Renault-Skandal erklärt: Deshalb schied das Team in Q2 absichtlich aus
Wie Antriebsstrafen, Reifenregeln und ein zu langsames Auto in Sotschi eine Posse heraufbeschworen - Alonso hat Mitleid mit Fans: "Formel 2 am unterhaltsamsten"
(Motorsport-Total.com) - Als die Ampel für den zweiten Abschnitt zum Qualifying für den Russland-Grand-Prix (Formel 1 live im Ticker!) auf Grün sprang, war die Messe bereits gelesen: 15 Autos waren noch in der Verlosung um den Einzug in das Schlusssegment, doch nur zehn davon rollten überhaupt auf die Strecke. Es braucht kein Diplom in Mathematik um sich auszurechnen, dass niemand ausscheiden konnte. "Bizarr" nennt Mercedes-Sportchef Toto Wolff die Situation. Doch wie konnte es dazu kommen?
Bei den Red-Bull-Piloten Max Verstappen und Daniel Ricciardo sowie bei Toro-Rosso-Fahrer Pierre Gasly ist die Sache schnell erklärt: Sie hatten schon am Freitag Antriebskomponenten getauscht und Strafen kassiert. Es war klar, dass sie das Rennen vom Ende der Startaufstellung in Angriff nehmen müssen - egal wo sie sich qualifizieren. Also lautete die Devise: Reifen sparen, Motor schonen.
Bei Renault ist die Sache kniffliger. Nico Hülkenberg und Carlos Sainz legten es darauf an, Elfter und Zwölfter (unter Nicht-Berücksichtigung der bestraften Piloten) zu werden. Ihre Wunschpositionen waren ihnen garantiert. Der Clou daran: Im Gegensatz zu den Top 10, die mit den gebrauchten Pneus aus Q2 losfahren müssen, genießen die Gelben nun am Rennstart die freie Reifenwahl.
In Sotschi ist das besonders vorteilhaft: Der Hypersoft, den alle Mittelfeld-Teams nutzten, um in das Q3 einzuziehen, hält wohl nur wenige Runden. Renault fährt im Rennen also auf frischen Ultrasoft oder Soft eine Weile hinterher und wartet, bis nach der ersten Serie der Stopps die Bahn frei ist. Im Idealfall spart es einen Reifenwechsel - sofern die anderen zur Zweistopp-Taktik gezwungen sind.
Warum Haas, Force India und Sauber den Braten nicht rochen und sich mit einer Alibi-Zeit auf Ultrasoft oder Soft unter die Top 10 schoben, bleibt ihr Geheimnis. Unvorhersehbar war Renaults Poker nicht. "Es war sogar schon länger ein Thema", sagt Teamchef Cyril Abiteboul über das gezielte Qualifizieren auf Rang elf und zwölf. Jedoch gab es nie eine Situation, in der es nicht große Risiken gegeben hätte. Die Antriebsstrafen bei Red Bull und Toro Rosso änderten aber die Vorzeichen.
Hinzu kam, dass Renault ohnehin nicht damit rechnete, in Q3 einzuziehen - und wenn doch, dann wäre im Schlusssegment wohl kein Konkurrent mehr zu schlagen gewesen. Abiteboul behauptet: Wenn Platz fünf drin gewesen wäre, hätte er Hülkenberg und Sainz auf die Strecke geschickt.
Dass die Aktion nun kontrovers diskutiert wird und Renault unterstellt wird, die Fanfreundlichkeit der Formel 1 zu torpedieren, versteht er nicht: "Es mag merkwürdig sein, freiwillig nicht sein Bestes zu geben. Aber meiner Meinung nach ist es ein Spiegelbild der aktuellen Regeln mit den Antriebsstrafen und den Startreifen. Wenn überhaupt alarmiert es diejenigen, die die Regeln machen."
Fotostrecke: Die zehn denkwürdigsten F1-Regeländerungen
#10: Fahren dürfen nur die Hinterbänkler - Sie ist der große Trumpf der Williams-Mannschaft. Doch nicht nur deshalb will die FIA der aktiven Radaufhängung beim Kanada-Grand-Prix 1993 einen Riegel vorschieben. Die fortschrittliche, aber unglaublich kostenintensive Technik wird von den Kommissaren bei der technische Abnahme als Fahrhilfe eingestuft und bei allen Teams für nicht-regelkonform befunden worden. Gleiches gilt für die Autos, die auf eine Traktionskontrolle setzten. Hintergrund: Die Systeme beeinflussen hydraulisch die Aerodynamik respektive entziehen dem Piloten teilweise die Kontrolle über den Vortrieb. Es entsteht die Drohkulisse, dass die Scuderia-Italia-Hinterbänkler Michele Alboreto und Luca Badoer die einzigen Starter in Montreal sind. Das Verbot wird bis Anfang 1994 aufgeschoben, dann aber durchgesetzt. Fotostrecke
Toto Wolff widerspricht: "Ich habe gesehen, dass fünf Autos nicht gefahren und mir gedacht: 'Das kann nicht gut sein!'" Als Argument für die Abschaffung der begrenzten Motorenkontingente - wie Abiteboul es sportpolitisch vorteilhaft darstellen will - sieht der Mercedes-Sportchef den Vorfall nicht. Es müsse immer noch Vorrang genießen, die Kosten im Zaum zu halten, betont er.
Auch McLaren-Sportchef Gil de Ferran wehrt sich dagegen, das aktuelle Qualifying-Format nach vielen Experimenten in der Vergangenheit zu verändern. "Das Format gehört zu denen, die mir am besten gefallen", sagt er. "Das Wichtigste ist, dass am Ende der Schnellste auf Pole steht. Und dieses Format ist das beste, um das zu bestimmen." Denn Reifenwahl, Spritmenge und wechselnde Wetterverhältnisse spielen in Q3 keine Rolle - in Q2 aber schon, wie sich nun gezeigt hat.
Und die Fahrer? Nico Hülkenberg findet die Aktion logisch, sie schmeckt ihm aber trotzdem nicht: "Es war einfach nur langweilig", unkt er. Auch Carlos Sainz trauert dem verpassten Q2 hinterher: "Für mich ist das Qualifying immer das Schönste, weil man die 2018er-Autos einfach an ihr Limit bringen will." Die deutlichsten Worte findet McLaren-Pilot Fernando Alonso, der sich an die Fans wendet: "Man sollte sie fragen, ob sie ein überflüssiges Q1 wollen oder so ein Q2. Aber zumindest hatten sie am Formel-2-Rennen Spaß. Das war heute noch am unterhaltsamsten."