So eng war es wirklich: Lewis Hamiltons dramatische letzte Runde in Silverstone
In der letzten Runde verlor Lewis Hamilton fast 30 Sekunden auf Max Verstappen - Es ist allerdings ein kleines Wunder, dass er das Rennen überhaupt noch gewonnen hat
(Motorsport-Total.com) - "Mit jeder Minute fühle ich mich schlechter, weil ich realisiere, was gerade passiert ist", sagt Lewis Hamilton auf der Pressekonferenz nach dem Rennen in Silverstone. Da hat der Brite gerade zum siebten Mal sein Heimrennen in der Formel 1 gewonnen. Anders als bei den sechs Erfolgen zuvor: Sein Mercedes kam dieses Mal als "Dreirad" ins Ziel ...
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Lewis Hamilton schleppte seinen Mercedes in der letzten Runde ins Ziel Zoom Download
Nachdem sich zuvor bereits der linke Vorderreifen bei Teamkollege Valtteri Bottas verabschiedet hatte, hatte auch der Weltmeister in der letzten Runde einen Reifenschaden. Wir zeichnen Hamiltons dramatischen letzten Umlauf noch einmal nach und zeigen, wie viel Glück und Können es brauchte, den Mercedes in diesem Zustand ins Ziel zu schleppen.
Zu Beginn der 52. und letzten Runde hat Hamilton 34 Sekunden Vorsprung auf seinen Verfolger Max Verstappen. Der Red-Bull-Pilot ist dabei auf den frischeren Reifen unterwegs, weil er nach dem Reifenschaden von Bottas kurz vor Ende noch einen zusätzlichen Stopp eingelegt hat. Mercedes hat bei Hamilton darauf verzichtet. Man sah keinen Anlass.
"Die Reifen fühlten sich großartig an", berichtet Hamilton nach dem Rennen. Es habe "gar keine" Vorwarnung gegeben, dass sich ein Reifenschaden anbahnen könnte. "Ich hatte natürlich gehört, dass Valtteri einen Reifenschaden hatte. Ich dachte, dass ich relativ gut auf die Reifen geachtet hatte", so Hamilton, der gegen Rennende bereits Tempo rausgenommen hatte.
Reifenschaden zum Glück nicht in Copse ...
Er sei deshalb "entspannt" in die letzte Runde gegangen, und noch in Kurve 3 habe sich alles ganz normal angefühlt. Kurve 3 ist die letzte Rechtskurve im ersten Streckenabschnitt. Es folgen noch zwei Linkskurven, bevor es auf die Gerade geht, die zu Brookslands (weitere Linkskurve) führt. Auf der Geraden merkt Hamilton dann, dass etwas nicht stimmt.
Er habe unter anderem gespürt, dass sich die Balance plötzlich nach links verlagert habe. "Ich glaube, mit meinem linken Reifen ist auch etwas passiert", funkt er in Brooklands an sein Team. Zu diesem Zeitpunkt hat Hamilton gerade einmal rund ein Drittel der letzten Runde absolviert. Erstmals richtig deutlich wird der Schaden dann in der nächsten Kurve.
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Luffield (Kurve 7) ist die erste Rechtskurve seit Kurve 3. Dort ist zu sehen, dass Hamiltons Frontflügel über den Asphalt schleift, weil der linke Vorderreifen Luft verloren hat. Deswegen kommt Hamilton sehr weit raus und verrät nach dem Rennen, dass er die Kurve fast nicht geschafft hätte. "Da rutscht dir das Herz in die Hose", berichtet der Mercedes-Pilot.
"Ich bin dankbar, dass es nicht in einer schnellen Kurve passiert ist. Stellt euch vor, das passiert in Copse oder so, das wäre ein Desaster gewesen", so Hamilton, der verrät: "Ich geriet aber nicht in Panik und dachte eher: 'Wie bringe ich das jetzt ins Ziel?'" Den ersten Schreckmoment hat er da überstanden, doch in den verbleibenden Kilometern liegt nun ein Kraftakt vor ihm.
Angst vor Frontflügelverlust und Co.
"Verstappen ist 30 Sekunden zurück", funkt Renningenieur Peter Bonnington in Kurve 7. Zu diesem Zeitpunkt hat Hamilton bis zum Ziel noch elf Kurven vor sich, davon sieben Rechtskurven. "Verstappen 25 Sekunden", funkt Bonnington in Copse (Kurve 9). Seit Beginn der Runde hat Hamilton also schon fast zehn Sekunden auf den Red Bull verloren.
Zudem ist in der Onboard-Aufnahme des Briten jetzt auch deutlich zu sehen, dass der linke Vorderreifen sich auflöst. "Das ist die letzte Runde, du hast 20 Sekunden auf Verstappen", funkt Bonnington in Maggotts (Kurve 10). "Als ich versucht habe, zu beschleunigen, da ging noch mehr Luft aus dem Reifen", berichtet Hamilton nach dem Rennen.
