Surer analysiert 2012: "Hamilton müsste Weltmeister sein"
Marc Surer analysiert im Jahresrückblick unter anderem, warum Nico Hülkenberg ein ganz Großer werden kann und Lewis Hamilton Weltmeister 2012 sein müsste
(Motorsport-Total.com) - Das Thema Michael Schumacher haben wir mit unserem Experten Marc Surer schon am Dienstag durchleuchtet; Mercedes ist am Donnerstag dran, Sebastian Vettel am Freitag. Alles andere nehmen wir gemeinsam mit dem Co-Kommentator von Jacques Schulz bei den Pay-TV-Kollegen von Sky in einem Rundumschlag heute unter die Lupe.
© Markus Kucera/Ennstal Classic
Marc Surer mit seiner Lebensgefährtin Silvia Arias, einer Journalistin Zoom Download
Surer ist dabei voll des Lobes für Nico Hülkenberg (Hier klicken: Zum exklusiven Jahresrückblicks-Interview!), der im letzten Saisondrittel eine der auffälligsten Erscheinungen jenseits des WM-Kampfes war, und attestiert dem angehenden Sauber-Piloten sogar Weltmeister-Potenzial: "Aus dem kann ein ganz Großer werden." Der ehemalige Formel-1-Pilot (82 Grand-Prix-Einsätze) spricht über die Gefahr des "Kovalainen-Effekts" und glaubt, dass Hülkenberg mit dem Wechsel von Force India zu Sauber alles richtig gemacht hat.
Außerdem analysiert Surer, warum Lewis Hamilton eigentlich Weltmeister sein müsste und aus welchen Gründen McLaren und Ferrari Red Bull unterlegen sind. Weitere Themen sind Kimi Räikkönen, für dessen Comeback unser Experte voll des Lobes ist, Williams-Fahrercoach Alexander Wurz und die anhaltende Erfolglosigkeit der drei "neuen" Teams.
Liuzzi-Syndrom und Kovalainen-Effekt
Frage: "Marc, Aufmacher-Interview unseres heutigen Jahresrückblick-Tages ist Nico Hülkenberg. Nico hat unterhalb der Formel 1 alles gewonnen, in der Formel 1 hat es 2010 bei Williams dann aber ein bisschen gedauert, bis sein Turbo zündete. Hast du nach seinen starken Leistungen am Saisonende das Gefühl, dass er jetzt voll angekommen ist?"
Marc Surer: "Ich glaube, für Nico ging alles ein bisschen zu leicht. Als er dann in die Formel 1 kam, wurde er überrascht, wie schwierig das ist."
"Dieses eine Jahr Pause hat ihm gut getan, denn so hat er gemerkt: Die Formel 1 ist knallhart, da musst du ernsthaft arbeiten. Mit diesem Jahr hat er uns alle beeindruckt. Wie clever und schnell er ist, konnte man in der Vergangenheit schon sehen, aber jetzt ist er konstant geworden - und hat di Resta, den man als großes Talent einstuft, konstant gebügelt. Das war sensationell! Aus dem kann ein ganz Großer werden."
Frage: "Damit deutest du indirekt an, dass Nico Gefahr lief, dem Liuzzi-Syndrom zu erliegen: Riesentalent, strengt sich aber nicht genug an."
Surer: "Genau. Ich nenne es auch oft Kovalainen-Effekt: Du kommst in die Formel 1, sitzt plötzlich in einem McLaren, alles scheint sehr einfach zu sein - aber du hast vergessen, dass die um dich herum arbeiten wie die Wilden. Durch seine Pause hat er das geschnallt, glaube ich, und jetzt ist er absolut auf einem guten Weg."
Frage: "Gibt es denn eine fahrerische oder menschliche Qualität, die ihn ganz besonders auszeichnet?"
Surer: "Ich glaube einfach, dass er dank seiner Intelligenz Dinge besser macht als andere. Das kann mit der Abstimmung zusammenhängen oder mit Taktik. Es fällt einfach auf, dass er die Übersicht behält."
James Key kein entscheidender Faktor?
Frage: "Sauber sieht auf den ersten Blick nach einem sportlichen Fortschritt aus. Auch ohne Designer James Key, der das Team verlassen hat?"
Surer: "Wenn man Sauber glauben kann, war das Auto nicht von James Key - deswegen haben sie sich auch zerstritten, weil sie seine Vorstellungen nicht umgesetzt haben. Wir werden die Antwort wohl nächstes Jahr bekommen. Wenn plötzlich der Toro Rosso vorne fährt und Sauber nicht mehr, dann wissen wir Bescheid."
