Mercedes: Freitag in Barcelona war der Wendepunkt
Wie es Mercedes gelang, in Melbourne die Konkurrenz zu demolieren, was das mit der Aero-Philosophie zu tun hat und wieso in Bahrain die Wahrheit ans Licht kommt
(Motorsport-Total.com) - Mercedes strafte beim Saisonstart in Melbourne alle Experten lügen, die die Niederlage der Silberpfeile und eine Machtdemonstration von Ferrari prognostiziert hatten. Doch warum hat sich das Bild der Barcelona-Testfahrten im Albert Park nicht widergespiegelt? Hat Mercedes geblufft, Ferrari starkgeredet und die Öffentlichkeit auf eine falsche Fährte gelockt?
"Ich bin immer von einem Dreikampf ausgegangen, also vielleicht habt ihr es falsch verstanden", schmunzelt Lewis Hamilton, der trotz eines demolierten Unterbodens hinter Valtteri Bottas Zweiter wurde, in Richtung der Journalisten. "Auch wir haben wirklich geglaubt, dass wir leicht hinter Ferrari liegen, als man uns die Testbilanz gezeigt hat. Laut unserer Analyse waren wir hinter ihnen, ganz ehrlich! Wie haben auch nichts am Auto geändert, haben keine Updates gebracht."
Was war also dann der Grund, dass Mercedes plötzlich den Dreh heraußen hat? "Wir wissen jetzt, was wir tun müssen, damit wir schnell sind, und verstehen unser Auto besser", erklärt Hamilton. Der Knackpunkt war offenbar das Finale der Testfahrten in Barcelona, als Mercedes plötzlich auf Augenhöhe mit der Scuderia agierte.
So schaffte Mercedes die Wende
"Das war der Freitag in Barcelona", verweist Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff auf den letzten Tag der zweiten Testwoche. "Wir haben mit dem Auto wirklich herumexperimentiert, um zu verstehen, wann es performt und wie es am besten performt. Am Freitag sind wir dann erstmals mit wenig Benzin gefahren, und da hat das Auto gepasst. Da waren wir gleich schnell wie Ferrari und hatten das Gefühl, dass es von nun an vorangehen wird."
Der Schlüssel sei gewesen, ausgehend von einem Basis-Set-up stets eine Änderung zu machen, dann wieder zurück zu gehen und eine andere Änderung zu machen, um sich nicht zu verirren. "Wir haben einfach versucht, uns nicht von den Rundenzeiten der anderen ablenken zu lassen." Das müsse man Fahrwerksleiter Loic Serra und Chefingenieur Andrew Shovlin und ihren Teams "anrechnen".
Welche Rolle spielte der Kurs in Melbourne?
"Der Vorsprung hat uns dann schon überrascht - und vor allem, dass Ferrari gar keine Pace hatte", gibt Wolff zu. "Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen. Vielleicht haben sie sich beim Set-up verzettelt und wir haben es richtig gemacht, denn sie sind dichter bei den anderen Teams, als sie eigentlich sein sollten." Man könne noch nicht einschätzen, ob der Saisonauftakt "ein Ausreißer" sei, "weil Melbourne einfach anders ist", wirft der Österreicher ein. Auch Technikchef Allison pflichtet Wolff bei: "All das bedeutet nicht, dass es beim nächsten Rennen genauso sein wird."
Tatsächlich handelt es sich beim Circuit de Barcelona-Catalunya um eine topfebene Strecke mit hauptsächlich mittelschnellen bis schnellen Kurven, während der Straßenkurs im Albert Park über viele Bodenwellen und vor allem langsame und mittelschnelle Ecken verfügt. "Wenn wir uns die GPS-Daten anschauen, dann machen es vor allem die mittelschnellen Kurven aus", fällt Bottas auf.
Frontflügelkonzept als Ansatzpunkt
Gut möglich, dass der Hund im aerodynamischen Konzept begraben ist. Denn während Mercedes trotz der Reglementänderungen voll auf Abtrieb an der Vorderachse setzt, bemühte man sich bei der Scuderia ähnlich wie bei Alfa Romeo darum, mittels nach außen abfallender Flaps die Luft um die Vorderräder herumzuleiten und verzichtete dafür auf Abtrieb.
