Rennvorschau Montreal: Mercedes-Spielverderber Hypersoft?
Mercedes will sich in Montreal nach Monaco rehabilitieren: Wieso der Hypersoft-Reifen das Zünglein an der Waage ist und welchen Rekord Lewis Hamilton jagt
(Motorsport-Total.com) - Eigentlich ist der Circuit Gilles Villeneuve eine Mercedes-Strecke, wie Lewis Hamiltons drei Siege in den vergangenen drei Jahren beweisen. "Für unser Auto ist diese Strecke besser als Monaco", bestätigt auch Silberpfeil-Pilot Valtteri Bottas. Und auch Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin weiß, dass der schnelle Stop-and-Go-Kurs auf der Ile de Notre Dame dem F1 W09 besser entgegenkommen sollte als die engen Gassen von Monte Carlo: "Wir hatten im Vorjahr ein hartes Wochenende in Monaco und sind in Montreal dann ein paar Tage später Erster und Zweiter geworden."
Steht damit also bereits so gut wie fest, dass Mercedes im derzeit ausgeglichenen Siegduell mit Ferrari und Red Bull in Kanada (Formel 1 2018 live im Ticker) die Führung übernehmen wird und einen dritten Saisonsieg einfährt? Keineswegs, denn dieses Jahr gibt es einen Faktor, der bei den Ingenieuren in Brackley die Köpfe rauchen lässt: die neue Hypersoft-Mischung von Pirelli.
Die weichste Mischung im Kontingent des italienischen Reifenherstellers hat eine neue Schwäche des F1 W09 offenbart. "Andere Teams sind in den Longruns mit dem Hypersoft-Reifen besser zurechtgekommen als wir", bestätigt Bottas, der wie Hamilton beim Monaco-Grand-Prix an Graining und einem starken Reifenabbau litt.
Das Mercedes-Problem: In Montreal wird überholt
Die Konsequenzen hielten sich aber in Grenzen, weil Überholmanöver in den Häuserschluchten des Fürstentums ohnehin so gut wie unmöglich sind. "Die Reifen werden auch in Montreal eine wichtige Rolle bei der Strategie spielen, und anders als in Monaco, kann man dort überholen", warnt Shovlin, der weiß, dass es in Montreal eine dritte DRS-Zone gibt. "Wenn du also in Montreal Tempo verlierst und die Reifen stark abbauen, dann werden dich die anderen sehr einfach überholen. Deshalb arbeiten wir hart, um unsere Schwächen zu verstehen."
"Wir müssen aber vorbereitet sein, falls wir in Q2 nicht in der Lage sind, einen anderen Reifen als de Hypersoft zu wählen", fordert Bottas von seinem Team Überstunden. Und auch Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff weiß: "Wenn wir an diesem Wochenende ganz vorne landen möchten, müssen wir sicherstellen, dass wir aus allen Reifenmischungen das Beste herausholen, auch auf dem Hypersoft."
Hamilton jagt Michael Schumachers Rekord
Die Reifen könnten in Montreal alles auf den Kopf stellen - das hält sogar Pirelli-Manager Mario Isola für möglich. "Wir fahren dieses Jahr mit den weichsten Reifen, die wir je für Kanada nominiert haben", betont der Italiener, der Montreal wegen des für die Reifen wenig fordernden Monaco-Layouts als wahre Premiere für den Hypersoft-Pneu sieht. "Tatsächlich weiß aktuell niemand genau, wie er in Kanada hinsichtlich Abrieb und Verschleiß abschneiden wird."
Im direkten Mercedes-Duell ist in Kanada ganz klar Hamilton zu favorisieren, denn der Brite gilt mit seinen sechs Siegen auf der Ile de Notre Dame - nur Michael Schumacher hat mit seinen sieben Triumphen öfter gewonnen - als absoluter Montreal-Spezialist. Das liegt auch daran, dass die Bremsen auf dem Kurs eine besonders große Rolle spielen. Und harte Bremsmanöver gelten als absolute Spezialität des viermaligen Weltmeisters.
Batterie-Affäre: Wie wirkt sich die neue Ferrari-Software aus?
Aber auch der Motor spielt in Kanada wegen der langen Geraden eine große Rolle. Daher wird Ferrari nicht nur unter besonderer Beobachtung der FIA stehen, sondern auch von Mercedes. Nach den Vorwürfen, das Team von Sebastian Vettel würde mehr Leistung als die erlaubten 160 PS aus der Batterie freimachen, muss man in Montreal eine neue Software einsetzen. Man darf gespannt sein, wie sich das auf der Power-Strecke auswirken wird.
Im Reifenpoker sollte Ferrari aber mit dem gutmütigen und flexiblen SF71H gut aufgestellt sein. Ein Sieg wäre auch psychologisch wichtig für Vettel, der nach dem starken Saisonstart im WM-Kampf etwas ins Hintertreffen geraten ist und 14 Punkte hinter Leader Hamilton liegt.
