George Russell holt zweimal Bestzeit, aber "noch nicht auf Hamilton-Niveau"
George Russell resümiert seinen ersten Trainingstag im Mercedes W11 - Die Rundenzeiten seien "trügerisch" - Teamchef Wolff tritt auf Euphoriebremse
(Motorsport-Total.com) - George Russell feiert einen Einstand nach Maß bei Mercedes am Freitag in Bahrain. Der Brite kann sich in beiden Trainingssessions die Bestzeit sichern, er profitiert allerdings von einem Tracklimits-Vergehen seines neuen Teamkollegen Valtteri Bottas. Der Finne dreht am Freitag eigentlich die schnellste Runde. Trotzdem ist Teamchef Toto Wolff unzufrieden, er kritisiert vor allem die Longrun-Zeiten seiner Piloten.
"Die Rundenzeiten sind ein wenig trügerisch und spiegeln die wahre Pace im Moment nicht wirklich wider. Vor allem das zweite Training war keine gute Session für mich", resümiert Russell seinen ersten Tag im Mercedes W11. Mit einer Rundenzeit von 0:54.546 Minuten aus dem ersten Training war er der schnellste Mann.
Er war damit schneller als die schnellste jemals gewertete Qualifying-Runde, gefahren von Niki Lauda 1974 in Dijon-Premois (0:58.790 Minuten). Am Ende des zweiten Freien Trainings setzte er außerdem mit einer Runde in 0:54.713 Minuten die zweite Bestzeit in seiner noch jungen Formel-1-Karriere.
Bottas eigentlich der schnellste Mann am Freitag
Allerdings ist diese Bestzeit mit einem Sternchen versehen, denn eigentlich wäre Teamkollege Bottas am Freitag der schnellere Mercedes-Fahrer gewesen. Der Finne setzte im zweiten Training eine Zeit in 0:54.506 Minuten, wäre damit rund zwei Zehntelsekunden schneller gewesen als Russell in FT2 und hätte um vier Hundertstelsekunden auch die Tagesbestzeit aufgestellt.
"Valtteri war Schnellster im zweiten Training, jedoch wurde ihm die Zeit gestrichen. Er hat wohl nur eine halbe Zehntel rausgeholt, ehrlich gesagt, aber ich liege so um die eineinhalb Zehntel hinter ihm bei wenig Sprit", glaubt Russell im Nachhinein. Im Gegensatz zu Bottas hatte er allerdings auch Zugriff auf das innovative DAS-System.
Toto Wolff ist mit der Leistung seiner Fahrer nicht zufrieden: "Nein, gar nicht", betont er auf Nachfrage von 'Sky'. "Die eine Runde passt gut. Valtteri war drei Zehntel schneller, aber die Runde wurde gestrichen. Aber die Longruns waren bescheiden. Also nirgendwo", fasst er zusammen.
Auch die Leistung von Russell sei im Vergleich zu den Red-Bull-Piloten vor allem im Renntrimm "nicht gut genug" gewesen. Das bestätigt der Brite: "Ich hatte vor allem mit viel Sprit an Bord Probleme. Und das ist natürlich der Schlüssel für Sonntag, daher haben wir noch viel Arbeit vor uns, damit ich mich wohler fühle im Auto und um gute Verbesserungen zu erzielen."
Wie fällt das Fazit des Teamchefs aus? "Man muss ihn schon loben. Das war der erste Tag in dem Auto auf dieser diffizilen Strecke, wo viele ausgeritten sind. Und dafür hat er einen soliden Job gemacht." Insgesamt ist auch der 22-Jährige zufrieden mit seinem ersten Arbeitstag für die Silberpfeile.
"Es war gut. Ich darf mit den Besten in dieser Branche arbeiten. Ich lerne so viel mit jeder einzelnen Runde im Auto." Er habe "absolut noch nicht" alles unter Kontrolle. Denn: "Es gibt so viel zu lernen. Mit jeder Runde lerne ich mehr. Ich versuche alles, um bestmöglich vorbereitet zu sein."
Russell: "Das wird eine lange Nacht"
Wenn man allerdings nur zwei Tage Zeit hat, um sich auf einen Wechsel vorzubereiten, sei das "schwierig". Er gebe dennoch sein Bestes. "Es war ein guter erster Tag, aber wir können definitiv noch viel mehr machen." Zum Beispiel seine Position im Auto noch verbessern.
Im Training klagte er darüber, dass seine Schultern an der Kopfstütze nicht optimal aufliegen. Schon zuvor wurde bekannt, dass Russell mit einer Nummer kleineren Schuhen fahren muss, damit er in das Hamilton-Auto passt. "Ich habe schon ein paar Prellungen, um ehrlich zu sein. Wir haben uns bereits angesehen, was wir ändern müssen."
Bis Sonntag werde er noch hart daran arbeiten, sein Wohlbefinden im W11 zu steigern. Auch verschiedene Prozesse musste Russell in kürzester Zeit neu lernen, etwa Rennstarts. Mit seiner Probe am Freitag war er schon recht zufrieden, "aber die [Starts] sind noch nicht auf einem Lewis-Hamilton-Niveau", schmunzelt er.
"Ich werde heute Abend noch viel lernen und versuchen, die Kupplungspedale noch besser einzustellen und Änderungen vorzunehmen, damit meine Finger besser aufliegen. Wie gesagt, es gibt so viel zu lernen in so kurzer Zeit. Ich denke, das wird eine lange Nacht."
