"Mit zehn Bier": Wie Bottas den verlorenen Baku-Sieg verdaut
Mercedes-Pilot Valtteri Bottas sah bis zwei Runden vor Rennende durch eine clevere Strategie wie der sichere Sieger aus - Ein loses Teil schlitzte den Hinterreifen auf
(Motorsport-Total.com) - Näher könnten Freud und Leid bei Mercedes an diesem Rennsonntag (Live im Ticker!) nicht beisammen liegen. In der einen Garagenhälfte der etwas überraschte Grand-Prix-Sieger Lewis Hamilton, der damit die WM-Führung übernimmt. Auf der anderen der unglückliche, große Verlierer des Baku-Rennens: Valtteri Bottas. Der Finne sah bis Runde 49 wie der sichere Grand-Prix-Sieger aus. Er sollte den Silberpfeilen den ersten Triumph in dieser durchwachsenen Saison bescheren. Doch ein Reifenschaden ruiniert jegliche Träume.
"Valtteri hätte den Rennsieg verdient heute", stellt Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff nach der Siegerehrung klar. "Es ist ein bisschen bittersüß. Er ist wirklich stark gefahren das ganze Rennen über", so der Österreicher, dem am Ende eines dramatischen Rennens fast die Worte fehlen. Denn zuerst sah alles nach einer klaren Angelegenheit für Sebastian Vettel aus, später fast nach einem Doppelerfolg für die Silbernen.
Bottas selbst zeigt sich nach dem Rennen sehr frustriert. "Vielleicht brauche ich jetzt einfach zehn große Bier und danach geht es mir besser", beweist er sogar in dieser schwierigen Stunde noch Humor. "Einfach volllaufen lassen", antwortet der Finne an anderer Stelle auf die bohrenden Fragen der TV-Journalisten. Weitere Medientermin wurden am Abend von Mercedes ob der Verfassung des Finnen übrigens gestrichen. Womöglich ist er bereits auf der Suche nach dem nächstgelegenen Pub ...
Bottas fährt längsten Supersoft-Stint
Was war im Baku-Rennen passiert? Am Start konnten sich die Mercedes-Piloten auf dem Supersoft aus den Scharmützeln heraushalten. Sowohl Hamilton als auch Bottas erwischten einen soliden Start, Vettel an der Spitze konnten die Silberpfeile aber nicht angreifen. In der ersten Safety-Car-Phase gleich nach dem Start fand sich Bottas hinter seinem Teamkollegen auf Platz drei ein.
In den ersten Runden nach dem Restart hielt der Finne einen konstanten Abstand von rund drei Sekunden auf Hamilton, der in dieser Phase der eindeutig schnellere Mercedes-Pilot war. Bottas verlor etwas Boden auf die Führenden, sein dritter Platz war aber mit rund 15 Sekunden nach hinten abgesichert. Nachdem Hamilton in Runde 22 und Vettel schließlich in Runde 30 zum Reifenwechsel (beide auf Soft) anhielten, übernahm der Finne die Führung.
Bottas quetschte seine roten Supersofts aus und wartete an der Spitze liegend auf eine Gelegenheit, um möglichst wenig Zeit durch den Boxenstopp zu verlieren. Der Schlüsselmoment ereignete sich schließlich in Runde 39, als sich die Red-Bull-Teamkollegen Daniel Ricciardo und Max Verstappen gegenseitig ins Aus beförderten - die Chance für Bottas! Und die Mercedes-Boxencrew wartete keine Sekunde länger, Bottas ging in der zweiten Safety-Car-Phase an die Box, sparte dadurch Zeit und holte sich gebrauchte Ultrasofts. Er kam an der Spitze wieder auf die Strecke zurück und führte das Feld hinter Bernd Mayländer schließlich an.
Auch ohne Safety-Car zum Rennsieg?
"Die Strategie war eher Learning by doing, weil man bei den Reifen nie weiß, wie sie sich verhalten", erklärt Wolff nach dem Rennen, angesprochen auf den langen ersten Stint von Bottas auf Supersoft (40 Runden). "Er wurde einfach immer schneller und schneller. Er hätte bis zum Ende durchfahren können." Bottas bestätigt: "Zu Beginn des Rennens hatte Ferrari eine schnellere Pace, danach waren wir aber nicht so schlecht dabei. Am Ende meines ersten Stints konnte ich noch sehr schnell und länger fahren. Wir sind lange draußen geblieben, um auf ein Safety-Car zu warten."
Und der Österreicher verrät auch, dass es den Red-Bull-Crash nicht unbedingt gebraucht hätte: "Es war eine kleine Chance da, dass wir das Rennen auch mit einer normalen Strategie gewinnen hätten können. Beim Abstand von Sebastian hat nicht mehr viel gefehlt und wir wären sowieso auf den Ultrasoft gegangen."
Dennoch habe man bereits vor dem Rennen mit der Möglichkeit eines Boxenstopps unter Safety-Car spekuliert: "Wir haben das bereits vorher in unserem Strategiemeeting besprochen. Je länger wir auf der Strecke bleiben, je größer wird die Chance auf ein Safety-Car. Und das ist dann auch passiert."
