• 13. November 2016 · 20:15 Uhr

Formel 1 Brasilien 2016: Hamilton gewinnt Regen-Krimi

Lewis Hamilton vertagt die WM-Entscheidung mit einem souveränen Sieg in Sao Paulo auf das Saisonfinale - Max Verstappen "setzt die Physik außer Kraft"

(Motorsport-Total.com) - Die Formel-1-WM 2016 bleibt spannend bis zum Schluss: Lewis Hamilton hat den Grand Prix von Brasilien in Sao Paulo gewonnen und die Titelentscheidung damit auf das Saisonfinale am 26. November in Abu Dhabi vertagt. Das Regenrennen in Interlagos war aber nichts für schwache Nerven und erstreckte sich wegen zweier Unterbrechungen und insgesamt fünf Safety-Car-Phasen auf 3:01:01.335 Stunden Rennzeit.

Am Ende gewann Hamilton 11,5 Sekunden vor seinem Mercedes-Teamkollegen Nico Rosberg und verkürzte damit dessen Vorsprung in der WM von 19 auf zwölf Punkte. Das bedeutet, dass Rosberg in Abu Dhabi ein dritter Platz auf jeden Fall reicht, selbst wenn Hamilton dort gewinnen sollte. "Ich jage! Ich kann nur so weitermachen wie bisher", sagt der Titelverteidiger über seine WM-Chancen - und ergänzt: "Abu Dhabi ist eine gute Strecke für mich."

So erleichtert wie nach der Zieldurchfahrt hat man Hamilton am Boxenfunk noch selten erlebt. Im Podium-Interview präsentierte er sich aber ganz cool: "Es war einer meiner leichteren Siege." Was Formel-1-Experte Damon Hill als reines Psychospielchen interpretiert: "Da reibt er es Nico halt in die Wunde. Aber Lewis hat schon recht: Heute konnte ihm niemand das Wasser reichen." Außer vielleicht der drittplatzierte Max Verstappen (Red Bull).

Die Bedingungen waren für einen einfachen Sieg viel zu schwierig. Eine halbe Stunde vor dem Start hatte FIA-Rennleiter Charlie Whiting noch signalisiert, dass es einen stehenden Start geben werde. Als dann aber Romain Grosjean (Haas) seinen siebten Startplatz schon bei der Out-Lap in die Startaufstellung in die Mauer setzte, rückte ein stehender Start in weite Ferne. Am Ende ging's hinter dem Safety-Car los - und zwar mit zehn Minuten Verspätung.

In der achten Runde wurde das Rennen zum ersten Mal freigegeben, und Hamilton setzte sich auf Anhieb von Rosberg ab. Nach dem Crash von Marcus Ericsson (Sauber) in Runde zwölf wurde das Safety-Car schon wieder aktiviert. Gleich nach dem Restart in Runde 20 crashte Kimi Räikkönen (Ferrari) bei Start und Ziel - Riesenglück, dass ihm dabei niemand ins Auto fuhr! Das Rennen wurde daraufhin aus Sicherheitsgründen mit roter Flagge unterbrochen.

In Runde 21 ging es weiter, und in Runde 26 funkte Hamilton: "Wir sollten loslegen, Charlie!" Zu dem Zeitpunkt wäre sein Sieg im Falle eines Abbruchs noch halbe Punkte wert gewesen. Aber statt das Rennen freizugeben, wurden erneut rote Flaggen gezeigt, was die Fans an der Strecke auf die Palme brachte. Die nächste Safety-Car-Phase gab's nach dem Unfall von Lokalmatador Felipe Massa (Williams), der während der Gelbphase kurz die TV-Bühne für sich beanspruchte.

Bernie Ecclestone hätte die Choreografie nicht besser schreiben können: Just als sich auf der Rennstrecke nichts tat, marschierte Massa, eingewickelt in eine brasilianische Flagge, an die Box zurück. Die Mercedes-Mechaniker standen Spalier, als er seine Frau umarmte und die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte: "Diesen Tag werde ich nie vergessen! Ich wollte unbedingt ins Ziel kommen. Aber vielleicht war es im Nachhinein schöner so."

Als das Rennen danach wieder freigegeben wurde, konnte bis zum Ende ohne Unterbrechung durchgefahren werden. Hamiltons Sieg war dabei zu keinem Zeitpunkt gefährdet. "Ich hatte keine Fehler, keine Dreher, nichts", sagt er. Das kann Rosberg nicht von sich behaupten: Als er in der 44. Runde in der neuralgischen letzten Kurve querstand, genau wie Verstappen kurz zuvor, büßte er auf einen Schlag fünf Sekunden ein.

Verstappen hätte Rosberg wohl gefährlich werden können, aber Red Bull verzockte sich mit einem Wechsel auf Intermediates, als es doch wieder stärker zu regnen begann. "Ich kann mit dem zweiten Platz leben. Lewis war ein bisschen besser heute, und Max ist auch super gefahren. Freut mich, dass es mit der Strategie geklappt hat, ihn trotzdem hinter mir zu halten", atmet der WM-Leader erleichtert auf.

