Hamilton nach Pole-Zitterpartie: "Eines Tages verrate ich es in meinem Buch ..."
Mercedes-Pilot Lewis Hamilton erwischt im Qualifying zum Grand Prix von Russland mehrmals das exakt richtige Timing - Start auf dem Soft ein Nachteil?
(Motorsport-Total.com) - "Das war eine der schlechtesten Quali-Sessions, es war schrecklich", fasst Lewis Hamilton das Qualifying zum Grand Prix von Russland zusammen. Der Mercedes-Pilot konnte zwar die Pole-Position einfahren (1:31.304 Minuten), erlebte allerdings eine aufreibende Zitterpartie.
Schon der Beginn war verkorkst: Hamilton startete mit einer soliden Runde in das Q1 und reihte sich hinter Teamkollegen Valtteri Bottas auf Rang zwei ein. Doch nur wenig später meldete die Rennleitung, dass die Zeit aufgrund der Missachtung der Tracklimits in Kurve 2 gestrichen wird.
Mit seinem zweiten Versuch schaffte er dennoch den Einzug in das Q2, drei Zehntelsekunden lag er im ersten Abschnitt hinter seinem Teamkollegen. "Das erste Problem war, dass mir die Zeit gestrichen wurde", weiß Hamilton. Und das nicht nur einmal, denn das Schauspiel wiederholte sich in Q2.
Hamilton wollte in Q2 direkt einen zweiten Versuch wagen
Wieder konnte er zunächst eine Zeit setzen, mit einer Rundenzeit von 1:32.0 Minuten distanzierte er die Konkurrenz deutlich (diesmal sogar auf dem Medium-Pneu). Doch wieder wurde ihm die Rundenzeit gestrichen, diesmal kam er in der letzten Kurve (Turn 18) deutlich von der Ideallinie ab.
"Das war das erste Mal am gesamten Wochenende, dass ich dort rausgekommen bin. Ich wollte dann draußen bleiben und noch eine Runde fahren." Am Boxenfunk diskutierte er mit seinem Renningenieur Peter Bonnington darüber, der konnte ihn schließlich davon überzeugen, doch an die Box zu kommen.
Mercedes wollte kein Risiko eingehen und im zweiten Versuch auf frischen Medium-Reifen neu angreifen. Außerdem hatte er zu wenig Sprit an Bord. Zu jenem Zeitpunkt lag der WM-Führende ohne Rundenzeit nur auf Rang 15. Doch dann verschärfte sich seine Situation schlagartig, als Sebastian Vettel in Kurve vier den Ferrari in die Mauer setzte.
"Dann kam die rote Flagge raus." Zu jenem Zeitpunkt befand sich der Mercedes-Pilot gerade auf seinem schnellen zweiten Versuch. Im ersten Sektor lag er eine Zehntel hinter der Bottas-Bestzeit, im zweiten hingegen legte er einen absolut schnellsten Sektor hin.
Als er bereits mitten im dritten Sektor fuhr, entschied die Rennleitung zunächst auf Gelb und ordnete wenig später die Unterbrechung des Qualifyings wegen des Vettel-Unfalls an. Hamilton musste seine Runde vor der letzten Kurve abbrechen und stand demnach weiterhin ohne gezeitete Runde da - bei noch 2:15 Minuten auf der Uhr.
"Das war also ein großes Risiko, auf dem neuen Reifen am Ende noch mal rauszufahren. Natürlich ist man im Nachhinein immer klüger, aber ich bin nicht sicher, ob das die richtige Entscheidung war", muss er feststellen. Während der Unterbrechung musste er sich neu sammeln und sich in die Schlange in der Boxengasse einreihen, die auf die grüne Ampel wartete.
Bonnington hektisch: "Das war haarscharf!"
Der Brite fuhr erst sehr spät aus seiner Garage und lag nur auf Streckenposition sieben. Doch dann die nächste Schrecksekunde auf seiner Outlap: "Ich hätte mich in Kurve 1 [eigentlich Kurve 2] fast gedreht, weil die Reifentemperatur noch so niedrig war."
Er musste sich in der Auslaufzone durch die markierten Poller schlängeln und verlor dadurch wertvolle Zeit und Positionen - er lag nur noch am Ende der Schlange hinter Sergio Perez. "Wir liegen nun hinter unserem Plan, rund 20 Sekunden", funkte Bonnington.
Hamilton wurde bewusst, dass er nun sowohl Zeit als auch Positionen aufholen musste, möchte er doch noch in das Q3 einziehen. "Ich habe ein Auto in der vorletzten und zwei vor der letzten Kurve noch überholt, dann hat mich aber ein Renault blockiert und ich bin verdammt langsam in der Kurvenmitte der letzten Kurve gefahren."
"Wir müssen los, wir müssen los", hörte Hamilton seinen Renningenieur hektisch in den Funk sagen. Der Weltmeister drückte aufs Gaspedal und überquerte die Ziellinie im letzten Augenblick - 1,1 Sekunden bevor die Ampel auf Rot sprang und die Session offiziell beendet war.
Seine schnelle Runde durfte der Brite demnach noch beenden. Er reihte sich mit einem Sicherheitsrun auf Rang vier ein, sechs Zehntel hinter Daniel Ricciardo. Damit war sein Q3-Einzug besiegelt. "Das war haarscharf", funkte Bonnington.
"Wir hatten sehr viel Glück", weiß Hamilton. "Aber ich denke, das war nicht nur Glück, sondern einfach das richtige Timing für uns." Die Stimmung im Team sei aber trotz all der Aufregung und Hektik nicht erhitzt gewesen. "Unsere Konversationen sind meist recht ruhig." Auch als es um die Reifenfrage nach der Unterbrechung ging: Hamilton wollte eigentlich nicht den Soft verwenden.
