"Hätten Undercut versuchen sollen": Experten widersprechen Norris
Norris und Piastri beißen sich in Japan an Verstappen die Zähne aus: Der Brite hadert anschließend mit der Strategie, doch hätte ein Undercut ihm wirklich viel geholfen?
(Motorsport-Total.com) - Immerhin: Red Bulls schöne Speziallackierung zu Ehren Hondas konnte sich Lando Norris am Sonntag in Suzuka mehr als ausgiebig anschauen. 53 Runden lang klebt er Max Verstappen beim Großen Preis von Japan im Heck, 53 Runden lang findet der WM-Spitzenreiter keinen Weg vorbei am Niederländer.
"Ich konnte Max das ganze Rennen über ziemlich gut sehen, aber ich konnte von da aus einfach wenig ausrichten. Ich denke, die freie Fahrt hat für ihn gereicht, um in dieser Position zu bleiben - und er hat keine Fehler gemacht. Er ist ein starkes Rennen gefahren", lobt Norris seinen Widersacher im Red Bull.
Somit sei der Grand Prix eigentlich schon entschieden gewesen, bevor er losging, nämlich mit der Startaufstellung nach dem Qualifying: "Ich glaube, unser Tempo war vielleicht etwas besser, aber eben nicht genug, um die schmutzige Luft zu durchbrechen, ins DRS-Fenster zu kommen - und das Überholen ist dann nochmal eine ganz andere Geschichte, denn hier ist es praktisch unmöglich vorbeizukommen", ist die Story des Rennens für den McLaren-Piloten eigentlich schnell erzählt.
Norris: "Vielleicht hätten wir mehr riskieren können"
Die "guten Punkte" nehme man trotzdem gerne mit, sagt Norris, wenngleich er sich "natürlich etwas mehr gewünscht" hätte: "Aber manchmal muss man auch mit Platz zwei zufrieden sein", erklärt der Brite: "Man kann nicht jedes Rennen gewinnen. Wir nehmen das sportlich."
Allein: Damit, dass man Verstappen auch strategisch nie wirklich herausfordern konnte - beide Piloten kamen gemeinsam an die Box - hadert Norris dann doch etwas: "Vielleicht hätten wir strategisch noch etwas mehr riskieren können, Overcut oder Undercut. Aus irgendeinem Grund sind wir in derselben Runde an die Box gefahren, darüber werden wir noch sprechen", kündigt der WM-Führende eine interne Aufarbeitung bei McLaren an.
Dabei gibt Norris zu bedenken: "Wir hatten natürlich im Vorfeld einige Dinge geplant und wussten ungefähr, was uns erwartet. Aber ja, im Nachhinein ist man immer schlauer. Wahrscheinlich hätte ich länger draußen bleiben können. Hätte ich auch früher reinkommen können? Ja. Aber dann geht man eben das Risiko eines Safety-Cars und anderer Faktoren ein", erklärt der Brite die zurückhaltende Taktik seines Rennstalls.
Villeneuve: McLaren hätte "Erster und Zweiter sein sollen"
Für diese, und die Attitüde des guten Verlierers, gibt es nach dem Rennen jedoch Kritik von Ex-Weltmeister Jacques Villeneuve: "Sie wirkten nicht besonders enttäuscht, was seltsam ist, denn sie kamen hierher und hätten Erster und Zweiter sein sollen. Und sie wurden geschlagen, nicht weil sie langsam waren, sondern von einem Team und Fahrer, die besser waren als sie", erklärt der Kanadier bei Sky.
Villeneuve wundert sich: "Das sollte ihnen wehtun, das sollte sie nachdenken lassen, dass es etwas gibt: 'Das haben wir dieses Wochenende falsch gemacht, wir hätten zumindest eine bessere Chance haben sollen.' Wenn du aber in der gleichen Runde reinkommst, überholst du natürlich nicht - es sei denn, es gibt einen größeren Fehler beim Boxenstopp."
Laut Villeneuve hätte McLaren mit Norris also lieber warten und noch weiterfahren sollen, "selbst wenn du dann vielleicht hinter dem Teamkollegen landest. Aber so bekommst du wenigstens eine Chance". Norris sieht die Taktik-Fragen allerdings nicht ganz so eindeutig: "Im Nachhinein ist es leicht zu sagen: 'Hättest du mal das gemacht oder jenes.' Aber hätte ich zum Beispiel zwei oder drei Runden früher gestoppt und dann wäre ein Safety-Car gekommen, hätte das vielleicht blöd ausgesehen", meint der Brite.
Zwar stimmt er Villeneuve prinzipiell zu, dass mehr Risiko sich vielleicht ausgezahlt hätte: Interessant ist dabei jedoch, dass Norris - entgegen der Meinung der Experten und trotz seiner selbst geäußerten Bedenken - deutlich mehr in Richtung früheres Reinkommen tendiert. Heißt übersetzt: Seine Taktik ist eher gegen Teamkollege und Verfolger Piastri ausgelegt, als auf den Führenden Verstappen...
So gibt Norris selbst zu bedenken, der Undercut sei "nicht leicht" gewesen, "weil die harten Reifen im ersten Sektor nicht wirklich gut funktionieren. Ob es also überhaupt geklappt hätte, weiß ich nicht, denn Max hatte eigentlich auch immer einen kleinen Puffer zu mir." Dennoch kommt er nach dem Rennen zu der Schlussfolgerung: "Wahrscheinlich hätten wir den Undercut einfach versuchen sollen." Denn im Gegensatz dazu denke er nicht, "dass ich länger hätte draußen bleiben können, ohne dabei eine Position [gegen Piastri] zu verlieren, also war das eigentlich keine Option".
