• 12. Juni 2016 · 21:38 Uhr

Formel 1 Kanada: Vettel beißt sich an Hamilton die Zähne aus

Lewis Hamilton gewinnt den packenden Grand Prix in Montreal - Ferrari sauer: "Haben einen Fehler gemacht" - Mercedes: Wieder umstrittene erste Kurve

(Motorsport-Total.com) - Lewis Hamilton hat mit einer strategischen Meisterleistung den Grand Prix von Kanada in Montreal vor Sebastian Vettel (Ferrari) gewonnen. Der Mercedes-Fahrer absolvierte 46 Runden auf einem einzigen Reifensatz, rettete aber fünf Sekunden Vorsprung über die Ziellinie und machte damit in der Formel-1-Weltmeisterschaft 2016 einen wichtigen Satz in Richtung Spitze. Denn sein Teamkollege Nico Rosberg kam nach einer strittigen Situation in der ersten Kurve nur als Fünfter ins Ziel.

Während Vettel einen Raketenstart hinlegte und an beiden Silberpfeilen vorbei in Führung schoss, schob sich Rosberg außen auf gleiche Höhe mit Hamilton. Der machte keinen Millimeter Platz - ähnlich wie in Suzuka und Austin 2015. "Die Reifen waren kalt. Da hatte ich heftiges Untersteuern", rechtfertigt er sich. Aber das ist gar nicht nötig, denn von Mercedes gibt es diesmal keine Schuldzuweisungen: Die Aktion sei "hart und knackig" gewesen, findet Aufsichtsratschef Niki Lauda, aber "ihm dafür einen Vorwurf zu machen, wäre zu hart".

Rosberg ("That's racing") kam als Zehnter aus der ersten Runde zurück und war damit faktisch aus der Entscheidung raus. Zwischen Vettel und Hamilton entwickelte sich indes ein packendes Duell um den Sieg. Die Vorentscheidung fiel in der elften Runde: Ferrari wollte die virtuelle Safety-Car-Phase wegen des Motorschadens von Jenson Button (McLaren) nutzen und holte beide Fahrer an die Box, wechselte von Ultra- auf Supersoft. Damit war klar: Einmal würde Vettel noch stoppen müssen, um den Soft-Pflichtreifen zu fahren.

Die Gelbphasen-Rechnung schien im ersten Moment aufzugehen: Obwohl ein Boxenstopp in Montreal unter normalen Rennbedingungen 17 Sekunden kostet, hatte Vettel auf P4 nur elf Sekunden Rückstand. Aber relativ schnell wurde klar: Hamilton würde nicht auf eine Zweistoppstrategie setzen, sondern versuchen, mit einem Reifenwechsel durchzufahren.

Vettel schnappte sich in der 17. Runde den ersten, in der 18. Runde den zweiten Red Bull. Nach Hamiltons Wechsel von Ultrasoft auf Soft begannen beim Deutschen die Nerven zu flattern: "Get them out of the way", fluchte er beim Überrunden, und als vor seiner Nase später Romain Grosjean (14./Haas) eine halbe Runde lang die blauen Flaggen ignorierte, fluchte er: "What the hell is going on?"

Aber Vettel hat sich die fünf Sekunden Rückstand zum Teil auch selbst zuzuschreiben: "Rückenwind in der letzten Kurve war nicht so angenehm. Ich habe mich dort heute dreimal verschätzt", gibt er zu. Einmal gleich in der ersten Runde, da konnte er seine Führung aber knapp verteidigen. Am Ende freut er sich ohnehin über "ein tolles Ergebnis. Der Speed war da, und das freut mich. Lewis war einfach ein bisschen zu schnell."

Das sehen nicht alle bei Ferrari so: "Wir haben den Abbau der Reifen überschätzt. Darum haben wir Seb reingeholt. Das war eine Fehlentscheidung", ärgert sich Teamchef Maurizio Arrivabene, und Experte Marc Surer sagt: "Meiner Meinung nach war das heute nicht die beste Taktik." Obwohl zwischendurch noch einmal Hoffnung aufkeimte, als Hamiltons linker Vorderreifen zunehmend Verschleißspuren zeigte.

Vettel verkürzte den Rückstand von siebeneinhalb auf vier Sekunden, und in etwa zur gleichen Zeit kamen sowohl die beiden Red Bulls als auch Rosberg, die alle auf der Hamilton-Strategie waren, überraschend zu einem zweiten Boxenstopp rein. Aber Hamilton ließ sich davon nicht irritieren, zog sein Ding durch und fand genau das richtige Tempo, um Vettel keine Chance zu lassen, seine Reifen aber nicht zu überfordern. Eine strategische Meisterleistung.

