Lewis Hamilton: Keine Angst vor WM-entscheidender Kollision
Regen, körnende Reifen und Motoren, die zurückgedreht werden müssen: Welche Optionen Lewis Hamilton hat, mehr als sieben Punkte auf Rosberg aufzuholen
(Motorsport-Total.com) - Wenn beim Brasilien-Grand-Prix am Sonntag die Ampeln auf Grün springen, liegen genau 305,909 Kilometer zwischen Nico Rosberg, Lewis Hamilton und einer möglichen Entscheidung im Kampf um den WM-Titel. Nie war in der Saison 2016 am Vorabend eines Rennens so wenig vorherzusehen wie in Sao Paulo: Das Wetter könnte Kapriolen schlagen, die Strategie ist keine ausgemachte Sache und Rosberg hat einen Pfeil im Köcher, den niemand so recht anzusprechen wagt: ein Teamcrash.
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Lewis Hamilton und Nico Rosberg wollen hart aber fair miteinander kämpfen Zoom Download
Denn sollte der Deutsche nicht durch einen Sieg Weltmeister werden, sondern Hamilton den Vortritt lassen müssen, würde es ihm mit Blick auf das Finale in Abu Dhabi helfen, wenn beide einen Nuller schreiben. Der Abstand bliebe bei 19 Punkten bestehen und es müsste sich in der Wüste ein Wunder aus Tausendundeiner Nacht ereignen, damit Rosberg nicht Champion wird - ganz zu schweigen von dem Szenario, dass er weiterfahren und noch punkten kann. "Ich erwarte nichts anderes als einen fairen Kampf", winkt Hamilton ab und wittert im Stallrivalen einen fairen Gegner.
Rosberg bestätigt diesen Eindruck, wenn er einen knackigen Fight, aber keine Fouls im Stile eines Michael Schumacher verspricht, der sich in den Jahren 1994 und 1997 auf eben diese Art krönte respektive krönen wollte. "Uns steht es immer frei, gegeneinander Rennen zu fahren. Aber dafür gibt es die Verhaltensregeln", stellt der 31-Jährige nach Kollisionen in Barcelona und in Spielberg klar. "Davon abgesehen können wir tun, was wir wollen." Kämpfen, aber eben bitte ohne Kleinholz.
Hamilton darf am Start nicht erneut patzen
Hamilton bestätigt: "Klar, in der Vergangenheit haben das einige Piloten gemacht, aber ich erwarte nicht, dass da irgendwas kommt." Ergo wird sich Rosberg auf faire Art und Weise seinen Weg nach vorne bahnen müssen. Die Frage ist nur: Wie? Dass eine ansteigende Start- und Zielgerade in Interlagos die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Hamilton beim Losfahren wie schon in Monza mit dem Schleifpunkt patzt und nicht vom Fleck kommt, ist nicht zu erwarten. Dennoch sorgt die empfindliche Mercedes-Kupplung im Zusammenspiel mit den Funkregeln für ein Vabanque-Spiel.
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Wer über Brasilien spricht, der spricht über Ayrton Senna. 41 Siege holte der dreimalige Weltmeister in seiner Karriere, und wohl kaum ein anderer ist so berühmt wie sein erster Triumph vor seinen heimischen Fans im Jahr 1991. Wir schauen uns den Ort seines vielleicht größten Sieges einmal ganz genau an. Fotostrecke
Beide Mercedes-Piloten betonen, sie hätten "nicht das Bedürfnis, etwas Besonderes anstellen zu müssen", sondern würden strikt ihren Routinen folgen. Das 90-prozentige Regenrisiko am Sonntag könnte diese Prämisse über den Haufen werfen. Nach seinen Problemen auf nasser Piste, die ihn in Monaco und in Silverstone weit zurückwarfen, zittert Rosberg aber nicht vor Niederschlägen. "Es macht für mich keinen Unterschied", meint er. "Es gab damals Gründe dafür. Hier sind wir 2013 ein Qualifying im Regen gefahren und ich war Zweiter. Das verschafft mir viel Selbstvertrauen."
Regen spricht gegen Rosberg, aber für Red Bull
Hamilton jedoch gilt als Spezialist für nasse Fahrbahn. Hinzu kommt, dass die Red Bull mehr als unter trockenen Bedingungen zum Gegner werden. Daniel Ricciardo und Max Verstappen haben mit dem RB12 einen Boliden, dessen Powerdefizit dann nicht mehr von Belang wäre. Sie könnten sich zwischen die Silberpfeile schieben und Rosberg so die Möglichkeit rauben, in Abu Dhabi aus eigener Kraft Weltmeister zu werden. Auch mit Nico Hülkenberg im Force India könnte zu rechnen sein. Bei einem Hamilton-Sieg ist das der Fall, wenn er nicht mindestens als Dritter ins Ziel kommt.
Solche Kopfrechen-Exempel stellt Hamilton lieber erst gar nicht an. Erst recht nicht im Cockpit. "Man könnte versuchen, besonders klug zu sein. Aber ich will gewinnen, weil ich der Beste bin. Nicht, weil ich irgendeine Taktik fahre", gibt er sich unbeeindruckt und lässt sich auch nicht davon irritieren, dass er in Brasilien noch nie gewonnen hat. "Ich habe das Auto perfekt hinbekommen und habe aus Fehlern von früher gelernt. Ich bin mir viel sicherer als in den vergangenen neun Jahren."
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Angefangen hat alles 2014 in Spa-Francorchamps: Nico Rosberg saugt sich auf der Kemel-Geraden im Windschatten an Leader Lewis Hamilton an und versucht es außen. Das Manöver... Fotostrecke
Der stärkste Hamilton, den es jemals gab? "Das hat mit meiner Erfahrung zu tun. Es mag kommen, was wolle, ich werde dieses Rennen genießen. Mir sind alle Bedingungen recht, die uns erwarten könnten." Wahrscheinlich passt es ihm auch in den Kram, wenn die Außentemperaturen niedrig bleiben. Denn das macht die Strategie weniger kalkulierbar, weil die Reifen schneller anfangen zu körnen. Es könnten sich Möglichkeiten auch für Kimi Räikkönen und Sebastian Vettel in den Ferrari ergeben, zumal ihre Autos sich in Mexiko als extrem reifenschonend erwiesen haben.
Der große Abstand zur Konkurrenz - Hamilton trennten von Räikkönen 0,668 Sekunden - lässt aber vermuten, dass Mercedes in Interlagos wohl einen zusätzlichen Boxenstopp kompensieren könnte. "Er hat mich nicht beruhigt", meint Rosberg über den Abstand zur Konkurrenz. "Ich weiß sowieso, dass wir ein Megaauto haben, und dass wir damit gewinnen können." Red-Bull-Eminenz Helmut Marko ist davon überzeugt, dass Mercedes sämtliche Antriebspower freigeben hätte und deshalb so schnell gewesen wäre. Müssen die Silberpfeile zurückdrehen, weil sie um die Zuverlässigkeit fürchten, könnte die Konkurrenz doch wieder Morgenluft schnuppern.