Hat er sich selbst die Messlatte für das restliche Bahrain-Wochenende zu hoch gelegt mit seinen beiden Bestzeiten am Freitag? "Ich weiß nicht, ehrlich gesagt. Nur weil ich heute Schnellster war, bedeutet das noch lange nicht, dass es auch morgen so aussieht."
Wolff hat schon nach dem ersten Training dazu aufgerufen, die Euphorie ein wenig zu bremsen. "Wir müssen alle ein wenig beruhigen", betont der Österreicher am Freitag. Zwar habe Russell einen "wirklich soliden Job abgeliefert", was er auf einer einzelnen Runde auch erwartet hatte.
"Verstappen war unglaublich schnell im Longrun"
Mit den Leistungen im Longrun ist Mercedes allerdings weniger zufrieden, wie Wolff bereits anmerkte. Im ersten Training fehlte aufgrund der Beschädigung am Bottas-Auto die Referenz für Russell. Und auch im zweiten Training hatten die Weltmeister nicht die Nase vorn.
Zu Beginn der Rennsimulationen konnte sich Red Bull auf dem weichen Reifen in den hohen 57er-Zeiten an der Spitze einreihen. Mercedes blieb knapp dahinter. "Verstappen war unglaublich schnell im Longrun", ist auch Russell nicht entgangen.
"Red Bull war wirklich konkurrenzfähig, George hat schnell ausgesehen", fasst Bottas zusammen und merkt an: "Zumindest waren die Longruns ziemlich konstant. Obwohl Red Bull auf dem Medium sehr schnell ausgesehen hat." Der Vizeweltmeister weiß, dass er noch "ziemlich viel Arbeit" vor sich hat.
"Das war für mich ein ziemlich kniffliger Tag. Im ersten Training habe ich mir im ersten Versuch den Unterboden am Auto beschädigt. Ich bin in Kurve 8 über die Randsteine gerattert, danach hat ein großes Teil gefehlt. Daher war das restliche erste Training für die Tonne."
Am Abend habe er sich zwar besser gefühlt, er konnte jedoch keine schnelle Zeit auf dem weichen Reifen setzen. "Ich hatte eine halbe ordentliche Runde, aber die wurde gestrichen wegen der Tracklimits. Das war also nicht gerade der beste Tag."
Teamchef Wolff merkt zu Bottas' Rettung allerdings an: "Er hat in Kurve 8 seine schnellste Runde, das ist immer die erste auf dem Soft, gestrichen bekommen wegen einer Reifenbreite. Also das war nicht so, dass er dort einen Vorteil erlangt hätte. Und die war drei Zehntel schneller als Russell."
Bottas: Russell "sieht schnell aus"
Wie schätzt der Finne die Leistung seines neuen Garagennachbarn ein? "Das war erst ein Tag, es war gut. Er gibt gutes Feedback außerhalb des Autos. Und wenn man sich natürlich die Zeiten ansieht, dann sieht er schnell aus."
Russell gehört seit 2016 zur Mercedes-Familie und ist der erste Nachwuchspilot aus den eigenen Reihen, der sich nun im Werksteam beweisen darf. Sein Charakter helfe ihm dabei, die große Herausforderung zu meistern, glaubt Wolff. "Er ist generell sehr gelassen."
Am Boxenfunk sei er sehr gesprächig, auch in den Meetings zeige der Brite vollen Fokus und strahle gleichzeitig Ruhe aus. "Seine Leistungen mit dem Sieg in der GP3, in der Formel 2 und im Rookie-Jahr, und seine Reife in jungen Jahren stechen heraus."
Wolff erinnert sich noch daran, wie sich Russell in seinem Büro in schwarzem Anzug mit Fliege vorgestellt hat - natürlich mit einer PowerPoint-Präsentation, die zu seinem Markenzeichen geworden ist. "Er war sehr reif für sein Alter. Aber genau diese Persönlichkeit eignet sich dafür unter hohem Druck ins Auto zu steigen."
"George hat einen soliden Job gemacht. Es ist beeindruckend, beide Sessions anzuführen", merkt auch Red-Bull-Teamchef Christian Horner anerkennend an. "George hat sich gut eingewöhnt", bestätigt auch der leitende Mercedes-Ingenieur Andrew Shovlin nach den Trainings.
"Er sowie Valtteri scheinen die Pace zu haben, um im Kampf um die Pole ein Wörtchen mitzusprechen", ist der Brite optimistisch. Er stimmt allerdings auch der Beobachtung von Teamchef Wolff zu: "Unsere Longruns waren heute nicht so gut. Red Bull scheint in dieser Hinsicht stärker aufgestellt zu sein."
Mercedes werde sich deshalb in der Nacht damit beschäftigen, "die Einschränkungen mit der Rennspritmenge besser zu verstehen. Aber es gibt mehrere Dinge, an denen wir arbeiten müssen, entsprechend sind wir zuversichtlich, dass wir noch einige Fortschritte erzielen können."
Unter anderem habe das Team den gesamten Tag über am Set-up getüftelt, um das Auto in den langsamen Kurven besser abzustimmen. "Diese zählten in der vergangenen Woche nicht unbedingt zu unseren Stärken", merkt Shovlin an.