Lando Norris' Probleme mit dem Limit: Sind die "Flexiwings" schuld?
Wollte Lando Norris in Q3 zu viel, weil er in der Runde davor in Kurve 4/5 langsamer war als Oscar Piastri? Schuldzuweisungen seitens McLaren gibt es jedenfalls nicht ...
(Motorsport-Total.com) - Lando Norris war ziemlich knapp angebunden, als er am Samstagabend in Dschidda vor laufenden TV-Kameras gebeten wurde, seinen Unfall im Qualifying zum Grand Prix von Saudi-Arabien 2025 zu erklären. Auf die Bitte, er möge schildern, was genau passiert sei, antwortete er nur: "Nein. Move on." Also sinngemäß: "Nächste Frage, bitte."

© Sutton Images
Lando Norris wirkte nach seinem Crash geknickt und wollte zunächst nicht über den Abflug reden Zoom Download
Es war ganz offensichtlich der nächste große Rückschlag für den (immer noch) WM-Führenden, der zuletzt mehrmals offen über seine Selbstzweifel gesprochen hatte. Und es war hohe Kunst der Formel-1-Diplomatie, als McLaren-Teamchef Andrea Stella keine zwei Stunden später die Medien zu seinem üblichen Qualifying-Briefing versammelte und nicht mit dem Finger auf Norris zeigte, sondern die Verantwortung für das bockige Fahrverhalten des MCL39 übernahm.
Stella sagt Dinge wie: Es liege "in der Verantwortung des Teams, das Auto so zu verbessern, dass dieses Verhalten korrigiert wird", oder man müsse Norris ein Auto geben, "das seinem Talent entspricht". Und es gehe letztendlich darum, "das Auto so abzustimmen, dass es sich für die Fahrer berechenbar verhält. Speziell für Lando."
Wäre Verstappen das Gleiche passiert?
Natürlich war Norris' Abflug letztendlich ein Fahrfehler. Er fuhr mit etwas zu viel Geschwindigkeit durch Kurve 4, der überschüssige Speed schob seinen McLaren in Kurve 5 innen über den Randstein, und auf dem verlor er letztendlich die Kontrolle. Das war kurz davor, an der exakt gleichen Stelle, auch schon Max Verstappen passiert. Der funkte danach aber nicht "Sorry, Jungs - I crashed", sondern: "Checkt bitte das vordere Ende der Bodenplatte. Ich bin ausgangs Kurve 4, eingangs Kurve 5 ziemlich ruppig über den Randstein gefahren."
Es wird in der Saison 2025 langsam zu einem Muster, dass Norris-McLaren zwar die vielleicht schnellste Kombination im Feld ist, aber die Fehlerhäufigkeit enorm zunimmt, wenn es darum geht, in Extremsituationen wie einem Q3 "noch ein paar Millisekunden mehr aus dem Auto herauszuholen", räumt sogar McLaren-Teamchef Andrea Stella ein und ergänzt, es werde "in den Daten immer klarer, dass das Auto in diesem letzten Moment einfach nicht so reagiert, wie Lando es erwartet".
Wenn ein paar km/h den Unterschied zwischen Pole und Crash machen
Aus Fahrersicht, erklärt Stella, fühle sich das so an: "Ich bremse einen Meter später, bin ein km/h schneller in der Kurvenmitte, und plötzlich macht das Auto etwas, das ich nicht mehr antizipiere. Dann bin ich mehr Passagier als Fahrer. Besonders auf dieser Strecke, wo ein einziger Meter außerhalb der Ideallinie schon richtig wehtun kann. Es gibt Strecken wie Ungarn, da kannst du dich mal um einen halben Meter vertun - das fällt unter normale Schwankung. Aber hier können die Folgen sehr groß sein."
Stella spricht in diesem Zusammenhang von "makroskopischen" Konsequenzen, sprich: Ein sehr kleiner Fehler habe dramatische Konsequenzen, wenn er am Limit des MCL39 passiert. "Wir wollen, dass Lando Vertrauen ins Auto hat, dass er sich wohlfühlt und pushen kann. Und wenn er ein paar Millisekunden finden muss, soll das Auto so reagieren, dass er vielleicht merkt: 'Okay, das war ein bisschen zu viel.' Ohne dass das gleich enorme Konsequenzen hat. Ich sehe es klar als Verantwortung des Teams, diese Situation zu verbessern."
