Formel 1 Brasilien 2017: Vettel siegt trotz Hamiltons Aufholjagd
Die Analyse des Rennens in Sao Paulo: Warum Lewis Hamilton im Finish die Luft ausging und was für Sebastian Vettels Sieg ausschlaggebend war
(Motorsport-Total.com) - Sebastian Vettel (Ferrari) hat den Grand Prix von Brasilien in Sao Paulo gewonnen, aber Mann des Rennens war Lewis Hamilton (Mercedes). Der Weltmeister, aus der Boxengasse gestartet, legte eine furiose Aufholjagd hin und landete schlussendlich auf dem vierten Platz. Sein Rückstand auf Sieger Vettel betrug nach 71 Runden im sonnigen Autodromo Jose Carlos Pace in Interlagos gerade mal 5,5 Sekunden.
Für Hamilton lief es schon in der turbulenten ersten Runde wie am Schnürchen: Weil wegen der Kollisionen Magnussen-Vandoorne und Ocon-Grosjean das Safety-Car auf die Strecke kam und das Feld wegen der Wrackteile zunächst durch die Boxengasse führte, nutzte er die Gelegenheit zum frühen Reifenwechsel von Supersoft auf Soft. Auch positionsmäßig lief der Start ganz nach seinem Geschmack: Hamilton reihte sich hinter dem Safety-Car an 14. Stelle ein.
In Runde neun schnappte er sich Pierre Gasly (Toro Rosso), mit neun gewonnenen Positionen der beste Starter, und lag damit erstmals in den Punkterängen. Fünf Runden später überholte Hamilton Sergio Perez (Force India) außen im Senna-S und war Siebter. Der Mexikaner war der Erste, der etwas mehr Gegenwehr leistete. Und in Runde 43 wechselte Hamilton, wegen der Boxenstopps der anderen in Führung liegend, von Soft auf Supersoft.
Der Brite hatte nun 18,9 Sekunden Rückstand auf Vettel, aber die um 15 Runden frischeren und noch dazu weicheren Reifen. Die 11,1 Sekunden auf den vor ihm liegenden Max Verstappen (Red Bull) waren ruck-zuck eliminiert, und weil der Niederländer mit der Balance nicht zufrieden war, konnte er sich bei der Attacke in Runde 59 nicht groß wehren. Nun lag Hamilton nur noch 10,3 Sekunden hinter Vettel und 5,0 Sekunden hinter Kimi Räikkönen (Ferrari).
In Runde 66 war Hamilton dann dran. Aber seine Supersofts hatten inzwischen 23 Runden auf dem Buckel, und in der "dirty Air" des Räikkönen-Ferrari endete der Vorwärtsdrang des Weltmeisters. "Lewis", sagt Räikkönen, "kam näher ran, aber ich war nicht sonderlich besorgt, weil ich aus der letzten Kurve gute Traktion hatte. Hier kannst du nicht überholen."
Für Sportchef Toto Wolff war es trotzdem "der beste vierte Platz, den ich je gesehen habe", und Hamilton fühlte sich an seine alten Go-Kart-Zeiten erinnert: "Da bin ich auch immer hinten gestartet. Ich habe gestern Mist gebaut, denn von der Pole hätte ich das Rennen gewonnen. Am Ende gingen mir einfach die Reifen aus. Mit dem vierten Platz muss ich zufrieden sein."
Die Entscheidung um den Sieg fiel in der ersten Kurve. Polesetter Valtteri Bottas (Mercedes) und Vettel kamen auf den ersten Metern gleich gut weg, aber Vettel stach innen als Erster ins Senna-S und behauptete die Führung auch vor Kurve 3. "Ohne den Start", gibt Vettel zu, "wäre es schwierig geworden. War ein ganzes Stück Arbeit, um ehrlich zu sein. Ich dachte, dass wir ein bisschen schneller sind im Rennen."
Vettel konnte Bottas rasch aus der DRS-Sekunde abschütteln, sich aber nie komplett lösen. Als Bottas in Runde 27 zum Boxenstopp kam und es auf den Undercut anlegte, betrug sein Rückstand 1,8 Sekunden. "Valtteri hat auf der Runde alles gegeben. Es war ziemlich eng", atmet Vettel auf, dessen Vorsprung kurzzeitig auf 0,5 Sekunden schrumpfte. Doch Bottas konnte den Schwung nicht nutzen und keine gefährliche Attacke reiten. "Danach", sagt Vettel, "habe ich das Rennen kontrolliert."
Am Ende bereiteten ihm zwar noch die Reifen Kopfzerbrechen, weil sie Vibrationen entwickelten, aber er überquerte die Ziellinie trotzdem 2,8 Sekunden vor Bottas. Der Finne hat nun im Kampf um die Vize-WM 22 Punkte Rückstand. "Mein einziges Ziel war, das Rennen zu gewinnen", seufzt er. "Ich habe es am Start verloren. Und danach hat mir Sebastian keine Chance mehr gelassen."
Verstappen kämpfte das ganze Rennen hindurch mit der Balance, und als Hamilton vorbei war und er ausreichend Luft nach hinten hatte, ließ er sich noch einmal neue Reifen geben. Mit denen stellte er einen neuen Rundenrekord auf: 1:11.044 Minuten. "Mehr war nicht drin. Lewis hat mich auf der Geraden einfach so stehen gelassen. Keine Chance", seufzt er.