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Das mag sich auf schnellen Kursen, auf denen aerodynamische Effizienz gefragt ist, halbwegs rentieren, doch auf langsamen Kursen könnte die Mercedes-Philosophie die bessere Lösung sein. Und das, obwohl Experten noch in Barcelona davon ausgegangen waren, dass die Silberpfeile einen cleveren Trick übersehen haben und während der Saison nachbessern müssen.
Unterschiedliche Aerodynamik für unterschiedliche Kurse?
"Obwohl wir nicht bei der Pace waren, haben wir uns nicht aus der Ruhe bringen lassen und haben uns dazu entschieden, bei unserer Philosophie zu bleiben", lobt Wolff das Selbstvertrauen seiner Technikabteilung. Das sei allerdings eine Gratwanderung: "Man muss aufgeschlossen und gleichzeitig demütig bezüglich des eigenen Konzepts sein. Aber gleichzeitig muss man auch konsequent den Weg verfolgen, den man für den richtigen hält."
Zudem schließt er nicht aus, dass die Charakteristik des Kurses diesbezüglich eine entscheidende Rolle spielen kann und auch die Mercedes-Philosophie möglicherweise seine Schwächen hat: "Man wird vielleicht verschiedene aerodynamische Teile in Abhängigkeit von der Strecke in diesem Jahr sehen."
Wolff glaubt nicht an grundlegenden Fehler beim Ferrari
Die Silberpfeile seien in diesem Punkt "nicht dogmatisch, was unsere Philosophie betrifft. Wenn uns eine andere Richtung ein schnelleres Auto bringt, machen wir es so." Das sei aber "im Moment nicht der Fall".
Hat aber möglicherweise Ferrari bei der Philosophie einen grundlegenden Fehler gemacht? "Ich glaube nicht, dass sie ein grundlegendes Problem mit der Pace des Fahrzeugs haben", antwortet Wolff. "Ich gehe einfach davon aus, dass sie da irgendwo falsch abgebogen sind." Das habe auch damit zu tun, dass die Boliden noch neu sind und es noch nicht genügend Erfahrungswerte gebe: "Man hat nur zwei Tage, um an den richtigen Stellschrauben zu drehen."
Schon das kommende Rennen in Bahrain könnte diesbezüglich Aufschlüsse geben, weil der Wüstenkurs eine komplett andere Charakteristik hat. "Es ist ein anderer Asphalt - sehr rau - und es wird sehr warm", vergleicht der Mercedes-Motorsportchef den Bahrain International Circuit mit dem Albert Park. "Ich denke, wir werden einige Unterschiede in der Performance der einzelnen Teams feststellen."
Bahrain wird die Antwort liefern
Man darf gespannt sein, wie sich diese Aspekte auf die Reifen auswirken werden, denn wenn es dem Ferrari, der in Melbourne mit auffallend steilen Flügeln unterwegs war, durch die Frontflügel-Philosophie tatsächlich an Abtrieb fehlt, dann könnte das auf dem glatten Asphalt in Melbourne dazu geführt haben, dass man kaum Temperatur in die Pneus bringt. In Bahrain sollte das kein Thema sein.
Bei Mercedes hütet man sich also trotz des Auftakts nach Maß in Melbourne, schon jetzt vom sechsten Titel in Folge und damit vom Weltrekord zu träumen. "Ich glaube, dass diese WM genauso hart umkämpft sein wird wie im Vorjahr", bestätigt Wolff. "Nur weil wir einen sehr guten Freitag und einen sehr guten ersten Samstag in Melbourne hatten, bedeutet das noch lange nicht, dass das ein Spaziergang in der WM wird."
Wichtig sei es, stets auf der Hut zu sein, wie der selbsternannte Zweckpessimist betont: "Ich glaube, dass wir uns maximal strecken müssen, dass wir keinen Stein auf dem anderen lassen dürfen. So, wie wir das nach dem Barcelona-Test schon gemacht haben, um in Melbourne so konkurrenzfähig zu sein."