Reifenwechsel unter Roter Flagge: Nicht nur unfair, sondern auch gefährlich
Der Reifenwechsel unter Roter Flagge sorgt nach dem Grand Prix von Brasilien wieder einmal für Diskussionen - Jetzt steht auch die Sicherheit auf dem Spiel
(Motorsport-Total.com) - Der freie Reifenwechsel bei einer Rennunterbrechung mit Roter Flagge sorgt in der Formel 1 seit geraumer Zeit für Diskussionen und Frust bei den Fahrern. Die Zufälligkeit der Situation wird jedes Mal von den Fahrern beklagt, die durch die Regel benachteiligt werden, weil sie kurz zuvor regulär gestoppt haben.
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Der Reifenwechsel bei Roter Flagge sorgte wieder einmal für Diskussionen Zoom Download
Beim Grand Prix von Monaco 2024 konnten alle Fahrer, die auf der mittelharten Reifenmischung gestartet waren, nach dem Abbruch zu Beginn kostenlos auf die harte Mischung wechseln und das Rennen zu Ende fahren. Alle Fahrer, die auf den harten Reifen gestartet waren, schauten in die Röhre.
In Interlagos verloren George Russell, Lando Norris und Charles Leclerc wertvollen Boden, als sie bei stärker werdendem Regen auf frische Reifen wechselten. Nach dem schweren Unfall von Franco Colapinto gab es Rot, und wer noch nicht gestoppt hatte, konnte während der Rennunterbrechung kostenlos die Reifen wechseln.
Das scheinbare Losglück wird immer wieder kritisiert, doch eine gerechtere Lösung hat niemand gefunden - zumindest seit die beiden Rennhälften nicht mehr wie früher addiert werden.
Beim Grand Prix von Saudi-Arabien 2021 lag Norris zu Beginn auf dem sechsten Platz, als er wegen des Unfalls von Mick Schumacher unter Safety-Car-Bedingungen stoppte und dadurch auf Platz 14 zurückfiel.
Eigentlich eine clevere Strategie, denn alle vor ihm, die ihren Stopp regulär unter Grün absolvieren mussten, hätten mehr Zeit verloren. Doch sein Plan ging nicht auf, als das Rennen abgebrochen wurde. Das ermöglichte allen vor ihm liegenden Fahrern einen freien Stopp, und der McLaren-Pilot fiel im Klassement einfach zurück, ohne einen Vorteil zu haben.
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Hinterher äußerte er sich ähnlich kritisch wie am Sonntagabend nach Brasilien: "Natürlich bin ich am meisten betroffen, aber ich denke [auch], dass es einfach eine sehr unfaire Regel ist, die abgeschafft werden sollte."
"Ich denke, man sollte einen Pflichtboxenstopp [zusätzlich zur Verwendung beider Reifenmischungen] vorschreiben, dann wäre es akzeptabel. Aber so macht man alles kaputt, um ehrlich zu sein. Man hat so viel Arbeit reingesteckt, und dann wird es einem wegen einer dummen Regel wieder weggenommen."
Warum die Regel potenziell gefährlich ist
Dass die Situation sportlich unfair ist, ist eine Sache, aber Sao Paulo hat noch einen anderen, sehr beunruhigenden Aspekt aufgezeigt: Das Reglement verleitet die Fahrer dazu, auf ungünstigen Reifen so lange wie möglich draußen zu bleiben, bis jemand eine Safety-Car-Phase oder einen Rennabbruch auslöst. Das macht die Sache potenziell gefährlich.
Oscar Piastri bringt es auf den Punkt: "Wir hatten nicht erwartet, dass es so stark regnen würde, und ehrlich gesagt war der schwierigste Teil des Rennens hinter dem Safety-Car, als wir versucht haben, auf der Strecke zu bleiben", so der Australier.
"Ich denke, es hat ein wenig das Problem aufgezeigt, das wir mit den Regenreifen haben - wenn jeder auf eine Rote Flagge hofft, sich aber weigert, auf Regenreifen zu wechseln, weil es ihn [im Falle eines Abbruchs] Boden kostet."
"Es ist eine ziemlich gefährliche Situation, wenn die Autos buchstäblich darum kämpfen, hinter dem Safety-Car auf der Strecke zu bleiben. Aber das ist ja nichts Neues. Hoffentlich können wir jetzt zumindest versuchen, das zu ändern."
Rennsieger Max Verstappen, dem die Rote Flagge sehr gelegen kam, gibt zu, dass es auf Messers Schneide war, als er draußen blieb: "Als einige an die Box kamen und der Regen einsetzte, blieben wir draußen, was sehr riskant war. Esteban [Ocon] fuhr vier Sekunden schneller und ich dachte nur, dass ich froh sein kann, wenn das Auto auf der Strecke bleibt. Irgendwann hieß es nur noch: Wir brauchen eine Rote Flagge. Es war einfach unfahrbar, auch mit den Starkregenreifen."