Teamkollege Daniel Ricciardo lieferte im Schatten von Hamilton ebenfalls eine Aufholjagd. Der Australier hatte am Start Pech, als er im Senna-S Seite an Seite mit Stoffel Vandoorne (McLaren) und Kevin Magnussen (Haas) war und von den beiden in einen Dreher gezwungen wurde. Pascal Wehrlein (Sauber) hatte Riesenglück, der Situation ausweichen zu können. Aber von da an startete Ricciardo mit den härteren Softs seine Aufholjagd, die erst auf Platz sechs endete.
Extrem spannend war der Kampf um Platz sieben. Über weite Strecken des Rennens lieferten sich Felipe Massa (Williams) und Fernando Alonso (McLaren) ein Duell; in der letzten Runde war plötzlich auch Sergio Perez (Force India) dran. Massa zeigte ein eigenen Angaben nach "perfektes Rennen", schnappte sich Alonso beim Safety-Car-Restart und rettete das über die Distanz. "Für mich ist dieser siebte Platz wie ein Sieg", sagt er unter Tränen.
Alonso gibt zu, dass er bei Massas Abschiedsvorstellung Skrupel hatte, es auf ein Duell in der letzten Runde anzulegen. Doch als er es dann doch probieren wollte, scheiterte er am Honda-Motor: "Ich hatte sowieso keine Chance. Er war zu weit weg. Wir können nicht überholen. Wie viel Leistung uns fehlt, ist unglaublich. Felipe ist mir sogar mit DRS davongefahren. Ich schätze, Toro Rosso sollte sich Sorgen machen!"
Für Diskussionen sorgte die Kollision Ocon gegen Grosjean in Kurve 7. "Wofür? Ihr nehmt mich doch auf den Arm", wunderte sich Grosjean am Boxenfunk, als er über die Zehn-Sekunden-Strafe informiert wurde. Er war ins Rutschen gekommen und hatte den Force India wohl eher unabsichtlich abgeräumt. Ocon, der ausschied, findet die Strafe gerecht: "Er hat mein Rennen zerstört. Und das war mein erster Ausfall in einem Autorennen seit 2014!"
Nico Hülkenberg (Renault) holte als Zehnter mit einer Runde Rückstand seinen 35. Punkt der Saison, 6,5 Sekunden vor Teamkollege Carlos Sainz. Einen Gewaltakt vollbrachte indes Wehrlein: Der Sauber-Fahrer schaffte 69 Runden am Stück auf seinen Softs, landete letztendlich aber 8,9 Sekunden hinter Teamkollege Marcus Ericsson.
Der war zwischendurch sauer, weil Wehrlein vom Kommandostand vorbeigewunken wurde, dann aber nicht wesentlich schneller fahren konnte. Als Ericsson am Funk zu motzen begann, rechtfertigte sich Wehrlein: "Ich verliere gerade viel Power." Da ging es um Platz 15. Letztendlich wurde der Deutsche 14.
Insgesamt sahen 16 Autos die Zielflagge, und auch die blieben nicht ohne Probleme. Gasly zum Beispiel verlor wenige Meter vor dem Ende Vortrieb und rollte mit 60 km/h als Zwölfter über die Linie. Lance Stroll (Williams) erlitt wegen zweier Verbremser einen Reifenschaden, obwohl sein Team zuvor am Funk noch gesagt hatte: "Alles safe mit den Reifen!"
Und Brendon Hartley (Toro Rosso) kämpfte rundenlang mit dem Boxenfunk, weil sich das entsprechende Kabel gelöst hatte. Der Neuseeländer schaffte es irgendwie, das Kabel wieder einzustecken, und gleich die ersten Funksprüche, die er wieder hören konnten, waren besorgniserregend. Nach 40 Runden war sein Arbeitstag vorbei.
Die Minuten nach Rennende standen dann ganz im Zeichen von Lokalmatador Massa, der sich gemeinsam mit Rubens Barrichello auf dem Podium von seinen Landsleuten verabschieden durfte. Am meisten gerührt war er, als sich sein Sohn "Felipinho" am Boxenfunk meldete: "Daddy, ich bin so stolz auf dich! Ich liebe dich!" Da flossen genau wie vor einem Jahr die Tränen ...
Vettel nahm seinen Sieg schon souveräner. "Seb kann ein Rennen wie ein Meister kontrollieren. Das hat er in der Vergangenheit schon oft bewiesen", lobt ihn Ferrari-Chefingenieur Jock Clear. Bottas war letztendlich kein Gegner: "Auf eine Runde", analysiert Formel-1-Experte Marc Surer, "war er auf dem Niveau von Hamilton. Aber nicht über die Distanz."
Die Formel-1-WM 2017 endet am 26. November mit dem Grand Prix von Abu Dhabi. Wirklich spannend ist nur noch der Kampf um Platz sechs in der Konstrukteurs-WM. Da liegen Toro Rosso, Renault und Haas innerhalb von sechs Punkten. Heute konnte nur Renault ein mickriges Pünktchen mitnehmen ...