"Wenn ich das verrate, müsste ich euch umbringen"
Denn: Fährt er seine schnellste Q2-Zeit mit dem roten Reifen, muss er auch darauf starten. Lieber wäre er den ersten Stint am Sonntag allerdings auf Medium gefahren, wie auch Bottas und Max Verstappen. Doch: "Da wir am Ende der Boxengasse zwei Minuten warten mussten, wären die Temperaturen in den Keller gefallen."
Schon auf dem neuen weichen Reifen hatte er Schwierigkeiten, wie der Ausrutscher in Kurve 2 bewies. "Ich habe zwar dafür plädiert, den Medium zu nehmen, doch schließlich haben sie den anderen angeschraubt. Wir werden das noch diskutieren, ob das richtig oder falsch war." Am Sonntag wird er deshalb auf dem Soft starten.
Mercedes-Teamchef Toto Wolff verteidigt die Entscheidung: "Unser Gedankengang war folgender: Wir wollten ihn nicht sehr früh wieder rausschicken, weil er den Motor abstellen und mit dem MGU-K wieder starten hätte müssen, das können wir aber nicht."
Da Hamilton also sowieso schon im hinteren Feld lag, und nicht die Outlap erwischen würde, die optimal für den Medium wäre, ging Mercedes das Risiko nicht ein. "Denn der Medium wäre noch nicht bereit gewesen [zu Beginn der schnellen Runde]." Deshalb entschied man sich für den Soft-Reifen, der die Strategie im Rennen "beeinträchtigt", stimmt Wolff zwar zu, verweist aber auf das geringere Risiko.
Die Aufregung sollte aber auch im letzten Qualifying-Abschnitt nicht abflauen. Wie konnte sich der amtierende Weltmeister überhaupt noch fokussieren und all die Hektik und Vorfälle für die finale Jagd auf die Pole-Position ausblenden? "Wenn ich das verrate, müsste ich euch umbringen", scherzt er.
"Jeder steht unter enormen Druck. Die Erfahrung hilft einem da sehr, dadurch weiß man bereits, wie man sich wieder fokussieren kann." Das sei eine große Herausforderung gewesen. Hamilton betont, wie dankbar er dafür war, diese Aufgabe in dieser Art und Weise gemeistert zu haben.
Untersuchung nach dem Quali: Keine Strafe!
"Ich denke, das ist generell eine Stärke von mir in diesem Jahr, dass ich mich besonders in Q3 noch einmal vollkommen auf mich konzentrieren kann und wirklich eindrucksvolle Runden fahren kann - genau dann, wenn es zählt. Dafür bin ich dankbar."
Nachsatz: "Vielleicht werde ich es eines Tages in meinem Buch verraten, wie ich das mache." Eindrucksvoll war Hamiltons Comeback in Q3 allemal, der WM-Führende ließ schon im ersten schnellen Versuch nichts anbrennen und setzte mit einer 1:31.391 Minuten eine absolute Bestzeit in den Asphalt.
"Ich wollte in Q3 unbedingt abliefern. Ich war fest entschlossen, hatte gar keine andere Wahl. Ich musste abliefern in diesen zwei Runden. Denn Valtteri war das gesamte Wochenende über toll. Das ist zwar nichts Neues, aber ich wusste, dass ich eine perfekte Runde brauche, vor allem im ersten Run, um die Pole zu holen."
Das ist dem Briten dann auch gelungen. Bottas hatte plötzlich keine Antwort mehr parat, und knapp acht Zehntelsekunden Rückstand auf seinen Stallrivalen. Im letzten schnellen Versuch besiegelte er schließlich seine Pole-Position mit einer neuen Bestzeit in 1:31.304 Minuten.
Nach dem Qualifying war der Tag für Hamilton und die Rennleitung allerdings noch nicht vorbei. Das nächste Drama bahnte sich an, als bekannt wurde, dass eine Untersuchung gegen den Fahrer mit der Nummer 44 eingeleitet wurde. Anscheinend hat der Mercedes-Pilot in der Auslaufzone von Kurve 2 nicht die Anweisungen von Michael Masi befolgt.
Erst zweieinhalb Stunden nach dem Zwischenfall kam dann die endgültige Bestätigung des Ergebnisses und die Entwarnung für Hamilton: keine Strafe. Nach all der Hochspannung schien er über die Pole-Position dann nicht einmal wirklich erfreut zu sein, denn in Sotschi ist der erste Startplatz nicht unbedingt ein Vorteil aufgrund des Windschattens.
Wolff: "Wenn das jemand schafft, dann Lewis"
"Die Pole-Position ist nicht wirklich toll hier, war sie noch nie. Dennoch kämpfen wir immer um die Pole. Und es hätte viel schlimmer laufen können, wir hätten nicht in den Top 10 landen können, daher bin ich froh darüber, dass ich mitkämpfen konnte."
Nicht nur Hamilton war angespannt, auch das Nervenkostüm von Mercedes-Teamchef Wolff wurde am Samstag strapaziert. Wobei der Wiener betont: "Ich war überhaupt nicht nervös. Ich habe schon viel schlimmere Situationen erlebt. Ich wusste, wenn das jemand schafft, dann Lewis."
Deshalb war der Österreicher laut eigener Auskunft "ziemlich entspannt". Allerdings gibt er schon auch zu, dass die Situation am Ende von Q2 "haarig" gewesen sei, als nur noch eine Sekunde Zeit blieb, um den einzigen schnellen Versuch zu starten. "Dennoch fühlte ich mich deshalb nicht nervös." Am Ende durfte Hamilton die 96. Pole-Position in seiner Karriere feiern.