• 17. August 2020 · 07:48 Uhr

Carbonteil überfahren: Da hing Hamiltons Sieg am seidenen Faden!

Lewis Hamilton musste bei seinem Sieg beim Grand Prix von Spanien nur einmal kurz zittern, ansonsten war es eines der perfektesten Rennen seiner Karriere

(Motorsport-Total.com) - Auch wenn es letztendlich mit 24,2 Sekunden Vorsprung eine klare Sache war: Es gab einen kurzen Moment, da hing Lewis Hamiltons Sieg beim Grand Prix von Spanien in Barcelona 2020 tatsächlich am seidenen Faden. Anfang der 61. von 66 Runden funkte der Mercedes-Fahrer an seinen Kommandostand: "Ich bin gerade über ein großes Carbonteil gefahren. Sah aus wie ein Flügel."

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Eines der perfektesten Rennen seiner Karriere: Lewis Hamilton Zoom Download

Fünf Runden vor Schluss auf einer ohnehin reifenmordenden Strecke über Wrackteile zu fahren, erweckt normalerweise kein Vertrauen. Aber Renningenieur Peter Bonnington gab unmittelbar Entwarnung: "Wir schauen uns die Reifendrücke an. Sieht im Moment stabil aus." Ebenso wie der Vorsprung auf Max Verstappen, der zu dem Zeitpunkt bei 16,6 Sekunden lag.

Es habe nur diesen einen Moment gegeben, berichtet Hamilton: "Jemandes Flügel lag am Ausgang von Kurve 2 - genau auf der Linie, auf der sich normalerweise mein rechter Vorderreifen befindet. Es war ein großer Flap. Zum Glück habe ich es innerhalb von Sekundenbruchteilen geschafft, mittig drüberzufahren, sodass meine Räder rechts und links davon vorbeifuhren."

Ansonsten sei Barcelona 2020 aus seiner Sicht eines der besten Rennen seiner Karriere gewesen. Er habe sich "in der Zone" befunden, funkte er kurz nach der Zieldurchfahrt, und: "Ich wusste nicht einmal, dass das schon die letzte Runde ist!" Erst Bonningtons obligatorisches "Get in there, Lewis!" erinnerte ihn daran, dass das schon die Zielflagge war.

"Wie ein Pferd mit diesen Augenklappen!"

"Wir streben immer nach Perfektion. Die auch zu liefern, ist nicht immer einfach. Aber das heute war nahe dran. Ich war fast ekstatisch, als ich über die Ziellinie gefahren bin", sagt Hamilton. "Als ich über die Linie fuhr, war mir gar nicht klar, dass es schon die letzte Runde war. Ich war immer noch voll im Tunnel - wie ein Pferd mit diesen Augenklappen!"

"Das heute", philosophiert er, "ist auf einer Stufe mit den besten Rennen, die ich je gefahren bin." Aber das, was für Millionen von TV-Zuschauern nach einem gemütlichen Spaziergang aussah, war im Cockpit harte Arbeit. Denn Red Bull hatte wie schon am zweiten Silverstone-Wochenende ein viel schnelleres Renn- als Qualifying-Auto.

0,7 Sekunden hatte Verstappen im Qualifying auf Hamiltons Pole-Position verloren. Im Rennen war er pro Runde um durchschnittlich weniger als 0,3 Sekunden langsamer, bis er in den letzten Runden Tempo rausnahm. Und diese knapp drei Zehntel kamen nicht vom überlegenen Mercedes, sondern von Ausnahmekönner Hamilton.

Das belegt der Vergleich mit Valtteri Bottas. Stimmt schon, dass der ohne seinen verpatzten Start ein ganz anderes Rennen gehabt und Verstappen vielleicht geschlagen hätte. Aber als Bottas nach dem zweiten Boxenstopp die um sieben Runden frischeren und auch noch weicheren Reifen als Verstappen drauf hatte, war der Red Bull für ihn trotzdem außer Reichweite.

"Ich muss jetzt sicherstellen, dass ich diesen Moment wirklich genieße. Du weißt schließlich nie, wann du wieder so ein Rennen hast", strahlt Hamilton. "Wir fahren derzeit fast jede Woche ein Rennen. Da vergisst du schon mal, wie außergewöhnlich diese Phase eigentlich ist. Ich bin aber sehr dankbar dafür. Heute Abend werden wir uns zur Feier des Tages sicher ein Glas Wein genehmigen!"

"Es war eine unglaubliche Teamleistung - und eine echte Überraschung für uns. Wir hätten nie mit einer solchen Reifenperformance gerechnet, wie wir sie heute hatten", wundert er sich. "Ich habe die Reifen aber wirklich gut geschont. Ich habe sogar kurz überlegt, auf einen Stopp zu gehen. Ich glaube, das wäre möglich gewesen - aber halt total am Limit."