Für den Weltmeister ist es eine Gratwanderung. Einerseits kommt Verstappen unaufhaltsam näher, weshalb er nicht zu langsam fahren kann. Andererseits könnte sich das Problem noch verschlimmern, wenn er es jetzt übertreibt. "Verliere ich den [Front-]Flügel? Rutscht er unters Auto? Man denkt über alle diese verschiedenen Szenarien nach", verrät Hamilton.
Er habe sich zu diesem Zeitpunkt viele Fragen gestellt und einige Einstellungen verändert, um es überhaupt noch durch die Rechtskurven zu schaffen. Denn mit jedem Meter verschlechtert sich der Zustand seines linken Vorderreifens. "Ich weiß nicht, wie ich während dieser Phase so cool bleiben konnte. Ich hatte keine Wahl", erklärt Hamilton.
Die letzten Kurven "fast nicht mehr geschafft"
Der Weltmeister verrät: "Da setzt der Überlebensinstinkt ein. Ich dachte mir: 'Jetzt bin ich schon so weit gekommen, jetzt gehe ich nicht einfach vom Gas und lasse die kampflos vorbei!'" Tatsächlich ist die Ruhe am Funk beeindruckend. Während Bonnington regelmäßig unaufgeregt den Abstand zu Verstappen durchgibt, herrscht am anderen Ende komplette Stille.
"17 Sekunden, jetzt 16 Sekunden", meldet Bonnington in Chapel (Kurve 14). Da hat Hamilton noch die komplette Hangar Straight und vier weitere Kurven vor sich. "Zehn Sekunden auf Verstappen", heißt es in Stowe (Kurve 15). "Ich erinnere mich, dass ich zwischen 15 und 16 Vollgas gab", so Hamilton nach dem Rennen. Da hängt sein Reifen bereits komplett in Fetzen.
"Neun Sekunden auf Verstappen", meldet Bonnington beim Anbremsen in Kurve 16. Dort steht das linke Vorderrad komplett und man kann sehen, dass der Reifen vollständig platt ist. "Die letzten beiden Kurven hätte ich fast nicht mehr geschafft", so Hamilton, der in den beiden letzten Kurven (jeweils Rechtskurven) riesiges Untersteuern gehabt habe.
"Sieben Sekunden auf Verstappen", meldet Bonnington in der letzten Kurve. Im Ziel fehlen dem Red Bull schließlich 5,8 Sekunden auf Hamilton. Fast 30 Sekunden hat der Niederländer in der letzten Runde aufgeholt, doch Hamilton schleppt den Sieg ins Ziel. Zunächst ist der sich aber gar nicht sicher, ob er das Rennen wirklich gewonnen hat.
Erinnerungen an Formel-Renault-Rennen
"War das die letzten Runde?", ruft Hamilton nach der Zieldurchfahrt. Es sind seine ersten Worte am Funk, seit er in Kurve 6 seinen Reifenschaden gemeldet hat. "Das war's Kumpel, du hast es geschafft!", bestätigt Bonnington. "Da war keine Flagge!", wundert sich Hamilton. Doch sein Renningenieur bestätigt, dass das Rennen vorbei ist.
"So etwas habe ich in der letzten Runde definitiv noch nicht erlebt", sagt Hamilton später und erklärt auf Nachfrage: "Ich denke nicht, dass ich schon einmal ein Rennen auf drei Rädern gewonnen habe." Einen ähnlichen Vorfall habe es vor vielen Jahren einmal in der Formel Renault gegeben, als er einen Defekt hinten an der Aufhängung gehabt habe.
Damals sei das Auto in den Linkskurven mit einem Rad in der Luft gewesen - und auch damals habe er das Rennen trotzdem noch gewonnen. Das sei "ähnlich" wie am Sonntag, aber Silverstone natürlich noch einmal "viel extremer" gewesen. "Vielleicht", grübelt Hamilton, hätte man gegen Rennende noch einmal einen Sicherheitsstopp einlegen sollen.
Die Luft dazu hätte man gehabt, weil der Vorsprung auf Verstappen groß genug war. Auch so reichte es am Ende aber noch zum Sieg, auch wenn sich Hamilton die Umstände seines dritten Sieges in Serie wohl deutlich weniger spektakulär gewünscht hätte. In der WM konnte er seinen Vorsprung auf Teamkollege Bottas auf 30 Zähler ausbauen.
Insgesamt war es Hamiltons 87. Sieg in der Formel 1. Dabei kann man sich vielleicht nicht an jeden einzelnen zurückerinnern. Sein Sieg in Silverstone 2020 wird den Leuten aber sicher im Gedächtnis bleiben.