"Aber ich fand schon, dass die Truppe von Sauber, die keinen Teamleader mehr hat, sondern einfach eine Technikgruppe ist, das Auto im Laufe des Jahres extrem gut verbessert hat. Das war früher immer die Schwäche von Sauber, dass sie im Laufe des Jahres eher zurückgefallen sind. Dieses Jahr hatte ich das Gefühl, dass sie von A bis Z immer dabei waren."
"Es ist viel schief gelaufen, aber meistens waren das Detailprobleme, dass zum Beispiel falsche Setup-Entscheidungen getroffen wurden. Aber die Entwicklung des Autos, die Schnelligkeit, die ist über das Jahr konstant geblieben - und weil alle anderen wie verrückt entwickelt haben, muss man sagen, dass sie einen guten Job gemacht haben. Das ist eher neu und spricht für die Techniker von Sauber."
Frage: "Nicos Highlight-Rennen war 2010 und auch 2012 Brasilien. Du hast ihn beide Male vor Ort beobachtet. Hast du eine Erklärung dafür oder war das einfach Zufall?"
Surer: "Es scheint, dass er in der Lage ist, bei abtrocknender oder halbnasser Strecke einfach mehr rauszuholen als andere. Das kann man eigentlich nur auf sein Talent schieben, dass er in so einer Situation genau das Richtige macht, dass er trotz nassen Stellen die Reifen auf Temperatur hält."
Hülkenberg-Leistung fahrerisch bedingt
"Sobald es ein bisschen nasser wurde, war er ja sofort schneller als die beiden McLaren. Das scheint wirklich fahrerisch gewesen zu sein, dass er mehr rausgeholt hat, vielleicht die Reifen besser auf Temperatur halten konnte als die anderen. Das ist für mich die einzige Erklärung."
Frage: "Kommen wir zu Ferrari und Fernando Alonso, der mit einem hoffnungslos unterlegenen Auto in Malaysia wie aus dem Nichts gewonnen hat. Dann bis zum Schluss im WM-Kampf, der knapp verloren wurde. Aber man muss kritisch fragen: Woran hapert es bei Ferrari? Technisch waren sie über weite Strecken nicht auf dem Level der Topteams."
Surer: "Ferrari hat extrem aufgeholt, was das Auto angeht. Sie haben ganz schlecht angefangen, waren bei den Wintertests fast zwei Sekunden weg. Dann haben sie sich stark verbessert."
"Was auch immer sie dann verändert haben, hat das Auto nicht mehr schneller gemacht. Vielleicht war die Basis des Autos einfach nicht gut genug, um bis zum Ende der Saison vorne mitfighten zu können. Mitte der Saison waren sie mal vorne dabei."
Entwicklung ging eher gegen Alonso
Frage: "Zum Jahresende war teilweise sogar Felipe Massa schneller als Alonso. Haben sie da eine falsche Entwicklungsrichtung eingeschlagen?"
Surer: "Die letzten Änderungen haben wohl eher Massa geholfen, denke ich. Anders kann ich mir nicht erklären, dass Massa plötzlich wieder so schnell war."
"Als das Auto besser wurde, stand er einfach an. Vielleicht hat er vom Auto mehr gefordert, als es geben konnte - und dadurch eher langsamer wurde. In der Qualifikation hatte ich oft das Gefühl, dass er zu hart rangeht, weil er einfach nicht einsehen wollte, dass das Auto nicht schneller geht."
Frage: "Lewis Hamilton gilt als einer der schnellsten Fahrer der Formel 1, Jenson Button als einer der cleversten, und McLaren hatte über weite Strecken im Sommer das anerkannt schnellste Auto. Trotzdem werden sie wieder nicht Weltmeister. Woran liegt es bei denen?"
Surer: "Ich bin der Meinung, Hamilton müsste Weltmeister sein. Wenn man sich mal alles durchrechnet, kommt man automatisch zu diesem Schluss."
Hamilton: Viele Punkte schuldlos verloren
"Er ist zweimal in Führung liegend ausgefallen, in Singapur und Abu Dhabi. Dann haben sie ihm in Barcelona im Qualifying zu wenig Benzin eingefüllt - das wäre auch ein wahrscheinlicher Sieg gewesen. Brasilien auch, das Rennen hätte er gewonnen - er war schneller als Button. In Hockenheim hatte er ein technisches Problem, aber er war der schnellste Mann im Feld, hat sich sogar zurückgerundet. Belgien auch der Crash."
