Pirelli erklärt nach Problemen: Warum der Sprint in Katar nicht in Gefahr ist
Obwohl Pirelli ein mögliches Problem mit den Reifen entdeckt hat, ist man für den Sprint unbesorgt - Die Beschädigungen seien nur mit dem Mikroskop zu erkennen
(Motorsport-Total.com) - Kurz vor dem Sprint-Shootout beim Großen Preis von Katar 2023 hat sich Pirellis Motorsportchef Mario Isola den vor Ort anwesenden Journalisten gestellt. Am Samstagmittag war bekannt geworden, dass Pirelli nach den Sessions am Freitag mehrere Beschädigungen an den Reifen entdeckt hatte.
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Mario Isola von Pirelli erklärt, warum der Sprint nicht gefährdet ist Zoom Download
"Seit gestern haben wir nach dem Freien Training wie üblich mehrere Reifensätze eingesammelt", verrät Isola und erklärt: "Wir analysierten die Sätze und sahen einen Hinweis darauf, dass es in der Konstruktion des Reifens auf der Seitenwand eine kleine Trennung zwischen der Karkassensehne und der obersten Gummischicht gab."
"Wir haben dann natürlich die Analyse vertieft und festgestellt, dass dies auf einen starken, wiederholten Aufprall gegen etwas zurückzuführen ist. Und wir glauben, dass es sich um einen Aufprall gegen einen Randstein handelt", erklärt Isola.
"Vielleicht liegt es daran, dass gestern im Training alle Fahrer neben der Strecke waren, sie wenig Grip hatten, und es schwierig war, die Linie auf der Strecke zu finden. Aber unsere Pflicht ist es, [die FIA] sofort zu informieren, wenn es ein mögliches Problem gibt", betont er.
Genau das habe man dann auch getan. Am Freitag gegen 22:30 Uhr habe man der FIA mitgeteilt, dass es möglicherweise ein Problem gebe. "Aber offensichtlich war es unmöglich, irgendetwas zu tun, weil wir die Leute von der Rennstrecke nicht hier hatten", verrät Isola.
"Also mussten wir eine Entscheidung auf heute Morgen verschieben", erklärt er. Die FIA gab dann am am Freitagmittag eine Pressemitteilung heraus, in der man unter anderem ankündigte, dass die Tracklimits in den Kurven 12 und 13 als Reaktion auf die Situation überarbeitet werden.
Kein Vorwurf: Katar hat sich "an alle Richtlinien gehalten"
Dadurch möchte man die Belastung der Reifen reduzieren, denn laut Isola leiden die Pneus vor allem in den Kurven 12, 13 und 14, weil die Fahrer dort "eine lange Zeit" auf dem Randstein fahren. "Es geht nicht nur um die Geometrie der Randsteine", betont er.
"Denn diese Randsteine werden auch auf vielen anderen Strecken verwendet", sagt er und erklärt, dass der in Katar verwendete Kerb "ein ziemlicher Standard-Randstein" sei. "Es geht um die Zeit und die Geschwindigkeit, mit der sie auf den Randsteinen bleiben", betont Isola.
"Der Punkt ist, dass die Strecke neu ist und die Randsteine erst vor einem Monat gesetzt wurden, sodass es unmöglich war, früher im Jahr eine Inspektion oder Kontrolle durchzuführen", erklärt er. Die Strecke wurde seit dem letzten Besuch der Formel 1 im Jahr 2021 deutlich überarbeitet.
"Um das klarzustellen: Der benutzte Randstein entspricht den FIA-Regularien. Die Strecke hat einen guten Job gemacht, alles zusammenzustellen. Es gibt keine Beschwerden gegen die Strecke", betont auch Nikolas Tombazis, Leiter des Einsitzerbereichs bei der FIA, bei Sky.
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"Sie haben sich an alle Richtlinien gehalten. Aber die Interaktion zwischen Reifen und Randstein kann sehr kompliziert sein und kann von vielen subtilen Details abhängen", so Tombazis, weshalb man nun "weitere Nachforschungen anstellen" müsse, "um die Situation weiter zu verbessern."
Konkret sieht das so aus, dass Pirelli nach dem Sprint am Abend noch einmal die dort verwendeten Reifen genau untersuchen wird. Denn daran, dass der Sprint trotz der Probleme am Freitag stattfinden kann, hat Isola keinerlei Zweifel.
"Ja", antwortet er auf die Frage, ob er sich zu 100 Prozent sicher sei, dass die Reifen die 19 Runden im Sprint durchhalten werden. Denn die Reifen, die am Freitag verwendet wurden, hatten ungefähr 20 Runden drauf - und damit ziemlich genau die Sprintdistanz.
