• 29. Juli 2024 · 07:56 Uhr

Dem Bauchgefühl vertraut: George Russell 1, Computer und Mathematiker 0

George Russell, die tragische Figur des Grand Prix von Belgien, hat seinem Bauchgefühl vertraut und damit alle Computer und Mathematiker vorgeführt

(Motorsport-Total.com) - Selbst in der Stunde seines Triumphs hatte George Russell die Größe, den Frust seines Teamkollegen Lewis Hamilton zu verstehen: "Lewis hat das super gemacht. Er hat das Rennen kontrolliert, und es waren dann Umstände, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Ich bin sicher, er hätte sonst gewonnen."

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George Russell: Sein Rennen in Spa war eine taktische Meisterleistung Zoom Download

Das war unmittelbar nach Ende des Grand Prix von Belgien 2024, und der Mercedes-Fahrer wusste da noch nicht, dass ihm die Rennkommissare den Sieg wegnehmen würden, weil sein Auto auf der FIA-Waage um eineinhalb Kilo untergewichtig war.

Wäre Russell nicht disqualifiziert worden, dann wären die Schlagzeilen heute wahrscheinlich voller Lobeshymnen auf seine taktische Meisterleistung gewesen, mit einer Einstoppstrategie "against all odds" gewonnen zu haben.

Es waren noch 18 von 44 Runden zu fahren, Russell lag an vierter Stelle im Rennen, und seine harten Reifen hatten schon 14 Runden drauf, als er zum ersten Mal an seinen Renningenieur Marcus Dudley funkte: "Denkt mal über einen Stopp nach."

Wir Russell am Boxenfunk für seine Idee kämpfte

Ein paar Runden später meinte Dudley, Russell solle jetzt, vor dem zweiten Boxenstopp, Vollgas geben, um ausreichend Vorsprung auf Perez rauszufahren und sich gegen einen Undercut von Norris zu wappnen.

Da wollte Russell dann wissen: "Seid ihr euch sicher, dass diese Reifen nicht bis zum Ende halten?" Worauf Dudley antwortete: "Sie werden halten. Aber wir denken, ein Boxenstopp ist die schnellere Variante." Russell hielt dagegen: "Im Moment werden die Reifen immer schneller."

Jetzt fingen die Strategen an nachzudenken: "Wir diskutieren das." Fünf Minuten später kam die Antwort vom Kommandostand: "George, wir bestätigen: Du kannst draußen bleiben." Was der sofort erfreut zur Kenntnis nahm: "Ja, copy."

Jetzt wuchs Russell über sich hinaus und hielt sich im Finish Hamilton und Oscar Piastri vom Leib, obwohl deren Reifen um 16 beziehungsweise 20 Runden frischer waren. Spa-Runden wohlgemerkt, und eine Spa-Runde ist nicht vier, sondern sieben Kilometer lang.

Teamplayer: Russell wollte dir Lorbeeren gar nicht für sich

Es spricht für Russell, dass er in den ersten Interviews nach dem Rennen von einer Teamleistung redete, als er danach gefragt wurde, auf wessen Mist die Strategie letztendlich gewachsen sei. Das Boxenfunkprotokoll beweist ganz eindeutig: Es war seine Idee, und er musste seinen Kommandostand erstmal davon überzeugen, dass das wirklich klappen kann.

"Es gibt manchmal Events, wo der Fahrer im Rennen die richtige Idee hat", sagt Mercedes-Teamchef Toto Wolff. "Im Hintergrund laufen so viele Computer, die den Reifenabbau berechnen und die Pace der anderen. Und wir haben einige wirklich clevere Mathematiker, die sich die Strategien permanent anschauen."

"In neun von zehn Fällen geben die Daten die Richtung vor. Aber der Input des Fahrers ist immer wichtig, und wir ermutigen die Fahrer und Ingenieure zu guter Kommunikation, denn nur so werden die Daten in Zukunft noch besser. Heute hat's irgendwann korreliert, weil wir gesagt haben: 'Okay, wir haben nichts mehr zu verlieren.' Also meinte George: 'Jungs, wollen wir nicht einen Stopp probieren?'"

Es sollte sich als goldrichtige Entscheidung entpuppen. Und zwar als eine, mit der nicht zu rechnen war. Reifenhersteller Pirelli hatte in der Strategieprognose nur Zweistoppstrategien vermerkt. Ein Stopp "war als Variante nicht auf dem Tisch, nach dem Abbau, den wir am Freitag gemessen hatten. Aber im Rennen war der Abbau dann viel niedriger als gedacht", räumt Pirelli-Sportchef Mario Isola ein.

Aus Russells Sicht waren die 18 Runden, die nach seinem ersten Boxenfunk noch folgen sollten, "ein unheimlich schwieriges Rennen. Wir haben heute Morgen viel über zwei Stopps gesprochen, ein bisschen über drei Stopps. Aber auf einmal fühlten sich die Reifen richtig gut an, und ich hatte einen guten Groove."

"Als ich in Führung lag, hatte ich keine Überrundeten vor mir, und es fühlte sich fast an wie im Simulator. Dann kamen Oscar und Charles und Lewis an die Box, und ich schaute jede Runde auf den Videowalls bei Eau Rouge, wie groß der Abstand noch ist. Die holten nicht so schnell auf wie befürchtet. Meine Rundenzeiten wurden immer besser. Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet."