Nach Monaco-Sieg: Muss Ricciardo von ganz hinten starten?
Auch Monaco-Sieger Red Bull wähnt sich vor Kanada in einer guten Ausgangslage. "Beim Reifenverschleiß waren wir in Monaco besser als die Konkurrenz, und das könnte uns auch in Montreal helfen", hofft Daniel Ricciardo. Dazu kommt, dass der RB14 beim Bremsen stabil ist und eine hervorragende Traktion hat - beides Dinge, die in Montreal extrem wichtig sind.
Doch ausgerechnet Ricciardo, der 2014 in Montreal seinen ersten Sieg feierte, geht mit einem großen Handicap in das Wochenende: Da die MGU-K entgegen anderslautender Meldungen bei seiner heroischen Triumphfahrt im Fürstentum nun doch beschädigt wurde, muss der "Aussie" bereits die dritte Elektromaschine in dieser Saison einbauen lassen - und erhält damit die erste Gridstrafe.
Ricciardo wird also um mindestens zehn Startplätze zurückversetzt. Ob es noch weiter nach hinten geht, hängt laut Red-Bull-Stardesigner Adrian Newey "davon ab, ob in Monaco auch die Batterie beschädigt wurde oder nicht. Bis wir das von Renault erfahren, wissen wir nicht genau was uns blüht". Für jede weitere Komponente würde Ricciardo übrigens weitere fünf Plätze verlieren.
Newey: Renault-Update bringt nur ein Zehntel
Auch bei Max Verstappen wird in Montreal übrigens die Antriebseinheit getauscht. Der zuletzt heftig kritisierte Niederländer sollte aber im Gegensatz zu Ricciardo vom geplanten Tausch profitieren, denn Renault bringt das heißersehnte Motoren-Update nach Kanada. Zu hoch sollte Verstappen seine Erwartungen aber auch nicht ansetzen, wenn man Newey glaubt: "Wir rechnen mit einem Prozent mehr Leistung, was eine Zehntelsekunde ausmacht."
Bei Verstappen wird es aber ohnehin darum gehen, sich nach den vielen Kollisionen der vergangenen Rennen aus allen Scharmützeln herauszuhalten und so die Kritiker zum Verstummen zu bringen. "Hoffentlich erreiche ich ein solides Ergebnis", gibt er sich kleinlaut, während Teamchef Christian Horner fordert: "Er muss jetzt den Reset-Knopf drücken - eine veränderte Herangehensweise würde ihm gut tun."
Keine Wetterkapriolen erwartet
Ein guter Tipp, denn Montreal gilt ohnehin als Strecke, auf der jeder kleinste Fehler in der Mauer endet. Safety-Car-Phasen sind also jederzeit möglich. In der Vergangenheit spielte auch das Wetter schon oft verrückt. Dieses Jahr sollte es aber trocken bleiben: Während bis Donnerstag Regenschauer möglich sind, deutet die Wetterprognose für Training und Rennen auf Sonnenschein und Höchstwerte um die 20 Grad hin.
Wie viele Boxenstopps in Montreal zu erwarten sind, ist derzeit noch fraglich. Pirelli-Manager Isola prognostiziert aber: "Wir sollten mehr als einen Boxenstopp pro Fahrer sehen." Im Kampf um den Titel "Best of the Rest" hofft diesmal vor allem das Haas-Team auf ein Comeback. Die US-amerikanische Truppe erlebte in Monaco ein rabenschwarzes Wochenende, möchte aber wieder so stark wie in Barcelona auftreten, als man schneller als Renault und McLaren war.
Dafür soll auch das große Update an Frontflügel, Unterboden und Luftleitblechen sorgen. "Viele Teams haben ihre Updates in Spanien eingesetzt, aber wir haben uns dafür entschieden, sie erst in Kanada einzuführen, damit wir etwas mehr Zeit haben", erklärt Teamchef Günther Steiner die Herangehensweise. Der FV-18 sollte auf dem Circuit Gilles Villeneuve deutlich besser funktionieren als auf dem langsamen Stadtkurs von Monaco - wie bei Mercedes wird aber viel davon abhängen, ob man mit dem Hypersoft-Reifen zurechtkommt.
Sauber als Geheimtipp
Bei Renault hofft man wie bei Red Bull auf das Antriebs-Update, zudem hat das Team von Nico Hülkenberg aber auch einige neue Teile mit dabei. Bei McLaren wird sich zeigen, ob endlich der neue Frontflügel auch in Qualifying und Rennen eingesetzt wird. Und bei Toro Rosso wartet man gespannt auf das Honda-Antriebsupdate, das den STR13 weiter nach vorne bringen soll.
Aufpassen sollte man auf jeden Fall auch auf das Sauber-Team. "Ich rechne damit, dass Montreal eines unserer besten Rennen des Jahres wird", meint Überraschungsmann Charles Leclerc, der ohne sein Bremsversagen in Monaco nach Baku und Barcelona auch bei seinem Heimrennen womöglich gepunktet hätte.