Rennanalyse Silverstone 2020: "Das hat Mercedes heute versemmelt"
Wie Max Verstappen mit dem langsameren Auto den Jubiläums-Grand-Prix souverän gewonnen hat und was für Nico Hülkenberg und Sebastian Vettel schiefgegangen ist
(Motorsport-Total.com) - Die Siegesserie von Mercedes ist beendet: Max Verstappen (Red Bull) hat seine abweichende Reifenstrategie beim Jubiläums-Grand-Prix in Silverstone perfekt ausgenutzt und das Rennen 11,3 Sekunden vor Lewis Hamilton und 19,2 Sekunden vor Polesetter Valtteri Bottas gewonnen (F1-Paddock live im Ticker!).
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Max Verstappen hat die Siegesserie von Mercedes in der Formel 1 unterbrochen Zoom Download
"Das hat Mercedes heute versemmelt", sagt 'RTL'-Experte Nico Rosberg. "Wenn du zwei Fahrer da vorn hast, kannst du ein bisschen variieren mit der Strategie." Beim Verlust der Führung habe man strategisch "geschlafen. Das hat Bottas auch gesagt. Ich glaube, das war strategiemäßig jetzt nicht die beste Leistung von Mercedes. Ausnahmsweise mal."
Dabei sah es zunächst so aus, als würde der Mercedes-Express dem nächsten Doppelsieg entgegenrollen. Bereits in der sechsten Runde funkte Mercedes jedoch an Bottas, dass seine beiden linken Reifen in einem "kritischen" Temperaturbereich seien. Damit war früh klar: Zumindest für die "schwarzen Pfeile" ist eine Einstoppstrategie unmöglich.
In Runde 14 kam Bottas an die Box und wechselte von Medium auf Hard. Eine Runde später folgte Hamilton - und plötzlich lag Verstappen erstmals in Führung. Der frohlockte am Boxenfunk: "Meine Reifen fühlen sich gut an. Alles bestens."
Verstappen: Mit älteren Reifen schneller als Mercedes
Sensationell: Obwohl seine Reifen um 14/15 Runden älter waren als die des Mercedes-Duos, fuhr er weiterhin die schnelleren Rundenzeiten - phasenweise um eine Sekunde und mehr! Hamilton meldete in jener Phase hingegen trotz der verhältnismäßig frischen Reifen schon wieder Blasenbildung rechts vorne an seinen Kommandostand.
Die Aufforderung seines Renningenieurs, er möge sich doch bitte zurückfallen lassen, damit seine Reifen nicht zu schnell verschleißen, quittierte Verstappen leicht genervt: "Kumpel, das ist die einzige Chance, so nah an Mercedes dran zu sein. Ich werde nicht einfach wie eine Oma dahinter sitzen bleiben!"
"Nach dem ersten Stint dämmerte mir, dass wir mit diesen Reifen wirklich gut zurechtkommen", analysiert Verstappen im Nachhinein. Er habe "gar keine Probleme" gehabt. In Runde 26 kam er zum ersten Boxenstopp - und weil der mit 3,2 Sekunden Standzeit nicht ganz perfekt ausfiel, kam er hauchdünn hinter Bottas wieder auf die Strecke.
Letzte Nacht: Vettel-Kritik an Ferrari, Verstappen als Mercedes-Schreck
Jetzt spielte Verstappen seine fahrerische Klasse aus: Mit den frischeren Pirellis dauerte es nur ein paar Kurven, bis er Bottas überrumpelt hatte. In Runde 32 kamen die beiden dann zeitgleich an die Box. Damit führte Hamilton mit elf Sekunden Vorsprung - und der kam auf die Idee, mit einem Stopp durchzufahren und vielleicht so das Rennen zu gewinnen.
Hamilton analysiert: "Ich habe es versucht, aber die Vibrationen waren zu stark. Ich war mir nicht sicher, ob der Reifen halten würde. Es waren zu viele Runden. Und ich konnte die Zeiten von Max nicht fahren. Ich gratuliere ihm. Er hat heute eine fantastische Leistung gezeigt."
Hamiltons Idee hielt dem Praxistest nicht stand: "Irgendwas stimmt nicht mit dem Auto", funkte er, als die Blasenbildung auf seinen Reifen zunahm. Red Bull aber traute dem Braten nicht: "Start pushing! Reduziere den Abstand auf Lewis für den unwahrscheinlichen Fall, dass er durchfährt", funkte man an Verstappen.
Der Niederländer reagierte, nahm Hamilton in der nächsten Runde 1,2 Sekunden ab und beendete damit alle Mercedes-Träume, mit einem Stopp gewinnen zu können. Hamilton kam nach dem zweiten Stopp zunächst als Vierter auf die Strecke zurück, aber dank seiner frischeren Reifen waren weder Charles Leclerc (4./Ferrari) noch Bottas in den letzten Runden echte Gegner.
Mercedes: Ist die Stärke auch die Schwäche?
Am Ende kommt das Ergebnis überraschend: "Ich hätte nicht damit gerechnet", gibt Verstappen zu. "Die weicheren Reifen scheinen unserem Auto besser zu liegen." Für Hamilton kam es indes "definitiv unerwartet", dass Mercedes hinten "so hardcore" Blasenbildung hatte. Red-Bull-Teamchef Christian Horner vermutet: "Die haben so viel Anpressdruck, das haben die Reifen nicht ausgehalten."
