Lewis Hamilton: Aus Reifenschonung wurde Kaffeefahrt
Hamilton schonte Motor und Reifen so stark, dass Mercedes' Doppelerfolg in Gefahr geriet - Drohung im Funk sollte nur Weckruf sein - Verbesserungen beim Start
(Motorsport-Total.com) - Wie sehr musste Lewis Hamilton um seinen Sieg beim Ungarn-Grand-Prix am Sonntag wirklich fürchten? Während sein dritter Erfolg in Serie auf den ersten Blick mit einer Hand am Lenkrad eingefahren war, musste der Brite im Rennen um Platz eins zittern: Erst am Start, dann vor dem zweiten Boxenstopp, als ihm Mercedes sogar drohte, Nico Rosberg früher an die Box und auf Kurs zum Sieg zu bringen, falls er nicht schneller führe. Doch Hamilton winkt ab: "Ich hatte 100 Prozent Kontrolle."
Der Reihe nach: An der grünen Ampel kam der Weltmeister besser weg als Rosberg von der Pole-Position, zog dank des 618 Meter langen Weges zum Bremspunkt neben den zweiten Silberpfeil und musste sich in der ersten Kurve deshalb nicht mehr wahren, weil der Deutsche mit Daniel Ricciardo im Red Bull beschäftigt war. "Früher war die Pole-Seite viel besser", wundert sich Hamilton über den Raketenstart, den er von der schmutzigen Seite der Fahrbahn aus unternahm.
Eine kleine Umstellung seines nicht optimalen Startprozederes tat ihr Übriges hinzu: "Ich war ein bisschen zu vorsichtig in der zweiten Phase, um nicht zu viel durchdrehende Räder zu bekommen. Deshalb habe ich es immer etwas zu locker genommen und an Boden verloren", erklärt Hamilton, was er zuletzt verändert hatte, um dem Teamkollegen auch am Start wieder Herr zu werden.
Rosberg wollte am Start die Tür nicht zuwerfen
Rosberg will keinen Fehler gemacht haben: "Mein Start war in Ordnung, aber seiner war eben auch gut." Sich in der ersten Kurve nicht heftiger verteidigt zu haben, wie er es zuletzt tat, nachdem er von Hamilton 2015 bei diesen Gelegenheiten ständig abgekocht worden war, erklärt er mit Vernunft: "Er war teilweise neben mir, da konnte ich die Tür nicht zuschlagen." Oder war das ein Tribut an die jüngsten Ansagen der Chefs infolge der Spielberg-Kollision? Rosberg druckst herum.
Fotostrecke: GP Ungarn, Highlights 2016
Mit dem fünften Sieg auf dem Hungaroring hat Lewis Hamilton nun sogar Michael Schumacher übertrumpft. In der ewigen Bestenliste fehlen ihm noch drei Siege auf die 51 von Alain Prost. Und in der WM 2016 führt er ausgerechnet vor Hockenheim zum ersten Mal, mit sechs Punkten Vorsprung. Dabei hatte er zwischenzeitlich schon 43 Rückstand... Fotostrecke
Er musste seine Chance auf der Strecke suchen. Und geduldig sein. Auf den Supersoft war kein Herankommen an Hamilton, der in Runde 16 den Untercut unternahm und sich in Führung hielt, als Rosberg einen Umlauf später ebenfalls stoppte. Erst gegen Ende des zweiten Stints auf Soft wurde es brenzlich, weil Hamilton langsamer wurde und die Lücke - auch dank des Aufhaltens durch Esteban Gutierrez - auf 0,7 Sekunden schrumpfte. Es kam der eingangs genannte Funkspruch.
Hamiltons Schongang auch wegen höherer Temperaturen
"Ich habe während des Rennens ständig versucht, den Motor zu schonen", erklärt Hamilton, der viel an den Schaltern am Lenkrad zu drehen hatte, um die richtigen Einstellungen zu finden. Die Drohung des Ingenieurs war für ihn keine: "Ich war die ganze Zeit total entspannt. Ich habe ihm gesagt, dass ich wüsste, was ich tue und Reifen sowie Sprit richtig einsetze. Deshalb ging ich Kompromisse ein." Aber er reagierte auf Rosberg: "Als er schneller wurde, habe ich zugelegt."
Toto Wolff hat Verständnis für Hamilton und glaubt, dass er sich angesichts der Ungewissheit, ob bei viel höheren Temperaturen als im Freien Training eine Zwei- oder eine Dreistoppstrategie die Richtige Wahl sein würde, selbst zurücknahm. "Wir haben das ganze Wochenende besprochen, wie die Reifen durchhalten würden. Wenn du dann immer hörst, dass sie es nicht tun würden, schonst du sie. Wir hatten auf den Soft keine Erfahrungswerte. Er hat sie zu stark geschont", so der Sportchef.
Rosberg spekulierte nicht auf Stallorder, sondern auf bessere Reifen
Dass Hamilton nicht von sich aus zulegte, kann sich Wolff erklären: "Als Fahrer verstehst du nicht, was um dich herum passiert, du musst dem Kommandostand vertrauen. Er wusste nicht, dass sich das Feld von hinten nähert und einige auf anderer Strategie sind. Für ihn schien es in Ordnung zu sein, es schleifen zu lassen." Hamilton kontrollierte den Abstand zu Rosberg, den er im Rückspiegel sah. Nicht zu Ricciardo, der Platz drei bis zu einer halben Sekunde pro Runde schneller war. "Er hat gesagt, er führe so schnell es ihm möglich sei. Er hat nicht gesagt, er führe so schnell er könne."
Rosberg: Rennen schon am Start verloren
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Der neue WM-Führende bestätigt das und unterstreicht seine Coolness: "Ich musste nicht mit fünf oder zehn Sekunden Vorsprung gewinnen, sondern einfach nur gewinnen. Das war Kick. Das hatte auch nichts mit Nico zu tun. Ich wollte nur sicherstellen, dass die Reifen durchhalten. Ich wollte ihn nirgends anders sehen als auf Rang zwei." Dass er sich einmal in Kurve 12 deutlich verbremste, als er das Tempo erhöhte, nennt Hamilton die einzige Schrecksekunde und macht das Bremsen auf einer Unebenheit dafür verantwortlich: "Denn eigentlich bin ich nie ein Risiko eingegangen."
Rosberg meint, nie auf eine Stallorder spekuliert zu haben, wie er sie noch vor einigen Wochen selbst schlucken musste, als er als langsamerer Pilot vor dem Teamkollegen war: "Ich war auch nicht überrascht: Er fährt manchmal etwas zu vorsichtig. In Monaco ging es darum, dem Team den Sieg zu ermöglichen. Hier hätten wir das sowieso getan. Da hätte ich mit so einem Funkspruch nicht gerechnet", räumt der Deutsche ein. "Ich wollte Druck machen, damit er die Reifen nicht so schonen kann und dann am Ende des Stints die besseren Reifen haben." Doch auf dem Hungaroring führte einmal mehr kein Weg am Vordermann vorbei.