Erstes Regel-Fazit: "Überholen noch nie so schwierig"
Im Schatten des Ferrari-Triumphes wurde in Melbourne nur fünf Mal überholt: Wie schwer sich die Piloten wirklich taten und warum es doch noch leise Hoffnung gibt
(Motorsport-Total.com) - Spektakuläre Boliden, Piloten, die wieder richtig ins Schwitzen kommen, und Monster-Reifen, die beim Hinterherfahren nicht schon nach wenigen Runden überhitzen: Den Formel-1-Fans wurde vor dieser Saison ein Spektakel versprochen. Und tatsächlich bot Melbourne ein unberechenbares Rennen mit Sebastian Vettel als Überraschungssieger - abgesehen davon hielt sich die Action allerdings in Grenzen.
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Lewis Hamilton beißt sich mit frischen Reifen an Max Verstappen die Zähne aus Zoom Download
Laut den Kollegen von 'auto motor und sport' zählte man nur fünf Überholmanöver während des gesamten Rennens. Im Vorjahr waren es noch 37 gewesen. Haben sich also damit die Befürchtungen bewahrheitet, dass das Überholen an einem Vordermann unter dem neuen Reglement deutlich schwieriger geworden ist?
Mercedes-Star Lewis Hamilton, der nach seinem Stopp nicht an Max Verstappen im deutlich langsameren Red-Bull-Boliden vorbeikam und somit das erste Opfer der neuen Regeln ist, malt wie schon bei den Tests ein düsteres Bild. "Dass das Überholen so schwierig ist, war ja schon immer ein Thema, seit ich in der Formel 1 bin", klagt er. "Aber so schlimm wie jetzt war es noch nie. Es wird definitiv nicht besser, sondern die gesamte Saison lang so bleiben."
Eine Sekunde Tempounterschied pro Runde reicht längst nicht mehr
Ursache ist die sogenannte Dirty Air - Verwirbelungen des Luftstroms, die durch den Vordermann entstehen und sich auf die Aerodynamik des Verfolger-Boliden negativ auswirken. Hamiltons Teamkollege Valtteri Bottas erklärt: "Da jetzt mehr Grip von der Aerodynamik abhängt, ist die Auswirkung größer. Außerdem sind die Autos breiter, also entstehen mehr Turbulenzen." Ab wann die Luftverwirbelungen für die eigene Aerodynamik zum Störfaktor werden? "Wenn man zwei Sekunden oder weniger hinter dem anderen liegt", meint Bottas.
Fotostrecke: GP Australien, Highlights 2017
Das erste Siegerfoto der Saison 2017: Sebastian Vettel gewinnt erstmals seit Singapur 2015 wieder einen Grand Prix - und das mit einem Ferrari, der dem höher eingeschätzten Mercedes-Silberpfeil mindestens ebenbürtig ist. Die neue Formel 1 hat das, was der alten jahrelang gefehlt hat: Spannung an der Spitze. Fotostrecke
Hamilton kann die Veränderung sogar beziffern. "Im Vorjahr mussten wir um eine Sekunde schneller sein, auf manchen Strecken eineinhalb Sekunden oder zwei, um vorbeizukommen. Wenn es damals eine Sekunde war, dann sind es jetzt zwei Sekunden." Bottas glaubt sogar, dass es "vielleicht sogar zweieinhalb Sekunden sind, denn man spürt nun eine große Auswirkung durch das Auto vor einem. Vor allem am Kurveneingang ist es jetzt schwieriger. Und so bekommt man dann auch keinen Windschatten."
Was das bedeutet? Selbst Mittelfeld-Autos wie der Toro Rosso oder sogar der Force India wären für einen Mercedes schwer zu überholen, denn sie bewegen sich in einem Bereich rund zwei Sekunden hinter der Spitze. Dass also Hamilton aufgab, als er merkte, dass Vettel nach dem Stopp vor ihm auf die Strecke zurückkam oder Bottas nicht einmal einen Versuch machte, sich an den Teamkollegen heranzupirschen, darf nicht verwundern. "Deswegen habe ich nicht damit gerechnet, ohne einen Fahrfehler von Lewis vorbeizukommen", bestätigt der Finne.
Die Gefahr: Gehen Teams bereits von Prozessionen aus?
Genau das könnte in Zukunft zum großen Problem werden. Denn wenn Strategien bereits so konzipiert werden, dass das Überholen unmöglich ist, dann müssen die Fahrer es unter normalen Umständen gar nicht mehr probieren. Versucht man es trotzdem und es geht schief, geht man ein enormes Risiko ein und läuft Gefahr, zum Buhmann zu werden. Daran ändert es auch nicht viel, dass die Rennkommissare nicht mehr so oft Strafen verhängen wollen.
Man muss nur Force-India-Neuling Esteban Ocon zuhören, der auch bereits seine schlechten Erfahrungen gemacht hat. "Ich war viel schneller als Fernando Alonso, was auch für Nico Hülkenberg galt, aber wir kamen nicht ran. Das Qualifying wird also nun wichtiger denn je", kündigt er an, dass er sich mehr auf die Zeitenjagd konzentrieren werde.
Und Teamkollege Sergio Perez wirft neben der Dirty Air weitere Gründe ein, warum es nun schwieriger ist, am Vordermann vorbeizukommen: "Die Bremswege sind kürzer, und der Abbau der Reifen ist auch geringer." Da die haltbaren Pneus großteils Einstopprennen verursachen, treffen kaum zwei Autos auf der Strecke aufeinander, deren Tempo sich wegen der Reifen massiv unterscheidet - auch das ist nicht gerade überholförderlich.
Hoffnung: Wird es in China und Bahrain besser?
Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff outet sich zwar generell als Fan der neuen Autos, aber die Auswirkungen auf Zweikämpfe findet er "nicht gerade großartig. Das ist klar eine der Schwächen der neuen Regeln". Er will aber noch etwas abwarten: "Melbourne ist generell etwas anders."
In das gleiche Horn stößt auch Red Bulls Teamchef Christian Horner: "Lasst uns doch China und Bahrain abwarten, denn in Melbourne wurde nie viel überholt, während es auf den anderen Strecken immer einfacher war." Er bemüht sich um eine positive Sichtweise der neuen Regeln: "Gut war, dass die Fahrer das gesamte Rennen lang gepusht haben. Das Spritsparen war nicht so schlimm, die Reifen wurden definitiv nicht sehr geschont."
Und auch Bottas, der die Entwicklung generell kritisch sieht, gibt den neuen Autos noch etwas Zeit. "In Melbourne war es zwar dieses Jahr kniffliger, aber auf den Strecken mit langen Geraden könnte es dieses Jahr richtig guten Rennsport geben, denn auch der Windschatten hat jetzt eine größere Auswirkung, was auch für DRS gilt." Für Kurse wie Barcelona, wo vor Zeiten von DRS kaum überholt wurde, sieht er aber schwarz: "Dort wird es sehr schwierig." Und wenn gar nichts mehr geht, dann könnte die FIA die DRS-Zonen verlängern. Ob das allerdings nach dem Geschmack der Puristen ist, sei dahingestellt.