Auch Ferrari-Teamchef Frederic Vasseur räumt ein, dass die Teams darauf setzen müssen, draußen zu bleiben und möglichst nicht selbst den Unfall zu verursachen, der die Rennunterbrechung auslöst.
"Natürlich kann man am Ende immer sagen, dass es die richtige Entscheidung war, auf der Strecke zu bleiben und auf die Rote Flagge zu warten. Aber wenn man den Unfall selbst verursacht, steht man dumm da."
McLaren-Teamchef Andrea Stella handelte nach eigener Aussage nach der Devise: Sicherheit vor Wettbewerbsvorteil. Lando Norris musste dafür sportlich büßen. Am Ende standen mit Max Verstappen, Esteban Ocon und Pierre Gasly drei Fahrer auf dem Podium, die vor dem Stopp nicht an die Box gekommen waren.
"Ich gratuliere ihnen zu ihren Entscheidungen", sagt Stella. "Aber ich persönlich fühle mich nicht wohl dabei, ein Auto mit ziemlich abgefahrenen Reifen und so viel Wasser draußen zu lassen. Ohne die Rote Flagge hätten wir ein anderes Rennen gehabt."
Formel 1 nicht an Lösungen interessiert?
Aber was tun? Theoretisch könnte man die Fahrer davon abhalten, das Risiko einzugehen und mit ungeeigneten Reifen weiterzufahren, indem man den freien Reifenwechsel, der laut Reglement erlaubt ist, verbietet.
Wenn die Fahrer wüssten, dass eine Rote Flagge einen freien Reifenwechsel verbietet, würden sie sich bei der Wahl des Reifens ausschließlich an den Bedingungen orientieren - und nicht russisches Roulette spielen und auf einen Rennabbruch pokern.
Ironischerweise wurde der Reifenwechsel unter Roter Flagge aus Sicherheitsgründen überhaupt erst erlaubt, da bei Unfällen Trümmerteile zu Reifenschäden oder anderen Problemen führen können. Deshalb wäre es gefährlich, diese Regel wieder rückgängig zu machen und die Fahrer zu zwingen, mit den alten, möglicherweise beschädigten Reifen weiterzufahren.
Dennoch gab es in der Vergangenheit immer wieder Vorschläge, die Dinge zumindest etwas fairer zu gestalten. Eine Idee, die sich am besten für Trockenrennen eignen würde, um die Möglichkeit eines Gratis-Stopps zu vermeiden, bestünde darin, den Teams zu erlauben, die Reifen während des Stopps zu wechseln - allerdings mit der gleichen Mischung wie zuvor.
Dieses Szenario würde verhindern, was in Monaco passiert ist, und es würde sicherstellen, dass Fahrer, die unter vollen Rennbedingungen zum Reifenwechsel an die Box kommen, nicht ungerechtfertigt bestraft werden.
Eine Bestrafung der Fahrer in Brasilien wäre damit allerdings nicht verhindert worden, da der Intermediate letztlich der beste Regenreifen ist - denn wenn der Starkregenreifen zum Einsatz kommt, ist die Sicht in der Regel so schlecht, dass kein Rennen mehr gefahren wird.
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Eine andere Idee wäre, den Teams zu erlauben, die Reifen zu wechseln, wenn sie beschädigt sind. Dann müssten sie sich aber am Ende des Feldes aufstellen. Auf diese Weise gäbe es keinen Anreiz, bei schwierigen Bedingungen länger als nötig draußen zu bleiben - denn bei einer Roten Flagge könnte der Nachteil potenziell größer sein, wenn man den Reifen wechseln muss.
Allerdings würde diese Maßnahme möglicherweise nicht das erste Problem lösen, wenn auf einer Strecke gefahren wird, auf der das Überholen schwierig ist. Die Teams könnten das Risiko eingehen, mit einem möglicherweise defekten Reifen weiterzufahren, wenn die Alternative darin besteht, auf den letzten Platz zurückzufallen und möglicherweise nicht mehr überholen zu können.
Oder wie wäre es mit dem Vorschlag von Norris nach Saudi 2021, das sportliche Reglement dahingehend zu ändern, dass jeder Fahrer unter normalen Rennbedingungen einen Pflichtstopp einlegen muss, unabhängig von einer Roten Flagge?
All diese Ideen wurden diskutiert, und die Fahrer haben ihre eigene Meinung dazu, wie man es besser machen könnte - aber leider hat die Formel 1 die Dinge nie weiter vorangetrieben.
Auf die Frage, ob er nach Monaco noch Hoffnung habe, dass die Teams und die FIA die Reifenregel bei Roter Flagge überdenken, antwortete Norris: "Ich weiß es nicht. Es gibt viele Dinge, die sie nicht geändert haben, wahrscheinlich weil sie nicht auf die Fahrer hören."
Fünf Monate später scheinen seine Worte von damals aktueller denn je.