• 01. Juli 2019 · 15:36 Uhr

Warum das FIA-Urteil in Spielberg so lang gedauert hat

FIA-Rennleiter Michael Masi erklärt, warum das Urteil im Fall Verstappen-Leclerc so lange gedauert hat und nicht mit jenem in Kanada vergleichbar ist

(Motorsport-Total.com) - Um 19:46 Uhr - die TV-Stationen waren da längst aus ihren Live-Übertragungen ausgestiegen, und die Fans feierten schon den Sieg von Max Verstappen - war das Ergebnis des Grand Prix von Österreich endlich offiziell. Während die Entscheidung der FIA-Kommissare, nicht mit einer Strafe einzugreifen, überwiegend als richtig für den Sport empfunden wird, so kritisieren doch viele, wie lange es bis zur Bekanntgabe gedauert hat.

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FIA-Rennleiter Michael Masi verteidigt die Kommissare im Fall Spielberg Zoom Download

Um genau 16:31 Uhr, so steht es in den letztendlich rennentscheidenden FIA-Dokumenten 49 und 50, ereignete sich der strittige Zwischenfall zwischen Verstappen und dem bis dahin Führenden, Charles Leclerc, in Runde 69. Erst um 19:46 Uhr, also 3:15 Stunden später, wurde die Entscheidung der Kommissare offiziell bekannt gegeben.

Da war der Red-Bull-Ring schon halb ausgestorben. Dietrich Mateschitz und Helmut Marko waren weg, Charles Leclerc saß bereits im Auto (kam aber wieder zurück) und viele TV-Stationen hatten zusammengepackt. Tausende Holländer feierten noch auf den Campingplätzen, hatten aber keine Ahnung, ob ihr Nationalheld überhaupt Sieger bleiben würde.

Warum das alles so lange dauerte? "Bis 18:00 Uhr", erklärt FIA-Rennleiter Michael Masi, "konnten wir nichts tun. Die ganzen Medientermine, die TV-Runden, die Pressekonferenz. Die Anhörung selbst dauerte etwa eine Stunde, mit allen Beteiligten." Das ist nicht ganz richtig: Um 18:32 Uhr kamen zuerst Leclerc und dann Verstappen aus dem Race-Control-Room. Also nach einer halben Stunde.

Kommissare treffen Entscheidung immer allein

Doch zu dem Zeitpunkt stand die Entscheidung noch nicht fest. Die Kommissare Nish Shetty, Silvia Bellot, Tom Kristensen und Walter Jobst hatten nun alle relevanten Informationen beisammen, mussten sich aber natürlich auch ohne Fahrer besprechen. Schließlich werden solche Entscheidungen nicht im Beisein der beteiligten Parteien getroffen.

"Die Kommissare haben nachgedacht, sich vergleichbare Situationen angeschaut, Präzedenzfälle, sich abgesprochen", erklärt Masi. "Dann wird die Entscheidung irgendwann aufgeschrieben. Dann musst du noch sicherstellen, dass keine Rechtschreibfehler drin sind und so weiter. Dann holst du die Teamvertreter wieder zu dir und gibst ihnen die Entscheidung bekannt."

Um 19:46 Uhr wurden die FIA-Dokumente per E-Mail an ausgewählte Medienvertreter verschickt. Da kam Ferrari-Teamchef Mattia Binotto gerade zu den Journalisten in der Hospitality, die darauf warteten, mit ihm zu sprechen. Zunächst noch ohne Pressesprecherin Silvia Hoffer. Um 19:52 verriet er: "No further action." Da wussten viele noch nicht Bescheid.

Die meisten Journalisten hatten bis dahin ungeduldig auf die Entscheidung gewartet. Viele Kamerateams standen um 18:32 Uhr beim Race-Control-Room, als dort die Fahrer rauskamen, und wanderten dann weiter. Zwischen den nebeneinander aufgebauten Hospitalitys von Red Bull und Ferrari sammelte sich eine Menschenmenge an. Die Ungeduld wurde immer größer.