Bottas gibt zu, über den dritten Platz "enttäuscht" zu sein - einerseits, weil er den zweiten Platz in der Fahrer-WM abgeben muss, andererseits, weil er sich strategisch im Stich gelassen fühlt: "Als Max versuchte, vor uns zu kommen, haben wir als Team geschlafen. Da war die Strategie alles andere als ideal."
Bis Hamilton auf die Idee kam, mit einem Stopp durchzufahren, sah Bottas wie der stärkere Mercedes-Fahrer im Rennen aus. Die Wende kam, weil er den Reifen zu viel zumutete: "Ich habe versucht, mit Max mitzugehen, aber sobald ich zu pushen begann, fielen die Reifen auseinander. Das ist so, als würden die Reifen kochen. Dann bilden sich Blasen und du verlierst Grip."
Probleme, die nicht nur der aktuelle, sondern auch der mutmaßliche Vorjahres-Mercedes hatte. Nico Hülkenberg fuhr über weite Strecken ein bärenstarkes Rennen. Zwar verlor er am Start eine Position gegen Verstappen, doch Daniel Ricciardo (Renault) konnte er so hinter sich blocken, dass Teamkollege Lance Stroll durchschlüpfte.
Zunächst fuhr Racing Point ungefährdet auf P4/5. Leclerc kam jedoch mit Fortdauer des Rennens immer besser in Fahrt und zog jenes Einstopprennen durch, das Hamilton nur durchziehen wollte, aber nicht konnte. Trotzdem hätte Hülkenberg ohne seinen späten dritten Boxenstopp locker Fünfter werden können.
Der späte Wechsel auf Soft war die richtige Entscheidung: "Ich glaube nicht, dass ich es auf dem Reifensatz ins Ziel geschafft hätte. Wir hatten fette Blasen auf beiden Hinterreifen. Die Vibrationen wurden immer extremer. Ich glaube nicht, dass das noch sieben Runden lang gut gegangen wäre", berichtet er.
Körperlich sei das erste Comeback-Rennen "anstrengend" gewesen, gibt Hülkenberg zu. Von P3 auf P7 zurückzufallen, das sei "nicht das Märchen, wie sich das alle gewünscht hatten", seufzt er. Aber: "Das war auch ein bisschen vermessen, bei so starken Red Bulls und Mercedes und so weiter. Aber ich glaube, es war eine solide Leistung."
Nächstes Debakel für Vettel
Der zweite Deutsche im Feld, Sebastian Vettel, ging als Zwölfter leer aus. Vettel drehte sich gleich in der ersten Kurve und fiel auf den letzten Platz zurück. "Sah nach einem Fehler von ihm aus", analysiert 'Sky'-Experte Ralf Schumacher. Das sieht Vettel selbst anders: "Entweder war es der Randstein oder ein Auto von hinten."
Punkte waren damit praktisch außer Reichweite. Nach dem Rennen sagt er: "Ich glaube, wir haben heute keinen guten Job gemacht, was die Strategie betrifft." Unzensiert am Boxenfunk klang das etwas brutaler, als er hinter einer Reihe anderer Autos feststeckte: "Genau das haben wir heute Morgen besprochen. Ihr wisst, dass ihr das verpennt habt!"
"Wir hatten genau über die Situation gesprochen, und trotzdem haben wir es gemacht", ärgert sich der viermalige Weltmeister. Von da an sei sein Rennen "Quark" gewesen: "Ich hatte noch genug Speed, um draußen zu bleiben. Die Gruppe, auf die ich aufgelaufen bin, fuhr genau die gleichen Zeiten wie ich mit den alten Reifen vorher. Es gab keinen Grund reinzukommen."
Viel besser lief es für den Mann, den er gern ersetzen würde: Alexander Albon kam als erster Fahrer zum Boxenstopp, fuhr phasenweise ähnlich schnell wie Verstappen und zeigte einige beherzte Überholmanöver, unter anderem im Finish gegen Stroll. Das bescherte ihm den fünften Platz. Die Kirche bleibt aber bei 39 Sekunden Rückstand auf Verstappen weiterhin im Dorf.
Esteban Ocon (8./Renault), Lando Norris (McLaren) und Daniil Kwjat (AlhaTauri) wurden für solide Leistungen mit Punkten belohnt. Carlos Sainz (McLaren) erlebte ein schwieriges Wochenende, "gekrönt" von einem verpatzten Boxenstopp. McLaren erlebte insgesamt nicht das stärkste Wochenende. Mehr als P13 wäre für Sainz aber ohne seine Probleme sicher drin gewesen.
Ricciardo, im Qualifying noch starker Fünfter, kam als 14. ins Ziel. Sein Dreher war nicht hilfreich, aber zu dem Zeitpunkt war schon klar, dass er für Leclerc und die Racing Points kein Gegner mehr ist. Und Kimi Räikkönen, dem am Boxenfunk immer mehr anzuhören ist, dass er keine Lust mehr hat, wurde auf Alfa Romeo mit einer Runde Rückstand 15.
In der Fahrer-WM hat Hamilton nach fünf von voraussichtlich mindestens 16 Rennen unverändert 30 Punkte Vorsprung auf seinen ersten Verfolger. Das ist aber nicht mehr Bottas, sondern Verstappen. Zwischen P2 und P3 liegen vier Punkte. Und: Hamilton hat Geschichte geschrieben - und mit dem 155. Podium seiner Karriere den alten Rekord von Michael Schumacher eingestellt.