Warum Hamilton nach Rennende nicht happy war

Während er die Entscheidung traf, von zwei Stopps auf einen umzustellen, meldete auch Hamilton am Boxenfunk: "Meine Reifen sind noch gut." Dessen Renningenieur Peter Bonnington nahm dieses Feedback zur Kenntnis, beharrte aber auf dem Boxenstopp: "Wir werden covern. Momentan haben wir dreieinhalb Sekunden Puffer auf Leclerc."

Hamilton wirkte nach dem Rennen angesäuert und hinterließ im Subtext den Eindruck, er habe auch nur einmal stoppen wollen. Die Wahrheit ist: Ja, er gab das Feedback, die Reifen seien noch gut. Aber anders als Russell schlug er nicht ganz konkret eine Einstoppstrategie vor.

"Wir mussten mit ihm Norris und Leclerc covern. Das war eine klare Entscheidung", analysiert Wolff. "Niemand hätte gedacht, dass der Hard so lang halten würde. Und dann gab's einen Punkt, da zeigte die Strategieprognose für George P5 an, egal ob mit einem oder mit zwei Stopps. Also ließen wir uns auf den Poker ein. Und die Performance seiner Reifen blieb bis zum Ende seines Stints konstant."

Russell fuhr in der 44. und letzten Runde sogar eine persönliche Bestzeit von 1:47.113 Minuten. Zum Vergleich: Hamiltons schnellste Runde lag bei 1:46.653 Minuten, die von Sergio Perez sogar bei 1:44.701 Minuten. Der Red-Bull-Fahrer zog im Finish aber nochmal frische Reifen auf, als sein Auto am leichtesten war, um auf den Bonuspunkt loszugehen.

Russell fuhr als Erster über die Ziellinie, 0,526 Sekunden vor Hamilton und 1,173 Sekunden vor Piastri. "Es war eine schwierige Situation, denn einerseits hast du ein Bauchgefühl, und dem willst du auch vertrauen", sagt er. "Andererseits machen alle anderen etwas anderes, und alle Daten vom Freitag sagten uns, dass ein Stopp nicht möglich ist. Da fragst du dich schon: 'Übersehen wir hier vielleicht was? Warum machen es die anderen nicht genauso?'"

"Aber ich hatte einfach ein gutes Gefühl mit den Reifen und hielt mich am Beginn des Stints ein bisschen zurück. Ich wusste, dass mir das am Ende helfen wird. Wir haben so viele Sensoren am Auto, aber letztendlich sind's nur wir 20 Fahrer, die in den Cockpits sitzen, und manchmal spürst du halt am besten, was los ist. Du spürst, wie das Auto über die Strecke rutscht. Und dann musst du deinem Gefühl auch mal vertrauen."

Sky-Experte Ralf Schumacher ist beeindruckt: "Dass das so funktioniert, dass er die Pace so halten kann, damit hat keiner gerechnet. Das war eine Glanzleistung. Er ist am Limit gefahren, hatte am Ende noch immer Reifen über, konnte sich gegen den Teamkollegen behaupten, der frischere Reifen hatte. Im Qualifying hat er einen Fehler gemacht. Im Rennen nicht."

Finish: Hat Mercedes über eine Teamorder nachgedacht?

In der 40. von 44 Runden war Hamilton erstmals im DRS-Fenster. Russell musste jetzt dem Druck standhalten, keinen Fehler zu machen. Und er wurde am Boxenfunk gewarnt: "George, wir halten das jetzt sauber, ja?" Genau wie Hamilton: "Stellt sicher, einander ausreichend Platz zu lassen."

Es kam gar nicht mehr zum Rad-an-Rad-Duell. Russell erklärt: "Ich wusste, dass ich in drei Kurven schnell sein musste, und zwar in den letzten beiden und in der ersten. Ich wusste: Wenn ich die drei Kurven gut treffe und im Mittelsektor die Reifen schone, dann wird es sehr schwierig für Lewis, mich bei Kurve 5 zu überholen."

Russell geriet kein einziges Mal ernsthaft in Gefahr. Er traf den Ausgang aus La Source jeweils so perfekt, dass Hamilton zwar bis zum Ende der Kemmelgerade ranfahren konnte, aber nicht genug Geschwindigkeitsüberschuss hatte, um vor Les Combes ein Überholmanöver zu versuchen.

"Ich wusste, dass er nah rankommen würde", erinnert sich Russell. "Aber ich wusste auch, wie schwierig das Überholen im Rennen war. Wir sind alle mit so winzigen Heckflügeln gefahren. Da hast du einfach keinen großen Windschatten."

Mercedes war jetzt in einer Zwickmühle. Piastri hatte in Runde 40 noch 4,5 Sekunden Rückstand auf Hamilton. In der letzten Runde war er dann schon im DRS-Fenster. Zu dem Zeitpunkt hätte es Mercedes wahrscheinlich keiner übelgenommen, wenn man in Form einer Teamorder eingegriffen hätte, um den Sieg abzusichern.

"Wenn es eine Runde länger gegangen wäre, hätten wir vielleicht drüber nachgedacht", gibt Wolff zu. "Wir hätten vielleicht P1 schützen können, und George wäre trotzdem Dritter geworden. Aber ich bin froh, dass wir diese Entscheidung nicht treffen mussten."

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