Mercedes wortbrüchig: Valtteri Bottas hatte Erlaubnis zu gewinnen
Welche verzwickten Umstände zur Mercedes-Stallregie führten und wieso Toto Wolff seine Zusage, Valtteri Bottas gewinnen zu lassen, über den Haufen warf
(Motorsport-Total.com) - Für Mercedes-Sportchef Toto Wolff fühlt sich die Entscheidung, Lewis Hamilton seinen Sieg beim Russland-Grand-Prix am Sonntag mit einer Teamorder zugeschustert zu haben, "nicht richtig" an. Schließlich wurde er mit der Aktion gegenüber seinem zweiten Piloten Valtteri Bottas wortbrüchig.
Wolff räumt nach dem Rennen in: "Wir hatten es in der Früh diskutiert und gesagt: 'Wenn du vorne in Führung liegst, fahren wir es so zu Ende.'" Entsprechend agierte Mercedes zu Anfang, als man Bottas als ersten seiner beiden Piloten an die Box holte, um seinen Sieg gegen den Undercut eines Konkurrenten - auch Hamiltons - abzusichern. Es wäre einfach gewesen, hier dezent einzugreifen.
Alles ging seinen Gang. Und doch kam alles anders. Eine Blase an Hamiltons Hinterreifen und die Gefahr, dass Sebastian Vettel ihn überholt, bewogen die Verantwortlichen zum Umdenken. Plätze tauschen und den Titelkandidaten abschirmen, lautete plötzlich die Devise. Ironie der Geschichte: Besagte Blase war nur deshalb entstanden, weil Mercedes Hamilton eine Runde zu spät reingeholt hatte und er hinter Vettel zurückgefallen war. Er musste daher mit frischen Reifen voll attackieren.
Wolff lässt durchblicken, dass Mercedes einen ungefährdeten Doppelsieg in der Reihenfolge Bottas-Hamilton tatsächlich hätte laufen lassen. Nicht aber ein Szenario, bei dem der Finne auf Kosten von Hamiltons zweitem Platz - und von WM-Punkten im Duell mit Vettel - gewinnt. "Es ging darum, auf die Meisterschaft zu schauen und unpopulär zu entscheiden", erläutert Wolff. Gesagt, getan.
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Nicht ohne Gewissensbisse wegen Bottas - einem Piloten, den Wolff schon als Teenager förderte und zu dem ihn eine persönliche Freundschaft verbindet. "Es fühlt sich nicht richtig an, aber vielleicht muss man in diesen Situationen langfristig denken", hadert Wolff wohl wissend, dass er sich auf dünnes Eis begeben hat. Nach der "Wing-Man"-Affäre scheint das Verhältnis erneut belastet.
Hinzu kommt, dass Bottas nach dem Platztausch weiter davon ausging, gewinnen zu dürfen. Absprache war ja Absprache. Er wartete nur darauf, dass Hamilton zurückgepfiffen würde, zumal er aus dem Cockpit erkannt hatte, dass die Bläschenbildung auf den Reifen des Schwesterautos "nicht mehr so schlimm" war. Der Brite selbst dachte nicht daran, aus freien Stücken - wie noch 2017 in Ungarn - Platz zu machen. "Ich wollte mein Auto einfach nur nach Hause bringen", sagt er.
Die Hiobsbotschaft überbrachte schließlich Renningenieur Tony Ross - kurz vor Ende, als Bottas bereits dämmerte, welches Spiel Mercedes spielt. "Ehrlich gesagt habe ich die Situation schon verstanden", räumt er ein. Klar, vor ihm war der WM-Kandidat, hinter ihm dessen schärfster Rivale.
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"Es ist für einen Fahrer ernüchternd und es ist für das Team ernüchternd", knurrt Wolff, "aber es gibt eine harte Realität, die besagt, dass man einen Vorsprung an einem Tag um sieben Punkte ausbauen kann ..." Es belastet sein schlechtes Gewissen zusätzlich, dass Bottas nicht ansatzweise unter dem Druck Hamiltons stand, als er ohne Murren und Zögern die Führung herschenkte. "Das macht das Gefühl noch schlimmer", findet Wolff und nennt Bottas einen "unglaublichen Teamplayer".
Und Hamilton? Er tut sich mit der Stallregie schwer, zumal er selbst von ihr überrascht wurde. Als Mercedes ihm den Platztausch im Funk ankündigte, bat er darum, dass Bottas das Tempo erhöhen sollte, damit er sich selbst Luft auf Vettel verschaffen kann. "Ich wollte das nicht", betont Hamilton. "Ihn zu überholen, fühlte sich nicht gut an. Ich wusste aber nicht, wie der Plan am Ende aussieht." Bottas sei ein echter Gentleman, lobt er. "Normalerweise wäre ich glücklich, aber ich kann verstehen, wie schwierig es für Valtteri war. Er hätte den Sieg verdient gehabt."