Bottas: "Wusste nicht, dass ich über das Teil gefahren bin"
Beim Restart vier Runden vor Rennende konnte Bottas seine Führung deutlich behaupten. Vettel ging ein Angriffsmanöver gegen den Finnen zu aggressiv an, musste mit blockierenden Reifen weit rausfahren in Kurve 1. Von dem Fahrfehler profitierten Hamilton und Räikkönen, die den Deutschen überholen konnten. Somit erbte der Brite Platz zwei und Mercedes ging in der Schlussphase in Doppelführung.
Allerdings sollte der erste Saisonsieg für Valtteri Bottas noch nicht in trockenen Tüchern sein: Zwei Runden vor Rennende löste sich plötzlich in der Anfahrt auf Kurve 1 der rechte Ultrasoft-Hinterreifen auf. Ursache dafür: "Am Restart ist er weggezogen und über dieses große Teil drübergebrettert. Das tut mir einfach total leid", so Wolff. Ein loses Teil eines anderen Fahrzeuges lag auf der langen Geraden, Bottas hat dieses bei voller Fahrt hart getroffen. In weiterer Folge schlitzte dieses Teil seinen Hinterreifen auf. "Ich wusste zu keinem Zeitpunkt im Rennen, dass ich über ein Teil gefahren bin. Ich habe nichts gespürt oder gesehen", schildert der Betroffene.
Mercedes-Team-Aufsichtsratsvorsitzender Niki Lauda ärgert sich ebenfalls sehr über das Missgeschick, dass Mercedes einen Doppelerfolg kostete: "Für Bottas war das ein Desaster. Valtteri hätte das Teil vielleicht sehen können." Der Österreicher ist besonders sauer auf die Streckenposten: "Das Safety-Car war so lange draußen, da frage ich mich schon, warum das niemand beseitigt hat." Jedenfalls treffe seinen Fahrer keine Schuld. "Er hätte das Rennen ganz einfach nach Hause fahren können nach dem Restart", ist der dreifache Weltmeister überzeugt.
Hamilton hat Mitleid mit Bottas
Teamchef Wolff war von Bottas' Verhalten beim Restart beeindruckt: "Er ist auch nach dem Restart gut weggekommen. Er war clever mit dem Sebastian, als er gesehen hat, dass er sich verbremst hat." Allerdings scheint die Dominanz der Silberpfeile endgültig zu Ende zu sein, denn Vettel konnte sich auf Start-Ziel im Windschatten an das Heck des Finnen heransaugen, bevor er den folgenschweren Fehler in Kurve 1 beging. Wolff dazu: "Als die Ferrari-Power einsetzte, war sein Vorsprung schon wieder weg."
Auch Bottas-Teamkollege Hamilton hat Mitleid mit dem Finnen. Im Ziel war der Brite sichtlich aufgewühlt, der Sieg fühle sich "komisch" an. "Valtteri hat einen außergewöhnlichen Job gemacht heute. Er hätte den Sieg wirklich verdient", zollt ihm der Weltmeister Respekt. Trost wird der Pechvogel von seinem Teamchef erwarten können: "Ich werde ihn einfach in den Arm nehmen."
Denn nach einem schwierigen Saisonstart mit dem Qualifying-Crash in Melbourne kämpfte sich der 28-Jährige zuletzt mit zwei zweiten Plätzen stark zurück. Schon in China sah Bottas wie der sichere Sieger aus, bevor eine Safety-Car-Phase all seine Hoffnungen zerstörte, in Baku erlebte er nun den nächsten Rückschlag. Wolff ist überzeugt: "Ich denke, dass sich im Moment nur Daniel und Max noch schlechter fühlen dürften als er. Der Sieg hätte ihm gehört."
"Kleines Teil kann gesamtes Rennen zerstören"
Wie wird der Finne diese Schlappe nun verdauen? Etwa mit finnischem Wodka, wie eine Reporterin anmerkt? "Ja", lacht der Unglücksrabe. "Es ist schwierig, etwas darüber zu sagen. Es war einfach Pech. Ich werde das schon überstehen, man muss es ja immer irgendwie schaffen. Das ist einfach Teil des Racings, aber im Moment ist es natürlich sehr schmerzhaft. Ein kleines Teil kann dein gesamtes Wochenende zerstören. Positiv ist, dass wir eine bessere Pace heute hatten, als wir erwarten durften."
Bottas hat gespürt, dass sein erster Saisonsieg bald fällig sein würde, nachdem er in den vergangenen Rennen bereits nahe daran vorbeigeschrammt ist. "Für das Team ist es gut, dass Lewis heute gewonnen hat. Das sind gute Punkte. Ich muss es einfach in zwei Wochen wieder probieren." In der Fahrer-WM liegt Bottas nur noch auf Rang vier, 30 Zähler hinter dem neuen Führenden Hamilton.