigen Tag genießen. Ich denke, es war ein fantastisches Rennen. Ich liebe diese Strecke. Die Leute hier sind großartig und machen Suzuka zu einem ganz besonderen Ort für uns. Das möchte ich erst einmal genießen. Der Sieg ist natürlich nicht schlecht für die Meisterschaft. Ich habe hier in Suzuka schon viermal gewonnen. Das ist unglaublich."
"Ich freue mich schon sehr auf das nächste Jahr, wenn ich ehrlich bin. Was die WM angeht: Ja, der Vorsprung ist richtig groß, doch wir machen weiter Druck. Ich denke, wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass wir nie aufgeben. So haben wir einen oder zwei Titel gewonnen. In diesem Jahr sieht es zu diesem Zeitpunkt sehr gut aus. Und es tut natürlich nicht weh, Rennen zu gewinnen. Wir haben viel positiven Schwung. Es ist aber erst vorbei, wenn es wirklich vorbei ist. Deshalb denke ich auch noch nicht daran, auch wenn es das ganz große Ziel ist."
"Es ist irgendwo auch seltsam, schon jetzt die Chance zu haben, den Sack zuzumachen, denn die Saison ist noch lang. Ich freue mich jetzt erst einmal auf zuhause und darauf, etwas zu entspannen, bevor es nach Indien geht. Auch darauf freue ich mich. An die Szenarien, wo ich im Indien-Rennen ankommen muss, wer wo ankommen muss, damit ich Weltmeister werde, denke ich überhaupt nicht."
Frage: "Mit einem sechsten Sieg in Folge würdest du die Leistung von Jim Clark einstellen, der das zu seiner Zeit geschafft hat..."
Vettel: "Ja. Die Formel 1 hat ihn viel zu früh verloren. Er war einer der besten Fahrer in der Geschichte der Formel 1, hatte sicherlich sehr viel Talent. Schade, dass die Autos damals so gefährlich waren. In der Zeit, die ihm zur Verfügung stand, hat er aber unheimlich viel erreicht. Ich denke nicht an solche Rekorde. Ich liebe einfach, was ich tue."
Frage: "Fährst du in Indien auf Sieg oder willst du dort einfach nur alles tun, um den Titel zu holen?"
Vettel: "Sieg."
Frage: "Dabei würdest du den fünften Platz, den du brauchst, doch wahrscheinlich mit einer Hand und nur drei Gängen einfahren..."
Vettel: "Nun, die Leute unterschätzen oft, wie viel Arbeit dahintersteckt, glaube ich. So etwas läuft nicht von alleine. Natürlich kann man sich hier oder da mehr erlauben, aber das ist nicht unser Ziel. So gehen wir auch nicht in ein Rennen. Wir wollen nicht auf Platz fünf segeln. Wir greifen an und versuchen, im Idealfall das Rennen und damit auch den Titel zu gewinnen. Heute ist es ja gelaufen wie am Schnürchen."
Vettel schwärmt von der Formel 1
Frage: "Was würde dir mehr bedeuten: In die Geschichte einzugehen als einziger Fahrer neben Juan-Manuel Fangio und Michael Schumacher, der vier Titel in Folge geholt hat, oder als Fahrer, der in jedem Saisonrennen auf dem Treppchen stand?"
Vettel: "Letzteres, denke ich. Du musst wissen, ich liebe das Rennfahren. Als ich klein war, träumte ich von der Formel 1."
"Ein paar Jahre später bekam ich dann ein Cockpit. Red Bull gab mir bei Toro Rosso eine Chance. Es ist unglaublich, was in den vergangenen Jahren passiert ist. Es hat sich aber nichts daran verändert, dass ich den Rennsport liebe. Ich liebe die Herausforderung. Und ich wache an einem Sonntag noch immer aufgeregt auf. Ich spüre die Spannung, wenn ich in der Startaufstellung bin und freue mich auf das Rennen."
"Ich habe Spaß daran, dass ich Rennen fahre, nicht an den Zahlen. So wie heute, an einem so fantastischen Ort, vor so tollen Fans. Es wäre schade, wenn man da zu verbissen agieren und die Dinge erzwingen wollen würde. Du musst dir selbst gestatten, die Dinge zu genießen, finde ich. Es ist nämlich nicht normal. So etwas passiert nicht jedem. Ich denke, ich darf mich glücklich schätzen, einer von nur 22 Fahrern in der Formel 1 zu sein."
"Und wie ich schon sagte: Sobald wir hier das Hotel verlassen, bringen uns die Fans ihren Respekt entgegen. Sie schreien, sie rufen unsere Namen. Und das ist einfach nur toll. Darauf freue ich mich am meisten. Hoffentlich erlebe ich das bald wieder. Ich liebe aber auch Pokale. Es macht mir daher nichts aus, noch ein paar weitere zu sammeln."
Wie gut ist Grosjean?
Frage: "Was fehlt Romain Grosjean deiner Meinung nach, damit auch er mal ein Rennen gewinnt? Ist es das richtige Auto, das richtige Team oder die richtige Strategie?"
Vettel: "Nun, nach dem Start in Suzuka dachte ich, dass es ein großartiges Rennen für Romain werden würde. Wir haben natürlich versucht, unsere Stints zu verlängern, um am Ende nochmals angreifen zu können. Sie sahen sehr stark aus. Wahrscheinlich hatten sie ein paar Probleme auf den härteren Reifen. Romain hat aber auch gesagt, dass sie nicht unbedingt davon ausgegangen waren, auf Platz eins zu fahren. Ich denke, er ist heute ein fantastisches Rennen gefahren."
"Es ist keine Frage von... Er kann mich schlagen. Er hat mich 2012 beim Race of Champions geschlagen. Ich habe das Auto in die Wand gesteckt. Das ist es also nicht. Das Rennen ist lang. Heute schienen wir über die Distanz etwas den Vorzug zu haben. Das ist etwas ungewöhnlich, denn üblicherweise ist gerade die Distanz eher eine Stärke von Lotus. Romain hat klasse Arbeit geleistet."
"Er war an diesem Wochenende wirklich gut. Schon im Qualifying war er schneller als Kimi (Räikkönen; Anm. d. Red.). Und wir alle wissen, dass Kimi ein starker Fahrer ist. Im vergangenen Jahr hat Romain noch ein paar Fehler gemacht. Das Wichtigste ist aber, dass wir Fahrer aus diesen Fehlern lernen. Ich glaube, er hat daraus gelernt und sich so schrittweise verbessert. Dafür gebührt ihm Respekt."