"Und man darf nicht vergessen: Bei all diesen Siegen hätte er jeweils Vettel Punkte weggenommen. Es gibt auch noch ein paar andere Beispiele. Den einzigen Vorfall, den man ihm selbst vorwerfen kann, war der Crash mit Maldonado in Valencia. Das wäre nicht nötig gewesen - da hätte er einfach nachgeben und die Punkte mitnehmen sollen, denn seine Reifen haben abgebaut."
Frage: "Hamilton hätte vielleicht als Klügerer nachgeben sollen, aber die Schuld war doch schon bei Maldonado zu suchen, findest du nicht?"
Surer: "Natürlich, aber du kannst in so einem Fall von Alonso lernen. Der würde nachgeben und die Punkte mit nach Hause nehmen, die er haben kann. Da muss man einfach sagen, in diesem Bereich war ihm Alonso überlegen."
"Aber noch einmal: Wenn es normal gelaufen wäre, wäre Hamilton Weltmeister geworden. Woher kommt das Problem? Das ist eindeutig McLaren! Die haben so viele technische Ausfälle, und wenn sie keine technischen Ausfälle haben, dann verhauen sie die Boxenstopps. Sam Michael ist Sportlicher Direktor und die Boxenstopps fallen in seinen Aufgabenbereich. Übers Jahr gesehen hatte McLaren die schlechtesten Boxenstopps der Topteams."
Zuverlässigkeit eine McLaren-Schwäche
"In der ersten Saisonhälfte haben sie so viel verhauen - teilweise hat Hamilton gleich zwei Plätze verloren. Es bringt ja nichts, sich selbst auf die Schulter zu klopfen, weil man einen neuen Boxenstopp-Weltrekord aufgestellt hat, sondern viel wichtiger ist, keine Boxenstopps zu verhauen. Es ist sicher das Team daran schuld, dass Hamilton nicht Weltmeister wurde."
Frage: "Unter Ron Dennis galt McLaren immer als Perfektionisten-Team. Dennis hatte damals nicht nur Freunde, aber fehlt sein Perfektionismus diesem Team? Der Erfolg war damals ja noch da."
Surer: "Diese Technikprobleme hatten sie aber auch früher schon. Kimi Räikkönen war 2003 und 2005 der schnellste Pilot im Feld, wurde aber trotzdem nie Weltmeister, weil sie so oft ausgefallen sind."
"Irgendwie steckt bei McLaren der Wurm drin, was die Zuverlässigkeit angeht. Wenn sie diese Probleme nicht hätten, wären sie schon ein paar Mal Weltmeister geworden. Die Ausfälle kann man nicht so einfach erklären, sondern Ferrari und Red Bull machen das besser."
"Früher hat man vermutet, Newey sei schuld, als er noch bei McLaren war, weil er so eine enge Aerodynamik designt, sodass Teile überhitzen. Aber was ist dann heute los? McLaren fällt zweimal mit Benzindruck-Problemen aus, solche Dinge eben - Bagatelldefekte eigentlich. Das sind Dinge, die funktionieren sogar bei den kleinsten Teams problemlos."
"Wenn möglich, bitte wenden!"
Frage: "Du hast Kimi Räikkönen schon kurz erwähnt. Ich habe dich in einem Live-Kommentar noch nie so herzhaft lachen gehört wie während der Szene, als er in Sao Paulo vor diesem geschlossenen Tor stand und wieder umdrehen musste..."
Surer: "Genau, das war toll! Ich habe mir vorgestellt, was ein Navi sagen würde: 'Wenn möglich, bitte wenden!' Das war die kurioseste Szene, an die ich mich erinnern kann in diesem Jahr."
Frage: "Für viele ist Räikkönen die 'coolste Sau' im Fahrerfeld, man denke nur an 'Leave me alone' am Funk in Abu Dhabi. Lotus vermarktet das inzwischen auch sehr geschickt. Glaubst du, dass er sich inzwischen auch bewusst als Marke inszeniert, oder tickt der Typ wirklich so?"
Surer: "Nein, ich glaube, der meint das wirklich so - er war ja auch schon immer so. Ich kann mich erinnern, dass er bei Ferrari einmal ins Mikrofon geschrien hat: 'Sprecht nicht in der Kurve mit mir!' Die Sprüche sind alt, das ist einfach er."