Wurz: "Es war kein Undercut-Rennen"
Für die Experten gibt es aber keinen Zweifel, dass der Undercut in Suzuka unwirksam war: "Sonst hätte Piastri Norris ja überholt, denn er hat früher gestoppt. Aber das war nicht der Fall", sagt Villeneuve, während Alex Wurz im ORF klarstellt: "Es war kein Undercut-Rennen, aufgrund des nicht vorhandenen thermischen Verschleißes [der Reifen]." Der Ex-Formel-1-Pilot erklärt: "Heute, mit einem Reifen, der thermisch nicht leidet, mit einer Strecke, die notorisch schwer ist, um zu überholen, die Geraden zu kurz, da sind sie nie richtig in Schlagdistanz gekommen."
Auch vom Österreicher gibt es dafür grundsätzliche Kritik am Weltmeister-Team: "McLaren war eindeutig das schnellere Auto, aber die Ursache liegt hundertprozentig in der gestrigen Geschichte des Qualifyings, dort haben sie es einfach vermasselt", so Wurz: "Wir haben bei Oscar Piastri gesehen, wie schnell das Auto gewesen wäre zum Schluss. Da steckt mehr drinnen in dem orangenen Auto, aber die Fahrer müssen es auch rausholen - und das haben sie beide nicht so gut gemacht, wie jener Pilot, der im Red Bull sitzt."
Piastri hat Verständnis für verweigerten Platztausch
Immerhin: Piastri versucht in der Schlussphase des Rennens noch etwas Bewegung in den statischen Zug der drei Top-Autos zu bringen, fragt beim Team an, ob Norris ihn aufgrund seiner starken Pace für eine Schlussattacke auf Verstappen vorbeilassen kann - eine Option, auf die sich der McLaren-Kommandostand jedoch nicht einlässt.
Der Australier äußert im Ziel dafür dann sogar selbst Verständnis: "Ich habe einfach gesagt, was ich im Auto gespürt habe. Aber offenbar war das Team mit der Situation zufrieden. Und wenn ich in Landos Position gewesen wäre, hätte ich das wohl auch so gesehen", schmunzelt er.
Auf der Strecke an seinem Stallgefährten vorbeizugehen, das sei aber "einfach zu schwierig" gewesen: "Ich glaube, die Gerade hätte etwa 100 Meter länger sein müssen, dann hätte ich vielleicht eine kleine Chance gehabt." Zwar sei er ein paar Mal "nah rangekommen", so Piastri, "aber es hat nie ganz gereicht, um wirklich Druck auszuüben. Mit der schmutzigen Luft, sobald man so nah dran ist, wird es einfach extrem schwierig. Daher war die Chance, dass da noch etwas passiert, realistisch betrachtet ziemlich gering."
Entsprechend gemischt fällt deshalb auch Piastris Fazit aus, wenngleich er keinen "offensichtlichen Fehler in unseren Entscheidungen" sieht: "Das Ergebnis ist natürlich nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte. Aber was das Tempo und die Art und Weise angeht, wie ich dieses Ergebnis erzielt habe, damit bin ich zufrieden." Dabei ist auch dem China-Sieger bewusst: "Gestern war definitiv der Tag, der das gesamte Wochenende stark beeinflusst hat, und ich habe einfach nicht das Maximum aus dem Auto herausgeholt."
Norris warnt: "In langsamen Passagen verlieren wir"
Somit sei der Verlauf des Rennens, und schließlich auch das Resultat, prinzipiell schon vorgegeben gewesen. Denn die Startposition "war schon immer entscheidend", so Piastri, "das ist keine Raketenwissenschaft. Wenn man auf Pole startet, macht das das Leben einfach deutlich einfacher." Der McLaren-Pilot fügt an: "Und in einem Rennen wie heute, mit kaum Reifenabbau, einer klaren Einstoppstrategie und fast durchgängigem Vollgas, ist es einfach schwer, sich über den Reifenverschleiß einen Vorteil zu verschaffen."
Eine Ahnung, wo McLaren sich aber hätte steigern müssen, um die gute Grundpace in Suzuka doch in den Sieg umzuwandeln, die hat dafür Teamkollege Norris: "Es gibt einige Bereiche, an denen wir arbeiten müssen. Im Highspeed-Bereich sind wir extrem stark, wahrscheinlich sogar das stärkste Auto im Feld. Aber in langsamen Passagen verlieren wir deutlich auf Red Bull", stellt der Brite fest: "Da haben wir gestern im Qualifying verloren - und heute im Rennen auch wieder konstant.
Für Bahrain sind das laut Norris nicht die rosigsten Aussichten, denn er unterstreicht: "Heute war unsere Schwäche im Vergleich [zu Red Bull] klar der langsame Kurvenspeed. In Bahrain gibt es weniger Highspeed-Passagen, also verlieren wir dort einen Teil unserer Stärken und geraten eher in unsere Schwächen", lautet die einfache Rechnung des WM-Leaders, dessen Vorsprung auf Verstappen auf einen Punkt geschrumpft ist.
Entsprechend macht sich Norris nichts vor: "Red Bull ist einfach schnell. Max macht einen guten Job und sie scheinen sich etwas zurückgekämpft zu haben - aber sie waren über die Saison gesehen ohnehin nie wirklich schlecht: In Australien hat er um den Sieg gekämpft, in China war er auch nicht weit weg. Und an diesem Wochenende war er wirklich stark. Ich erwarte daher, dass er uns an jedem Rennwochenende fordern wird."