Masi verteidigt das lange Warten: "Die Zeit vergeht viel schneller, wenn du, wie wir alle, draußen sitzt und wartest, als wenn du im Meeting-Raum selbst dabei bist. Das ist halt so. Sie mussten wirklich alle Elemente in Betracht ziehen. Und sie hatten alle vier, die Fahrer und ihre beiden Teammanager, für ungefähr eine Stunde bei sich."

Die strittige Situation analysiert Masi so: "Max hatte daraus gelernt, was eine Runde davor passiert ist. Er fuhr in die Kurve rein, bremste später. Charles sah ihn kommen und blieb außen. Dadurch, dass Max so spät bremste, wurde er am Scheitel nach außen getragen. Er war durchgehend im vollen Lenkeinschlag. Das, was ihm in der Runde davor passiert war, passierte ihm nicht noch einmal."

Präzedenzfall: Rosberg vs. Hamilton, Spielberg 2016

Ein Präzedenzfall war am Sonntag übrigens rasch gefunden. 2016 war es in der letzten Runde des Spielberg-Rennens an genau der gleichen Stelle zu einer zumindest ähnlichen Situation zwischen Nico Rosberg und Lewis Hamilton gekommen. Rosberg (innen) attackierte allerdings nicht, sondern verteidigte - und wurde dafür mit einer Zehn-Sekunden-Strafe belegt.

Masi bestätigt, dass sich die Kommissare den damaligen Zwischenfall auf Video angesehen haben, ebenso wie die damalige Urteilsbegründung. "Es war ja in der gleichen Kurve", erklärt er. Der größte Unterschied zwischen 2019 und 2016: "Nico hat damals bewusst rübergeschaut. Max hingegen konzentriert sich ganz auf die Kurve."

Den Vergleich mit Vettel-Hamilton in Kanada oder der letzten Runde in Frankreich hält Masi für nicht zulässig: "Da würden wir Äpfel mit Birnen vergleichen. In Kanada ist Sebastian quer übers Gras gefahren, er lag vorne, es war kein Überholmanöver. Und im Fall von Daniel und Lando ist Daniel von der Strecke gefahren und wieder zurückgekommen."

"Wohingegen wir dort beide Autos neben der Strecke hatten, war es diesmal ein Überholmanöver", erklärt Masi. "Man kann die drei Situationen wirklich nicht miteinander vergleichen - sie sind völlig unterschiedlich. Die Kommissare haben in ihrem Urteil richtigerweise von einem Rennunfall gesprochen. Es war aus ihrer Sicht einfach gutes, hartes Racing."

Wie der Prozess nach so einer strittigen Szene dann abläuft, ist vielen Fans übrigens nicht hundertprozentig klar. Dabei ist es im Grunde genommen nicht kompliziert: Masi, der Rennleiter, "notiert" jeden Zwischenfall, der ihm und seinem Team entweder selbst auffällt oder von einem der Teams via Funk gemeldet wird.

"Under Investigation": Das muss dafür passieren

Masi entscheidet dann, ob ein Zwischenfall an die Kommissare weitergeleitet wird oder nicht. Wenn nicht, ist die Sache erledigt. Wenn schon, erscheint das berühmte TV-Insert "under Investigation". Dann fangen die Kommissare mit ihrer Arbeit an, suchen sich die relevanten Regelpassagen heraus, studieren Videoaufnahmen und so weiter.

Dass es von da an möglichst schnell gehen soll, weil ein Millionenpublikum auf eine Entscheidung wartet, ist die eine Seite. Die andere ist: "Die Entscheidung soll dann ja auch richtig sein, alle Umstände und verfügbaren Faktoren einbeziehen und so viele Informationen wie möglich berücksichtigen."

