Lewis Hamilton akzeptiert Charles Leclerc im Kreis der Großen
Mercedes-Pilot Lewis Hamilton streut Ferrari-Fahrer Charles Leclerc nach dem Bahrain-Rennen Rosen - Lob von allen Seiten - Wolff betrachtet ihn als "Gefahr"
(Motorsport-Total.com) - "Du bist großartig gefahren dieses Wochenende", meint Lewis Hamilton nach dem Grand Prix von Bahrain vor der Podiumszeremonie zu jenem Mann, der das Rennen in der Wüste eigentlich gewinnen hätte sollen. "Er war der emotionale Gewinner", weiß auch Mercedes-Teamchef Toto Wolff. Doch der Ferrari-Motor im Heck des SF90 spielte nicht mit: Charles Leclerc musste in Führung liegend zusehen, wie ihn Hamilton und später auch Valtteri Bottas noch überholen. Trotz eines enttäuschenden Rennausgangs bewies der Monegasse Größe, was auch der Konkurrenz großen Respekt abringt.
"Das war sehr beeindruckend", kommentiert Wolff die Vorstellung des 21-Jährigen. An seinem erst zweiten Ferrari-Rennwochenende hat sich der Neuling gegen Sebastian Vettel im Qualifying durchgesetzt und auch im Rennen nach anfänglichen Schwierigkeiten an die Spitze gesetzt. "Er war das gesamte Wochenende über ein Ausreißer [an der Spitze], sogar im Vergleich zu seinem Teamkollegen. Er war so viel schneller [als Vettel]", analysiert Hamilton.
Leclerc konnte seinen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz nach zwei Boxenstopps 15 Runden vor Rennende auf zehn Sekunden ausbauen. Doch schon kurz danach dann der Schock: "Was ist da los?", funkte er ungläubig. Die Fassungslosigkeit in seiner Stimme ließ nichts Gutes vermuten. Schließlich wurde der Ferrari an der Spitze immer langsamer. Später stand fest, dass ein technisches Problem an einem Zylinder auftrat.
Hamilton: Überholmanöver fühlte sich "eigenartig" an
Dadurch schmolz sein Vorsprung in nur fünf Runden, in Runde 48 fuhr Lewis Hamilton schließlich am wehrlosen Ferrari vorbei. Dabei streckte er sogar die Hand beim Vorbeifahren aus dem Cockpit, als Entschuldigung gedacht. Der Brite muss nach seinem ersten Rennsieg in der neuen Saison zugeben, dass ihm das nicht leicht gefallen ist. "Letztlich willst du jemanden überholen, weil du schneller bist in einem Kampf. Ich bin an Charles auf der Gegengeraden vorbeigefahren und habe meine Hand rausgestreckt, weil ich nichts anderes machen konnte. Ich hatte ja keine Schwierigkeiten."
Freude konnte der fünffache Weltmeister dabei keine verspüren: "Es fühlt sich definitiv eigenartig an, ehrlich gesagt. In solchen Situationen kannst du dein Glück kaum fassen. Aber was kannst du schon tun?", fragt er sich. Er habe schließlich einfach weitermacht. "Ich war auch schon in solchen Situationen: Wir waren oft in Führung, als das Auto plötzlich aufgegeben hat. Ich weiß, wie sich das anfühlt", schildert er. Unvergessen: Sein Motorschaden 2016 in Malaysia, als er in Führung liegend ausgeschieden ist und daraufhin die Weltmeisterschaft gegen Nico Rosberg verloren hat.
"Das ist schon mit ein bisschen einem bitteren Beigeschmack versehen, weil wir alle Racer sind und der emotionale Sieger war Charles", gesteht auch Wolff. Andererseits habe auch das Mercedes-Team bereits solche Rückschläge erlebt. "Manches Mal hat man Glück, manches Mal Pech. Am Ende gleicht sich alles wieder aus, das ist zumindest meine Erfahrung." Er nehme den Doppelsieg "demütig" an. Schließlich war Mercedes in Bahrain nur zweite Kraft hinter Ferrari. "Wir erkennen an, dass noch Arbeit vor uns liegt und das nicht das wahre Kräfteverhältnis am Sonntag war."
"Dieser Kerl wird noch so viele Siege einfahren"
Aus den Aussagen von Hamilton lässt sich dasselbe Bild ableiten: "Das war heute wirklich harte Arbeit", bilanzierte der Brite kurz nach Rennende. "Dieses Wochenende war Ferrari unglaublich." Daher lief der Titelverteidiger im Parc ferme schnell zu Leclerc, um den moralischen Sieger aufzuheitern. Er sprach ihm ein paar warme Worte zu und zollte ihm Respekt für seine Leistung. "Ich musste noch kurz zu Charles laufen, weil er so einen guten Job gemacht hat."
Im Warteraum vor der Podiumszeremonie erneuerte er noch einmal seine Trost spendenden Worte. Schließlich wisse er genau, wie sich so eine Niederlage anfühle. "Ich bin sicher, dass das ein verheerendes Ergebnis für ihn ist, da er alles dafür getan hat, um das Rennen zu gewinnen. Dieser Kerl wird noch so viele Siege in Zukunft einfahren", prophezeit der 34-Jährige.
Für Mercedes steht außer Frage, dass Leclerc auf nicht absehbare Zeit eine ernste Gefahr darstellt und ein potenzieller WM-Kandidat ist. "Ich denke, wir haben immer schon erwartet, dass er eine Gefahr sein würde. Er hat ein großartiges Auto, die Fähigkeiten und den Charakter, um sehr erfolgreich zu sein", schildert Wolff die Gründe für seine Annahme.