Dass Norris mit dem Antizipieren des Punkts, an dem der Grip des McLaren plötzlich abreißt, 2025 solche Schwierigkeiten hat, habe "seinen Ursprung in der Arbeit, die wir am Auto gemacht haben. Die hat das Auto zwar insgesamt schneller gemacht, aber ich denke, sie hat Lando ein Stück weit die Vorhersehbarkeit genommen, sobald er das Auto ans Limit bringt. Entweder du bekommst vom Auto genau das, was du erwartest - oder du bist langsam. Und Lando akzeptiert es nicht, langsam zu sein."
"Du hast Grip, und ganz plötzlich ist der Grip weg. Du fährst ein km/h schneller, und der Grip ist dahin. Dieser Übergang ist ziemlich abrupt, und das Feedback, das die Fahrer vom Auto bekommen, um sich an dieses Limit heranzutasten, ist relativ schwach. Unsere Fahrer müssen oft raten, wie sich das Auto verhalten wird, weil vom Auto selbst kaum Hinweise oder Rückmeldungen kommen. Das ist aus Teamsicht derzeit unsere größte Baustelle. Und es ist natürlich auch für die Fahrer schwierig, wenn sie sich auf ihr Gefühl verlassen müssen, ohne echte Rückmeldung vom Auto zu bekommen", sagt Stella.
Was macht den McLaren am Limit so kritisch?
Die Preisfrage ist jetzt: Warum ist der McLaren zwar einerseits das schnellste Auto im Formel-1-Feld 2025, aber offensichtlich auch das kritischste, wenn es am absoluten Limit bewegt wird? Riskiert Norris einfach zu viel, weil er mit Piastri einen Teamkollegen hat, der ihn gewaltig unter Druck setzt? Oder ist es eine inhärente Schwäche im Design des MCL39, dass dieser Fehler begünstigt? Und wenn ja, wo genau steckt der Fehler begraben?
Eine Frage, die Stella zumindest öffentlich nicht beantworten möchte: "Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich möchte auch aus Gründen des Schutzes unseres geistigen Eigentums nicht zu sehr ins Detail gehen." Was natürlich Spekulationen Tür und Tor öffnet und zu heißen Diskussionen führt, worin sich der McLaren von anderen Autos unterscheiden könnte.
Eine Theorie geht so: Ein sichtbares Merkmal, das den McLaren von anderen Autos unterscheidet, ist die Flexibilität der Flügel. Erst kürzlich hat Jos Verstappen auf X ein Video geteilt, auf dem man gut erkennen kann, dass sich diese am McLaren unter Last deutlich stärker verbiegen als etwa am Red Bull. Was erstmal enorme Vorteile bringt, denn so maximiert das Design den Anpressdruck in den Kurven, ohne dafür in gleichem Ausmaß mit Luftwiderstand auf den Geraden bestraft zu werden.
Aber flexible Flügel bedeuten auch, dass der Anpressdruck, den das Auto generiert, je nach Geschwindigkeit stärker von den Normwerten abweicht, als das bei weniger flexiblen Flügeln der Fall wäre. Oder, anders ausgedrückt: Der Unterschied an aerodynamischem Grip ist bei fünf km/h Delta größer, wenn ein Auto mit flexiblen Flügeln ausgestattet ist, als wären einfach starre Flügel montiert. Eine plausible Erklärung? Vielleicht. Ob sie wirklich zutrifft, ist aber völlig unklar.
Auffällig ist: Rob Marshall gilt als Experte auf dem Gebiet der flexiblen Flügel. Er hat Red Bull 2023 verlassen und arbeitet seit 2024 als Chefdesigner für McLaren. Der Red Bull galt schon immer als wahnsinnig schnell, aber gleichzeitig unberechenbar - Sergio Perez, Liam Lawson & Co. können ein Lied davon singen. Seit Marshall bei McLaren ist, gilt das plötzlich auch für den McLaren. Zufall? Selbst Verstappen sagt: "Ich denke schon, dass er dort den Unterschied macht. Seit er dort ist, sieht man das ganz klar."
Bei genauerer Betrachtung der Qualifying-Daten fallen zwei Dinge auf. Erstens: Norris fuhr in Q1 und Q2 nur je einen Run, weil seine Zeiten auch so ausreichend waren, um es in die jeweils nächste Runde zu schaffen. Selbst Piastri und Verstappen, die sich diesen Luxus ebenfalls leisten hätten können, gingen in beiden Segmenten ein zweites Mal raus. Womöglich hatten sie durch die kürzeren Unterbrechungen zwischen ihren Runs ein marginal besseres Gespür dafür, wie sich der Grip der Strecke veränderte.
Qualifying-Daten liefern interessante Erkenntnisse
Und zweitens: Norris war in seiner Q2-Runde vor dem Crash am Scheitelpunkt von Kurve 4 um neun km/h langsamer als Piastri und verlor in der Passage eineinhalb Zehntelsekunden auf seinen Teamkollegen. Womöglich war das der Grund dafür, dass er in Q3 dann, als es um die Poleposition ging, ausgerechnet dort ein besonders hohes Risiko nahm.
