Longrun-Analyse Baku: Ist Red Bull wirklich so überlegen?
Red Bull dominiert die Longruns in Aserbaidschan, während Lewis Hamilton ratlos ist - Überraschungsmann, mit dem keiner gerechnet hatte, bärenstark
(Motorsport-Total.com) - Geht es rein nach den Freitags-Longruns, dann ist Red Bull Favorit auf den Sieg beim Grand Prix von Aserbaidschan in Baku (Formel 1 2018 live im Ticker). Denn sowohl auf Ultrasoft als auch auf Supersoft waren Vorjahressieger Daniel Ricciardo und Max Verstappen in der zweiten Hälfte des zweiten Freien Trainings am schnellsten unterwegs. Das hat die Analyse der Longruns durch unsere Redaktion ergeben.
Zwar dürfen solche Analysen nur mit großer Vorsicht genossen werden, weil uns die exakten Benzinmengen ebenso unbekannt sind wie das Set-up, mit dem gefahren wurde. Und natürlich verändert sich die Strecke bis zum Rennen am Sonntag noch - gerade auf Stadtkursen, auf denen sonst kein Motorsport stattfindet, kann das viel ausmachen. Von sich verändernden Wetterbedingungen ganz abgesehen.
Aber Stand Freitag bildet die Longrun-Analyse einigermaßen aussagekräftig ab, wie es um das Kräfteverhältnis bestellt ist, und da liegt Red Bull klar vor Ferrari und Mercedes. Am beeindruckendsten war das im jeweils zweiten Longrun zu sehen, als die Teams nach einem Ultrasoft-Longrun zu Beginn entweder auf Supersoft oder Soft wechselten.
Während Ferrari (Sebastian Vettel auf Supersoft, Kimi Räikkönen auf Soft) oder Mercedes (Lewis Hamilton auf Soft, Valtteri Bottas ohne zweiten Longrun) nur eine einzige Runde unter 1:46.5 Minuten schafften (1:46.426 Minuten von Räikkönen), fuhr Verstappen dreimal hintereinander unter 1:46 Minuten, und auch Ricciardo war in fünf seiner sieben repräsentativen Runden auf dem Supersoft schneller als 1:46.5 Minuten!
Das ergibt für die jeweils zweiten Longruns folgende Durchschnitts-Zeiten:
Supersoft
1. Max Verstappen - 1:45.850 (Runde 6-12 auf Reifensatz)
2. Daniel Ricciardo - 1:46.271 (10-20)
3. Sebastian Vettel - 1:46.795 (8-21)
Soft
1. Kimi Räikkönen - 1:46.888 (Runde 10-19 auf Reifensatz)
2. Lewis Hamilton - 1:47.125 (5-13)
Der Rennspeed von Red Bull sei "sehr, sehr stark", ist Teamchef Christian Horner daher selbstbewusst und strapaziert gleich zwei "sehr", um dieses auszudrücken; und auch Hamilton befürchtet: "Wir sind nicht schnell genug. Red Bull liegt ein ganzes Stück vor uns. Wir konnten ihre Zeit nicht mitgehen und haben einiges an Arbeit vor uns."
Auf Nachfrage, ob Red Bull oder Ferrari in Baku der Hauptgegner sei, antwortet der viermalige Weltmeister: "Beide. Beide liegen momentan vor uns, wie im letzten Rennen. Heute fast noch mehr. Red Bull scheint stark an Tempo zugelegt zu haben. Ich werde über Nacht an die Tür unserer Ingenieure klopfen und hoffe, dass wir noch etwas finden."
Denn rein von der Papierform müsste Baku mit der langen Geraden dem Mercedes-Antrieb eigentlich entgegenkommen. "Wir haben speziell im ersten Training gesehen, dass Force India und Williams stärker waren als sonst", analysiert Red-Bull-Teamchef Horner.
Und der Blick auf die einzelnen Sektoren zeigt: Während Hamilton im schnellen ersten Sektor um 0,279 Sekunden schneller war als Ricciardo, verlor er im verwinkelten Altstadt-Sektor gleich 0,634 Sekunden auf den Red Bull und im letzten Sektor, trotz Elementen der langen Gerade, noch einmal 0,410 Sekunden. Die Ferraris liegen da irgendwo mittendrin.
Wie stark Red Bull in Baku sein könnte, hat sich schon im ersten Longrun angedeutet. Der ist insofern am besten vergleichbar, als alle Topfahrer dafür ihre gebrauchten Ultrasofts verwendeten, mit einem ähnlichen Reifenalter und zu einem ähnlichen Zeitpunkt. Und auch da lag Verstappen vorne - wenn auch zugegeben sein Longrun der späteste war, als der Asphalt am meisten Grip aufbot.
Ultrasoft
1. Max Verstappen 1:47.076 (Runde 9-15 auf Reifensatz)
2. Lewis Hamilton 1:47.309 (8-18)
3. Kimi Räikkönen 1:47.571 (7-14)
4. Daniel Ricciardo 1:47.609 (7-15)
5. Sebastian Vettel 1:47.748 (9-17)
6. Valtteri Bottas 1:48.249 (8-22)
Weiter hinten im Mittelfeld sorgten die beiden Force Indias für die Überraschung des Freitags. In FT1 noch beide in den Top 10, belegte Esteban Ocon auch in FT2 den siebten Platz. Und bei den Longruns bildet Force India gemeinsam mit Nico Hülkenberg die Spitzengruppe im Mittelfeld.
Hülkenberg kam auf Ultrasoft auf einen Schnitt von 1:48.1 Minuten und war damit um etwa drei Zehntelsekunden schneller als Perez/Ocon. Im zweiten Longrun, den Hülkenberg auf Supersoft fuhr, Perez/Ocon aber auf Soft, war nur Perez um einen Hauch schneller. Ansonsten liegen diese drei Fahrer auf Augenhöhe.
Fernando Alonso (McLaren) und Romain Grosjean (Haas) überzeugten nur in einem ihrer zwei Longruns. Auch sie werden aber im Kampf um die Top 10 eine Rolle spielen, wenn es normal läuft. Und dann gab es da noch einen Überraschungskandidaten, den vorher wahrscheinlich kaum jemand auf dem Zettel hatte.
Charles Leclerc legte einen Longrun-Schnitt von 1:48.1 Minuten (Ultrasoft) und 1:47.8 Minuten (Supersoft) hin und schob sich heimlich, still und leise auf das Niveau der Mittelfeld-Spitzengruppe. Das blieb insofern fast unbemerkt, als er in der absoluten Zeitentabelle des zweiten Freien Trainings nur den 16. Platz belegte.
Aber es klingt nicht vermessen, wenn der Sauber-Rookie sagt: "Hoffentlich schaffen wir es ins Q2. Wir müssen sehen, inwieweit wir uns von Freitag auf Samstag steigern können, denn da schaffen die meisten Teams einen Schritt. Aber es war ein sehr guter Freitag für uns. Im Renntrimm sind wir noch besser als auf eine schnelle Runde."
Was vielleicht nicht nur am Sauber liegt, sondern vor allem am Fahrer. Leclerc hat in Baku schon 2017 in der Formel 2 eine fulminante Performance abgeliefert. "Ich mag diese Strecke", sagt er. "Da komme ich schneller auf Tempo." Und es hilft natürlich, dass er nicht mehr sein erstes, sondern schon sein viertes Grand-Prix-Wochenende bestreitet ...