"Er müsste es zwar vom Rallyefahren gewohnt sein, dass ihm jemand ins Ohr spricht, aber wahrscheinlich findet er es einfach überflüssig, dass man ihm wie einem Neuling Anweisungen gibt. Ich finde das herrlich, dadurch ist er auch ein Typ! Und was er dieses Jahr sportlich gezeigt hat, war ein vorbildliches Comeback."
"Das zeigt auch, dass einer nicht aus der Übung sein muss, wenn er zwei Jahre Rallye fährt, sondern dass die Reflexe noch voll da sind. Am Anfang des Jahres hat er sich gegen Grosjean schwer getan - Grosjean war eindeutig der Schnellere im Team. Aber im Rennen konnte er sich jeweils durchsetzen. Das war schon bezeichnend, dass er diese Konstanz sofort wieder drauf hatte."
Räikkönen fleißiger als man glaubt?
Frage: "Er ist wohl auch der lebende Beweis dafür, dass man kein Arbeitstier sein muss, um in der Formel 1 erfolgreich zu sein. Macht er das mit Talent wett oder ist der Faktor Arbeit einfach überbewertet?"
Räikkönen: "Er lässt sich nicht beirren und holt das Maximum raus - und ob er wirklich so wenig arbeitet? Ich bin mir da gar nicht sicher."
"Ich glaube, mit seiner Erfahrung kommt er schnell auf den Punkt und sagt genau: 'Dies und jenes muss verbessert werden, sonst sehen wir alt aus.' Das sagt er manchmal auch am Freitag, das Team baut das Auto um und plötzlich geht's dann. Ich glaube also, er kommt sehr schnell auf den Punkt."
Frage: "Wir behandeln heute auch in einer Fotostrecke den Sieg von Pastor Maldonado in Barcelona, der sonst nicht sonderlich positiv aufgefallen ist. Williams hat mit Alexander Wurz als einziges Team einen Fahrercoach. Glaubst du, dass er wirklich etwas bewirken kann?"
Surer: "Wenn man die Resultate anschaut, merke ich keinen Einfluss von einem Fahrercoach."
"Vielleicht würde es sonst noch schlimmer aussehen, aber es ist tatsächlich so, dass die einen Fahrercoach brauchen, denn Maldonado und Senna haben wirklich sehr viel weggeworfen. Ob es ohne Alex noch schlimmer gewesen wäre, weiß ich nicht. Jedenfalls waren die Fahrer bei Williams in diesem Jahr das Hauptproblem, aber Maldonado ist ein Riesentalent. Leider macht er sehr wenig daraus."
Maldonado auf dem Weg der Besserung?
Frage: "Offensichtlich muss man ihm einen Zahn ziehen. Geht das auch so, dass er dabei keinen Speed verliert?"
Surer: "Schwierige Frage. Bei Grosjean haben wir gesehen, dass er auch Speed verliert, wenn ihm der Zahn gezogen wird. Vielleicht ist das eine gefährliche Geschichte. Maldonado hat zwei Jahre Formel-1-Erfahrung - irgendwie müsste er jetzt schon konstanter werden. Man hatte gegen Jahresende den Eindruck, dass er besser unterwegs war. Vielleicht ist er ja auf einem guten Weg."
Surer: "Es scheint so. Das spricht auch für die Formel 1, dass sich neue Teams gegen die erfahrenen Teams, die eine funktionierende Struktur haben, sehr schwer tun."
"Die Formel 1 ist schon sehr, sehr kompliziert geworden. Ich denke da in erster Linie an die Aerodynamik, aber ich höre, dass bei diesen Teams auch andere Teile nicht perfekt sind. Alles richtig hinzukriegen, auf engen Raum zu bauen - das scheint mir viel schwieriger geworden zu sein."
"Alles ist beeinflusst durch die Aerodynamik - wie du die Aufhängung machst, hat ja auch schon mit der Aerodynamik zu tun. Die Aerodynamik bestimmt in der Formel 1. Wer das Konzept irgendwann begriffen hat, der ist schnell und kann auf dieser Basis weiterentwickeln. Die neuen Teams müssen dieses Konzept, wie man ein Auto baut, das dann auch entwicklungsfähig ist, erst finden. Das scheint mir der größte Knackpunkt zu sein."