Drei Pflichtboxenstopps im Rennen am Sonntag?
Und Isola stellt klar, dass keiner der untersuchten Reifen kurz vor einem Defekt gestanden habe. "Wenn ich den Reifen aufschneide und Ihnen den Bereich zeige, können Sie keinen Schaden erkennen", betont er und erklärt, man könne diesen nur "mit einem Mikroskop" sehen.
"Es ist also kein Thema, bei dem wir sagen: Leute, passt auf, denn wir haben jetzt ein großes Problem!", stellt er klar und betont: "Es ist [nur] ein Anzeichen, aber natürlich können wir das nicht ignorieren." Doch warum denkt man dann überhaupt über zusätzliche Maßnahmen für das Rennen nach?
"Wenn man mit demselben Reifen [den wir untersucht haben] weiterfährt, können sich diese kleinen Risse fortsetzen, und dann kann man einen Punkt erreichen, an dem man einen Druckverlust erleidet", erklärt Isola, der daran erinnert, dass der Sprint nur 19 Runden umfasse.
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"Aber morgen geht das Rennen über 57 Runden, und das bedeutet, dass wir nach dem Sprint besser verstehen müssen, ob das Problem mit den von der FIA beschlossenen [neuen] Tracklimits behoben ist oder nicht", erklärt er. Andernfalls wird es weitere Maßnahmen geben.
"Nach dem Sprint werden alle Fahrer den im Sprint verwendeten Reifensatz zurückgeben. Wir werden die Reifen erneut aufschneiden und analysieren, das Ergebnis der Untersuchung herausfinden und die FIA informieren", kündigt Isola an.
"Wenn das Problem weiterhin besteht, besteht die Lösung für morgen darin, eine maximale Anzahl von Runden für jeden Reifensatz vorzuschreiben", erklärt er. Ein Reifensatz dürfte dann maximal für 20 Runden verwendet werden, dazu würde man drei Boxenstopps vorschreiben.
"Keine Vorwarnung" bei den Simulationen
Doch warum drei Stopps, wenn man auch mit zwei Stopps durchkommen könnte, ohne die 20 Runden auf einem Satz zu überschreiten? "Weil es 57 Runden sind. Und wenn man zwei Stopps vorschreibt, besteht das Risiko, dass alle Autos in der gleichen Runde reinkommen", erklärt Isola.
"Das führt zu Verwirrung. Wenn man also eine maximale Rundenzahl von 20 vorschreibt, aber drei Stopps, dann hat man die Flexibilität, dies zu umgehen", betont er. Einen zusätzlichen Reifensatz würde es für die Teams in diesem Fall allerdings nicht geben.
Denn dafür habe Pirelli nicht genug Pneus dabei. "Wir haben Ersatzreifen, aber wir können nicht einem einen Medium geben, einem einen Soft und einem einen harten. Aber ich glaube, dass sie bei dem derzeitigen Format genügend Reifen zur Verfügung haben", betont Isola.
Spannend: Laut Isola gab es bei den Simulationen vor dem Rennen "keine Vorwarnung", dass ein solches Problem auftreten könnte. Der Vorgang, die Reifen nach dem Training zu analysieren, sei ganz normal, und dieses Problem sei nie zuvor aufgetreten. "Darum haben wir die FIA informiert", so Isola.
Er stellt übrigens klar, dass es "keine Frage der [Material-]Ermüdung" sei, denn so ein Problem betreffe die Konstruktion des Reifens. "In diesem Fall haben wir kein Problem mit der Konstruktion. Es geht darum, dass ein wiederholter Aufprall auf die Seitenwand die Widerstandsfähigkeit der Mischung beeinträchtigt, und zwar genau an der Stelle, an der sich die Sehne befindet", erklärt er.
Bildlich sehe die Situation der Reifen auf dem Randstein ungefähr so aus: "Man nimmt einen Hammer mit einer Pyramide an der Spitze und schlägt 100 Mal pro Sekunde über einen langen Zeitraum gegen die Seitenwand", erklärt Isola.
Probleme auf allen Mischungen und bei allen Autos
"Es betrifft mehr die Außenseite, aber wir können auch innen etwas Schaden sehen. Denn in manchen Kurven fahren [die Autos] über den Randstein und kommen dann wieder zurück", erklärt er und betont, dass das Problem mit einer einfachen Erhöhung des Reifendrucks nicht zu lösen sei.
Eine Erhöhung des Drucks sei "nicht hilfreich oder könnte es sogar noch schlimmer machen, da die Seitenwand steifer wäre und der Aufprall noch schlimmer sein könnte", erklärt Isola, der zudem verrät, dass das Problem bei allen und nicht nur bei speziellen Autos aufgetreten sei.