Dazu kommt: "Wir können nicht einfach das Match abpfeifen, das Spiel einfrieren, eine Entscheidung treffen und dann wieder anpfeifen. Wann immer es uns möglich ist, versuchen wir, dass die richtigen Fahrer auf dem Podium stehen. Aber wenn in den letzten zwei, drei Runden des Rennens was passiert, ist das schwierig", bittet Masi um Verständnis.

Was die Frage aufwirft: Angenommen, die gleiche Situation wäre in der dritten statt in der drittletzten Runde passiert, hätte die Entscheidung dann auch so lange gedauert? Oder hätte man sich eine Anhörung der beiden Fahrer und ihrer Teammanager dann geschenkt, um rechtzeitig zum Rennende bereits ein Ergebnis zu haben?

"Wenn die Kommissare das Gefühl haben, dass ihnen alles vorliegt, dann treffen sie sofort eine Entscheidung. Das ist aber immer eine Gratwanderung", sagt Masi. Im Fall Spielberg "wollten sie beide Fahrer anhören, um deren Sicht der Dinge zu verstehen. Naturgemäß hatten die beiden Teams dazu konträre Ansichten."

"Ob es anders gelaufen wäre, wenn der Zwischenfall früher im Rennen passiert wäre? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht", sagt Masi. "In Kanada war es nicht so, da haben die Kommissare gleich entschieden, was Sache ist. Vielleicht hätten sie sich [in Spielberg], wenn es früher gewesen wäre, ein paar Runden Zeit gelassen und dann gleich eine Entscheidung getroffen."

Hatte Kanada Einfluss auf Österreich?

Im Paddock wurde am Sonntagabend unter Journalisten teils hitzig darüber diskutiert, ob die Kommissare nach dem medialen Aufschrei nach der Vettel-Strafe in Kanada unter Druck gestanden sind, in Österreich nicht noch einmal ins Endergebnis einzugreifen. Nicht auszudenken, wie Medien und Fans reagiert hätten, hätte man Verstappen den Sieg aberkannt.

Aber Masi hält dagegen: "Ich habe nicht das Gefühl, dass nach Kanada oder irgendeinem anderen Zwischenfall ein erhöhter Druck vorhanden war. Das sind alles Damen und Herren mit einem gesunden Selbstbewusstsein, erfahrene Kommissare, und es ist Teil der Aufgabe als Schiedsrichter, unabhängig zu entscheiden."

Die Formel 1 sei "ein Partner" der FIA, und naturgemäß versucht die FIA daher, im Interesse der Formel 1 zu handeln. Trotzdem, unterstreicht Masi, werde jeder Fall individuell beurteilt: "Unterm Strich haben wir ein Regelbuch. Da stehen die Regeln drin, die wir anwenden müssen." Spielraum für gesteuerte Entscheidungen ist da kaum bis gar nicht gegeben.

"Es gibt die Philosophie 'Let them race', die in den vergangenen Jahren immer wieder betont wurde. Das hat vor meiner Zeit angefangen", sagt Masi, der bekanntlich erst am Saisonbeginn nach dem überraschenden Tod von Charlie Whiting zum FIA-Rennleiter ernannt wurde. "Let them race" sei nach wie vor ein Ziel - wird aber nicht über die Regeln gestellt.

Schwierig findet die FIA auch Vergleiche von Rennsituationen unterschiedlicher Jahre, zuletzt passiert in Kanada, als Vettel-Hamilton 2019 mit Hamilton-Ricciardo in Monaco 2017 gegenübergestellt und kritisiert wurde. "Über die Jahre", erklärt Masi, "haben sich die Regeln geändert, und auch die Art und Weise, wie sie interpretiert werden."

"Wenn wir über Präzedenzfälle und Zwischenfälle sprechen, die sich vor drei Jahren zugetragen haben, dann war etwas damals vielleicht noch ein Regelverstoß. Denn die Interpretation von Zwischenfällen hat sich weiterentwickelt und ist vielleicht milder geworden. So etwas ist immer schwierig", findet Masi.

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