Durch den zusätzlichen Boxenstopp fiel Verstappen, davor schon vor Rosberg Zweiter, auf den 16. Platz zurück. Aber dann zog er in der Schlussphase eine beeindruckende Show ab, die selbst Niki Lauda staunen ließ: "Wie der überholt hat, unglaublich!" Toto Wolff applaudiert: "Die Physik wurde außer Kraft gesetzt." Im Senna-S fuhr Verstappen immer wieder außen an Gegnern vorbei - und wie er Sergio Perez (Force India) im Infield überrumpelte, war Weltklasse.

Für Brisanz sorgte das Duell mit Sebastian Vettel (Ferrari), denn Verstappen schob sich in der letzten Kurve relativ kompromisslos am Deutschen vorbei, dem er schon in Mexiko begegnet war. Vettel beschwerte sich am Boxenfunk: "Er hat mich rausgedrängt!" Aber im Nachhinein gibt er zu: "Die Frage war nicht, ob er mich überholen würde, sondern nur wo." Seitens der FIA wurde jedenfalls keine Untersuchung des Zwischenfalls eingeleitet.

Perez wurde am Ende Vierter, weniger als eine Sekunde vor Vettel. Carlos Sainz (Toro Rosso) lieferte eine fehlerfreie Vorstellung ab und belegte Platz sechs - vor Nico Hülkenberg (Force India), einem der Pechvögel des Tages. Denn der Deutsche lag an vierter Stelle, als er wegen eines Reifenschadens rechts hinten zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt einen Boxenstopp einlegen musste. Ansonsten wäre er statt Perez auf Podiumskurs gelegen.

Unbeobachtet von den meisten TV-Zuschauern spielte sich etwas weiter hinten im Feld ein richtiges Drama ab. Felipe Nasr lag nach Verstappens Boxenstopp an sechster Position - und hatte die Riesenchance, für sein Team die so wichtigen Punkte im Kampf gegen Manor zu holen. Zwar lagen auch Esteban Ocon und Pascal Wehrlein eine Zeit lang auf Punktekurs, aber je stärker es zu regnen begann, desto mehr fehlte es den beiden an Anpressdruck.

Auf dem Sauber-Kommandostand wurden sämtliche Fingernägel abgekaut, als Nasr fünf Runden vor Schluss an neunter Stelle lag und Ocon direkt im Nacken hatte. Doch Ocon verlor seine Position kurz darauf an Fernando Alonso (McLaren) - und Nasr machte vor heimischem Publikum keinen Fehler mehr. "Das ist ein sehr wichtiges Ergebnis für uns. Manchmal braucht man ein bisschen Glück", strahlt Teamchefin Monisha Kaltenborn über den mutmaßlichen Millionensegen.

Ein Drama ganz anderer Art spielte sich bei Haas ab, und zwar unabhängig vom Grosjean-Crash vor dem Start. Esteban Gutierrez wurde vom Team gebeten, das Rennen zu beenden. Als er in der Box aus dem Auto stieg, schmetterte er seine Handschuhe auf die Werkzeugbank und wurde laut. Technikchef Günther Steiner musste ihn sogar beruhigend anfassen, um die spannungsgeladene Situation wieder in den Griff zu bekommen.

Bei Mercedes hingegen wurde in aller Entspanntheit Champagner geschlürft. "Hier zu gewinnen, war immer schon mein Traum, seit ich Ayrton hier gewinnen gesehen habe", jubelt Hamilton über den 52. Grand-Prix-Sieg seiner Karriere, mit dem er in der ewigen Bestenliste ausgerechnet Sennas Erzrivalen Alain Prost überholt. Und Wolff ergänzt: "Man kann an so einem Tag mehr verlieren als gewinnen. Da Erster und Zweiter zu werden, ist etwas Besonderes."

Zumal es auch bei den Silberpfeilen kleine Sorgen gab. Etwa gleich während der neutralisierten Startphase, als Hamilton klagte, ihm laufe Wasser ins Auge. Nach der ersten Unterbrechung war er dann mit einem anderen Helm unterwegs. Und Rosberg hatte nicht nur bei seinem Halb-Dreher Glück, sondern auch als Verstappen einmal quer neben ihm auftauchte: "Ich habe mich gewundert, dass der da plötzlich im 90-Grad-Winkel auftaucht!"

Zwischendurch sorgte Vettel wieder mit seinen Funksprüchen für Unterhaltung. Diesmal blieb die FIA verschont, aber dafür kam Pirelli unter die Räder: "Das ist irre! Ganz ehrlich, das ist einfach dumm", plärrte er, weil nicht abgebrochen wurde. "Wir brauchen Extrem-Regenreifen. Wie viele sollen denn noch verunfallen? Ich wäre beinahe in Kimi reingecrasht - mitten auf der Geraden!" Kurz zuvor hatte er sich übrigens ohne jede Fremdeinwirkung gedreht.

In der Fahrer-WM hat Daniel Ricciardo nun den dritten Platz sicher. Auch bei den Konstrukteuren ist Red Bull durch: Ferrari kann das österreichisch-britische Team beim Saisonfinale in Abu Dhabi nicht mehr überholen. Und Force India geht im Kampf um Rang vier mit 27 Punkten Vorsprung - also fast uneinholbar - auf Williams ins Saisonfinale. Dort wird sich in zwei Wochen also alles auf das Duell Rosberg gegen Hamilton konzentrieren...

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