"Wir waren uns bis zum Ende nicht sicher, ob die Reifen durchhalten", atmet Sportchef Toto Wolff erleichtert auf. Denn Rosberg rettete sich mit einem schleichenden Plattfuß an die Box, obwohl sein zweiter Reifensatz "nur" 30 Runden zu bewältigen hatte. Sein Rennen war sowieso turbulent: Erst tat er sich schwer beim Überholen von Nico Hülkenberg (8./Force India), dann der Reifenschaden, in den letzten Runden ein packendes Duell mit Max Verstappen (4./Red Bull) - und eine Schrecksekunde in der vorletzten Runde!

Rosberg saugte sich mit DRS an Verstappen heran, der sich in den Runden zuvor schon herzhaft verteidigt hatte, ging auf der langen Geraden links am Niederländer vorbei, kam aber mit den linken Rädern auf die weiße Linie und drehte sich bei hoher Geschwindigkeit, obwohl er eigentlich schon vorbei war. Zumindest konnte er einen Einschlag verhindern und den fünften Platz ins Ziel retten, weil Kimi Räikkönen (6./Ferrari) weit genug zurück lag.

"Max war wie Lewis voll am Limit. Es ist Rennsport, aber er war sehr, sehr aggressiv", sagt Rosberg. "Mein größtes Problem war, dass ich keinen Sprit mehr hatte. Ich musste immer attackieren, mich dann drei Runden zurückfallen lassen, Sprit sparen und dann wieder attackieren. Meine Spritnummer war so rot, so weit war ich noch nie im Rot! Es ist nicht auszurechnen, wie sich das ausgeht. Die letzte Runde musste ich tierisch Sprit sparen und schauen, dass Räikkönen nicht vorbeikommt."

Daniel Ricciardo (Red Bull) hatte sich vor dem Start noch Außenseiterchancen auf den Sieg ausgerechnet, nach einem weiteren verkorksten Rennen musste er aber mit Platz sieben vorliebnehmen. Für ihn begann die Misere schon am Start, als er sich von Verstappen überraschen ließ - denn hinter dem Teamkollegen verlor er wertvolle Zeit. Die Anweisung des Teams, Ricciardo nicht aufzuhalten, beschloss Verstappen zu ignorieren. Das hat er schon zu Toro-Rosso-Zeiten so gemacht.

Ricciardo verlor durch den ersten Boxenstopp weiteren Boden auf Verstappen, weil plötzlich Räikkönen als Puffer zwischen den beiden lag. Gegen Rennmitte leistete er sich einen Ausritt, bei dem Valtteri Bottas (Williams) durchschlüpfte. Der fuhr anschließend auf das Podium. Dass beim Reifenwechsel wieder mal ein Rad klemmte, dürfte Ricciardos Laune zusätzlich trüben.

Hülkenberg fuhr den achten Platz nach Hause, 5,7 Sekunden vor Carlos Sainz (Toro Rosso) und Sergio Perez (Force India). Fernando Alonso (McLaren) lag in der Anfangsphase sogar vor Rosberg an neunter Position, fiel aber wegen eines 8,3 Sekunden langen Boxenstopps auf P13 zurück. Am Ende wurde er Zwölfter - und er wollte frühzeitig aussteigen, was ihm sein Team nicht gestattete. Jenson Button war da schon mit Motorschaden ausgeschieden.

19 von 22 gestarteten Fahrern sahen die Zielflagge; neben Button schieden auch Jolyon Palmer (Renault/Wasserleck) und Felipe Massa (Williams/Motor überhitzt) aus. Williams kann sich heute aber mit einer Trophäe trösten: "Die Strategie und die Boxenstopps waren perfekt, das Auto sehr schnell - und ich auch", jubelt der drittplatzierte Bottas.

Der WM-Kampf wird nach Hamiltons zweitem Sieg en suite "wieder enger, das ist überhaupt keine Frage", sagt Mercedes-Boss Lauda: "Wenn Nico das zurückholen will, was er heute verloren hat, muss er in Baku gewinnen. Lewis hat sich wieder voll gerappelt. Jetzt wird es interessant." Vor dem Grand Prix von Europa, der bereits in einer Woche stattfindet, beträgt der Abstand nur noch neun Punkte.

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