"Das Problem hängt eher mit der Anzahl der Runden als mit dem Auto zusammen", betont er und erklärt: "Der linke Vorderreifen ist am meisten betroffen, dann der linke Hinterreifen und dann der rechte Vorderreifen. Und dann ist hinten rechts am wenigsten betroffen, weil man mehr Randsteine auf der linken Seite hat."
Zudem seien alle Reifenmischungen betroffen gewesen. Einen Schuldigen gibt es laut Isola übrigens nicht. "Ich möchte nicht von Schuld sprechen. Es gibt ein Problem, und wir müssen zusammenarbeiten, um das Problem zu lösen", stellt er klar.
"Und dann muss man natürlich aus Problemen lernen, und für die Zukunft müssen wir ein besseres Verfahren finden, um [solche Dinge] zu antizipieren. Aber es ist wichtig, dass wir für den Fall, dass ein Problem auftritt, das nicht vorhergesagt wurde, ein System haben, das in Aktion tritt, bevor wir ein Reifenproblem auf der Strecke haben."
"Selbst wenn wir den Zeitplan oder die Streckenbegrenzungen oder was auch immer ändern müssen", betont er. Und auch Tombazis stellt klar: "Sicherheit ist hier unsere oberste Priorität. Wir haben eine Änderung der Randsteine in Erwägung gezogen, aber in der verfügbaren Zeit seit heute Nacht wäre das nicht möglich gewesen."
Entscheidung fürs Rennen erst nach dem Sprint
"Es betraf nicht nur ein oder zwei Randsteine, sondern war von größerem Ausmaß. Es hätten alle abgefeilt werden müssen, und wir sprechen hier von sehr hartem Beton. Das wäre nicht möglich gewesen. Auf dieser Basis war das nächste, dass die Autos etwas weiter vom Randstein fern bleiben."
"Das haben wir durch die Änderung der weißen Linie getan", erklärt er und ergänzt: "Die Tracklimits werden um 80 Zentimeter nach innen verlagert. Die Fahrer werden daher eine engere Linie fahren müssen. Die Randsteine haben eine Rampe, und es gibt eine Stufe im äußeren Bereich des Randsteins."
"Und je weiter man nach innen geht, desto kleiner ist die Stufe und desto geringer sind die Belastungen auf den Reifen. Wir glauben, dass unsere Maßnahmen dazu beitragen werden, das Problem zu verringern", hofft der FIA-Mann.
Übrigens: Nach dem Shootout hat Pirelli zunächst einmal keine weitere Analyse der Reifen eingeleitet, "weil die Teams [danach] keine Reifen zurückgeben", erinnert Isola. Deswegen werde man den Sprint abwarten, denn nach diesem muss wieder ein Satz an Pirelli zurückgegeben werden.
"Wir werden also vermutlich 20 Sätze mit [jeweils] 19 Runden haben", erklärt er. Man werde die Daten dann auswerten, vergleichen, "und dann werden wir die Informationen an die FIA weitergeben, um die Entscheidung für morgen zu treffen", kündigt er an.
Wie geht es nach dem Rennen weiter?
Das Sprintformat an diesem Wochenende sieht er übrigens nicht als Problem, auch wenn man an einem normalen Grand-Prix-Wochenende mit drei Trainings am Freitag und Samstag "etwas mehr Daten" als bei nur einem Freien Training sammeln würde.
"In einer anderen Situation, in der man mehr Trainings hat, in der man auch mehr Sätze aus verschiedenen Sessions hat, in der man eine hohe oder eine niedrige Benzinmenge [im Auto] hat, in der die Länge eines Stints unterschiedlich ist, kann man wahrscheinlich verlässlichere Informationen bekommen. "
"Aber ehrlich gesagt ist es kein großer Unterschied", stellt Isola klar und betont: "Wenn wir einen Hinweis auf ein Problem sehen, ist es unsere Pflicht, die Hand zu heben und alle zu informieren. Wir dürfen die Sicherheit nicht aufs Spiel setzen."
Nach dem Rennen in Katar werde es dann die "normale Prozedur" bei Pirelli wie nach jedem Rennwochenende geben. Heißt: Man wird die verwendeten Reifen zurück in die Fabrik nach Mailand schicken, um dort "zusätzliche Analysen" durchzuführen.
"Das können wir hier [vor Ort] natürlich nicht tun. Und sobald wir das Ergebnis haben, werden wir es mitteilen. Wir werden einen Bericht erstellen, um die FIA über alle zusätzlichen Erkenntnisse nach dem Rennen zu informieren", kündigt Isola an.