Reifenmanagement: Der Schlüssel zu Hamiltons Erfolg

Stattdessen wechselte Hamilton in der 50. Runde von Medium auf Medium. Eigentlich hätte er bereits in der 49. reinkommen sollen, aber da lagen an der Mercedes-Box nur Soft-Reifen bereit, und die wollte er nicht. Für Toto Wolff ein Beweis für seinen Renninstinkt. "Für mich war es die beste Entscheidung, nochmal reinzukommen, um auf der sicheren Seite zu sein", sagt Hamilton.

Dass es sein Sonntag werden könnte, zeichnete sich schon früh ab. Zwar beschwerte sich Verstappen nach ein paar Runden noch über sein Bummeltempo, weil Hamilton, nach Silverstone ein gebranntes Kind, seine Reifen zunächst mit Samthandschuhen anfasste. Aber als Verstappen Reifenprobleme durchfunkte und seine eigenen noch perfekt liefen, setzte erstmals so etwas wie Entspannung ein.


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"Ich hatte alles im Blick, wusste genau, was mit dem Auto hinter mir ist", berichtet der 35-Jährige. "Ich bekomme die Infos jede Runde und weiß, wie groß der Vorsprung ist. Ich weiß, welche Zeiten er fährt und wo er sich gerade befindet, und wenn er etwas über seine Reifen sagt, weiß ich das auch. Das alles sauge ich auf. Und trotzdem konzentriere ich mich auf meine Aufgabe."

"Als er sich über seine Reifen beschwerte, tat ich das nicht. Ich wusste, dass ich meinen Stint verlängern würde, und dann kam er rein. Da habe ich noch ein bisschen mehr gepusht. Aber letzten Endes haben wir kurz darauf auf ihren Stopp reagiert", erklärt Hamilton. "Im Ziel waren meine Reifen dann noch ziemlich gut. Ich hätte locker noch zehn Runden damit fahren können."

"Dabei geht es so leicht, einen Fehler zu machen. Ihr habt Valtteris schwierigen Start gesehen und wozu das führen kann. Das hätte mir auch passieren können. Aber ich habe in allen Bereich geliefert, die ich mir vorgenommen hatte, daher bin ich wirklich, wirklich glücklich. Heute konnte ich meine Grenzen verschieben. Das freut mich einfach sehr."

"Ich rede immer von perfekten Rennen. Das heute war eins davon", sagt Hamilton. Kommentare, die einige stark an sein früheres Vorbild Ayrton Senna erinnern, der in Monaco 1988 in einer Art Trance-Zustand den Rest der Welt in Grund und Boden fuhr, ehe er von der Leitplanke am Hafen auf brutale Art geweckt wurde.

Nicht ganz wie Senna in Monaco 1988 ...

Barcelona 2020 sei für ihn keine außerkörperliche Erfahrung gewesen, winkt Hamilton ab, "und ich würde es auch nicht so beschreiben wie Ayrton. Aber der Druck auf uns ist enorm, und das Ziel ist immer die Perfektion. Manchmal bist du nahe an dieser Zone dran, aber doch nicht ganz, weil zum Beispiel ein bisschen Rhythmus fehlt."

"Ich kann nicht einmal erklären warum, aber heute hatte ich das Gefühl, genau in dieser Zone zu sein. Ich spürte eine große Klarheit beim Fahren. Hatte ich sicher früher auch schon mal. Ich kann nicht sagen, wie man in diese Zone reinkommt. Schwer zu sagen. Aber ich weiß, dass es sich heute fantastisch angefühlt hat, dieses Auto zu fahren."

"Es war ein körperlich anstrengendes Rennen, aber ich habe keine Fehler gemacht und Runde für Runde geliefert. Ich war in der perfekten Zone, von der ich immer träume. Ich hätte nie und nimmer mit 24 Sekunden Vorsprung gerechnet. Aber heute habe ich sogar Zeit gewonnen, wenn ich überrunden musste. Dabei verlierst du im Verkehr sonst immer."

Zum Drüberstreuen hat der voraussichtlich bald siebenmalige Weltmeister (37 Punkte Vorsprung auf Verstappen, 43 auf Bottas) mit seinem 156. Formel-1-Podium den alten Rekord von Michael Schumacher übertroffen. Bei den Pole-Positions ist Hamilton schon lange die einsame Nummer 1 (92:68), und bei den Siegen wird er "Schumi" wohl noch 2020 überholen (88:91).

"Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll", wirkt Hamilton fassungslos. "Wir sind mit Michael aufgewachsen und haben davon geträumt, eines Tages hier zu sitzen. Was gerade abgeht, übersteigt alles, was ich mir je als Kind vorgestellt habe. Und ich bin jeden Tag unglaublich dankbar für die Chance, die mir das Leben gegeben hat."

"Michael", spricht er über den legendären Champion aus Deutschland, "war ein unglaublicher Athlet und Fahrer. Ich fühle mich immer unheimlich geehrt und fast peinlich berührt, wenn ich im gleichen Atemzug wie er genannt werde, oder wie Fangio. Das ist schon ziemlich cool. Und ich hoffe, dass auch die Hamilton-Familie ein bisschen stolz drauf ist."

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