Wolff: Leclerc bringt "großartige Voraussetzungen" mit
Leclerc zeichne laut dem Österreicher nicht nur seine Fähigkeit aus, schnell fahren zu können, sondern auch seine Persönlichkeit. "Er ist ein bescheidener junger Mann - und er ist sehr schnell. Diese Kombination aus puren Speed und seiner Persönlichkeit, diese Fähigkeit, seine Emotionen im Zaum zu halten - das sind großartige Voraussetzungen."
Für Wolff habe sich sein Charakter besonders in der Stunde seiner bislang wohl größten Niederlage deutlich gezeigt: "Ich weiß, dass andere Fahrer, in denen ebenfalls dieser Löwe steckt, in einer viel kontroverseren Art reagiert hätten. Sie wären über den dritten Rang wohl verärgert gewesen, und hätten das auch gezeigt. Das haben wir bei Charles nicht gesehen", macht er einen entscheidenden Unterschied aus.
Tatsächlich wirkte Leclerc nach dem Rennen zwar enttäuscht, aber gefasst und beherrscht. Denn insgeheim weiß der 21-Jährige, dass er eine fehlerfreie Leistung abgeliefert hat. Und das wird ihm von seinen größten Gegnern bestätigt. "Charles war unglaublich schnell das gesamte Wochenende über und er war in allen Sessions vorn mit dabei. Er hat den Sieg wahrlich verdient", kann sich Hamilton nach dem Rennen nur wiederholen. Er prophezeit Leclerc eine "wunderschöne, erfolgreiche Zukunft" und ist davon überzeugt, dass er aus dieser Niederlage nur stärker zurückkommen wird.
Ferrari-Teamduell: Wolff freut sich darauf
Teamkollege Valtteri Bottas, der ebenso von Leclercs Motorproblem profitiert hat, merkt an: "Ich musste mehr als 80 Rennen auf meinen ersten Sieg warten." Leclerc hätte dieses Kunststück fast in seinem 23. Grand Prix geschafft. "Charles hatte unheimlich viel Pech", kommentiert Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin. "Er hat alle mit seinem Speed und seiner Ruhe beeindruckt. Den Sieg ohne eigenes Verschulden auf diese Weise zu verlieren, muss sehr hart sein. Aber es scheint, als ob er nicht lange auf die nächste Gelegenheit wird warten müssen."
Auch Konkurrent Red Bull ist beeindruckt. Christian Horner spricht ebenso von einer "tollen" Leistung. "Er war das gesamte Wochenende über der dominierende Pilot. Leider hat er schließlich nicht das Ergebnis einfahren können, dass er sich erhofft hat. Ich bin sicher, es wird nicht lange dauern, bevor wir ihn da oben sehen", ist auch der Bullen-Teamchef davon überzeugt. "Eine wirklich beeindruckende Leistung von ihm."
Bei Ferrari hofft man darauf, dass die Vorhersagen der Rivalen eintreffen und Leclerc so schnell wie möglich zurückschlagen kann. "Ich hoffe, dass Toto recht hat", meint Teamchef Mattia Binotto auf die Aussagen von Wolff angesprochen, "solange Charles ein Ferrari-Fahrer ist." Der Österreicher sieht den zweiten Ferrari-Piloten bereits als WM-Anwärter. "Hoffentlich können wir das in Zukunft erreichen", antwortet der Italiener.
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In der Formel 1 gab es in der Vergangenheit viele Dramen in der letzten Runde Fotostrecke
Allerdings wird nun spannend sein, wie sich die Dynamik intern im Ferrari-Team entwickelt, glaubt der Mercedes-Boss. Man könne bereits nach zwei Rennen sehen, dass es eine Rivalität zwischen Vettel und Leclerc gibt. Schließlich hat der Monegasse sich einer Teamorder widersetzt. Als er in Runde fünf im Heck seines Teamkollegen fuhr, funkte er: "Ich bin schneller, Jungs!" Doch er sollte laut Teamradio von Ferrari noch zwei Runden hinter dem Deutschen bleiben.
Leclerc überholte Vettel dennoch in der nächsten Runde. Er habe einfach die Chance ergriffen, schilderte er später. Das ist auch Wolff nicht entgangen: "Ich bin sehr gespannt zu sehen, wie sich das entwickeln wird. Wir sind alle Racer und wollen daher gutes Racing sehen", weiß der Wiener genau, wie es sich anfühlt, wenn zwei starke Fahrer in einem Team gegeneinander fahren.
Nicht nur gegen seinen Teamkollegen wird sich Leclerc in seinem ersten Ferrari-Jahr durchsetzen müssen, sondern auch gegen die silberne Konkurrenz. Obwohl Hamilton meint: "Wir müssen hart arbeiten, damit wir mit ihm Schritthalten können." Dennoch hofft er auf harte Kämpfe gegen den Formel-2-Champion von 2017. Schließlich hatte er noch keine Gelegenheit auf der Strecke gegen Leclerc zu kämpfen.
Er gehe immer "mit einer gewissen Vorsicht" an Duelle gegen junge Fahrer heran, schildert Hamilton. Schließlich weiß er nicht, wie sie sich verhalten werden. "Ich hatte noch keine Zeit gegen ihn auf der Strecke, um das einschätzen zu können. Es sieht so aus, als wäre er ein sehr stabiler, fairer und ausgeglichener Fahrer", bescheinigt er Leclerc ein gutes Zweikampfverhalten. "Ich gehe daher gleich mit ihm um wie auch mit Sebastian." Hamilton ist sicher: Bald werde er herausfinden, wie sich Leclerc Rad-an-Rad verhält. "Hoffentlich werden wir uns ein paar Duelle liefern."