Die Erklärung, es sei letztendlich eine selbsterfüllende Prophezeiung, wenn Norris ständig von seinen Selbstzweifeln spricht und dann am Ende in der Mauer landet, lässt Stella jedenfalls nicht gelten: "Ich würde nicht von einer selbsterfüllenden Prophezeiung sprechen. Es ist vielmehr so: Das Feld ist unglaublich eng beisammen. In Q2 lagen Lando, Oscar, Russell und Verstappen innerhalb von einer Zehntelsekunde. Der Abstand zwischen Oscar und Verstappen in Q2 betrug 16 Tausendstel, in Q3 dann zehn Tausendstel, und Lando war in Q2 sogar vorne. Da hat Lando einfach erkannt, dass er in Q3 noch etwas mehr herausholen muss."
"Vertrauen ist ein zentrales Element dafür, das Auto auf natürliche Weise zu fahren, fast schon auf unterbewusste Weise. Aber um diesen Fahrstil zu ermöglichen, muss das Auto auch liefern. Du musst dem Auto quasi voraus sein. Wenn du erst auf die Reaktion des Autos wartest, bist du zu spät dran", sagt Stella und ergänzt, dass selbst die spektakulärsten TV-Bilder nicht vermitteln können, "wie schnell diese Generation von Autos 2025 ist und was sie den Fahrern abverlangt. Das hören wir sogar von Hamilton, einem siebenfachen Weltmeister."
Nach Crash: Blick richtet sich schon aufs Rennen
Sorgen, dass Norris jetzt psychologisch angeschlagen sein könnte, macht sich Stella indes nicht. Zwar war offensichtlich, dass zuerst CEO Zak Brown, medienwirksam vor laufenden Netflix-Kameras, und dann auch Stella selbst alles unternahmen, um Norris aufzurichten. Aber: "Diese Jungs sind Rennfahrer. Die machen das ihr ganzes Leben lang. Das war sicher nicht das einzige enttäuschende Qualifying für Lando in seiner Karriere. Wir in der Formel 1 haben bei sowas ein dickes Fell."
Im Vordergrund sei nach dem Crash nicht gestanden, über das eigene Schicksal zu jammern, sondern methodisch zu überlegen, wie man jetzt das Beste aus der Situation machen könne: "Morgen ist ein Rennen. Also haben wir vor, diese Enttäuschung als zusätzliche Motivation zu nutzen. Das war auch der Tenor im Briefing. So funktioniert dieser Sport. Und wenn du mittendrin bist, als Fahrer oder als Ingenieur, dann bist du darauf trainiert. Du hast vielleicht fünf Minuten Enttäuschung - und dann überlegst du dir, wie du das umdrehst. Genau das habe ich bei Lando gesehen. Und auch beim Team."
Rein technisch steht einer Aufholjagd im Rennen jedenfalls nichts im Weg. Die Mechaniker müssen vor dem Start zwar "viele Teile austauschen", räumt Stella ein, aber: "Das Chassis ist nicht beschädigt, was die wichtigste Nachricht ist. Es gibt keine Probleme mit der Spezifikation. Auch deshalb, weil wir keine Upgrades dabei hatten. Wir müssen definitiv Upgrades bringen, darüber können wir später noch sprechen. Jetzt geht es nur darum, beschädigte Teile durch Ersatzteile zu ersetzen."
Und dann wird Norris, so sagt er das zumindest selbst, "ein bisschen Glück brauchen", um im Rennen mit dem wahrscheinlich schnellsten Auto im Feld noch aufs Podium zu fahren. McLaren hatte am Freitag den mit Abstand besten Longrun-Speed. Aber mit Verstappen, Piastri, Russell und Leclerc gibt es mindestens vier Autos, die auf einer Strecke, auf der Überholmanöver zwar möglich sind aber nicht einfach, nicht leicht zu knacken sein werden.
"Ich erwarte keine Wunderdinge", sagt Norris. "Wenn wir es schaffen, uns in die Top 5 oder die Top 6 vorzuarbeiten, dann wäre ich zufrieden. Oscar steht nicht auf Pole. Das beweist, dass unser Tempo ganz offensichtlich nicht viel besser war als das von Max. Selbst George ist nicht weit weg. Deshalb denke ich, dass es nicht besonders realistisch ist, ihnen wirklich nahe zu kommen. Aber das Ziel ist es, in die Top 5 zu fahren. Darum geht's."