Formel 1 Silverstone 2015: Hamilton gewinnt Regen-Krimi
Das spannendste Rennen des Jahres: Lewis Hamilton gewinnt dank perfekter Strategie bei einsetzendem Regen - Williams-Führung nach Start bleibt unbelohnt
(Motorsport-Total.com) - Viel wurde diskutiert über die Formel 1 in den vergangenen Wochen, von vielen wurde sie totgesagt, als langweilig abgestempelt, abgeschrieben. Aber beim britischen Grand Prix in Silverstone präsentierte die Königsklasse ihre bisher spannendste und aufregendste Vorstellung dieses Jahres - und mit Lokalmatador Lewis Hamilton einen verdienten Sieger, der rund 130.000 Zuschauer vor Ort an der Strecke jubeln ließ.
Die Entscheidung fiel in der 43. Runde, als der Regen immer stärker wurde. Mercedes-Teamkollege Nico Rosberg hatte seinen Rückstand innerhalb von drei Runden von sieben auf eineinhalb Sekunden reduziert, hatte die schwierigen Gripverhältnisse in jener Phase am besten im Griff. Aber dann wechselte Hamilton als erster der Topfahrer auf Intermediates - und führte damit die Entscheidung herbei. Denn Rosberg verlor in der einen Runde, die er länger draußen bleiben musste, rund sieben Sekunden.
"Lewis hat beim Boxenstopp die bessere Entscheidung getroffen", seufzt der Deutsche, gratuliert aber neidlos: "Er hat das ganze Wochenende einen super Job gemacht." Und Hamilton strahlt auf dem Podium, sichtlich erfreut über die johlenden Fans: "Es war die perfekte Entscheidung, vielleicht zum ersten Mal in meiner Karriere." Aber eine, die er laut Mercedes-Boss Niki Lauda nicht selbst getroffen hat, sondern von den Ingenieuren getroffen wurde.
"Ich war sehr, sehr froh, als der Regen kam", sagt Rosberg. "Ich konnte richtig attackieren und habe mir einen Williams vorgeknöpft, dann den nächsten. Dann habe ich gesehen, dass ich immer näher an Lewis herankomme, und mir gesagt: 'Den hole ich mir jetzt auch noch!' Für mich hätte es nichts gebracht, ihm in die Box zu folgen. Dann hätte ich so oder so verloren. Dann habe ich mir gesagt: 'Probiere ich halt noch eine Runde.' Das ging gut bis zu den letzten zwei, drei Kurven, wo es schon komplett nass war. Das ging nicht mehr und ich habe viel Zeit verloren."
Hamilton führte in Silverstone übrigens zum 18. Mal hintereinander einen Grand Prix an und übertraf damit den alten Rekord von Jackie Stewart. Für Mercedes war es der sechste Doppelsieg in dieser Saison; zum neunten Mal standen beide Fahrer auf dem Podium - das hatte zuletzt Ferrari im Jahr 1953 geschafft. Dabei war keineswegs von Anfang an klar, dass es schon wieder einen silbernen Doppelsieg geben würde.
Denn am Start hatten die Mercedes das Nachsehen gegen die Williams: Felipe Massa schoss wie eine Rakete in Führung, Valtteri Bottas gewann einen sehenswerten Rad-an-Rad-Kampf gegen Hamilton in den ersten paar Runden. "Die Kupplung war gut. Ich hatte einfach wenig Grip", beklagt Hamilton Wheelspin auf den ersten Metern. Und so bildete sich vor dem hervorragend gestarteten Nico Hülkenberg (Force India) eine Vierergruppe, die in einer eigenen Liga fuhr.
Deren Reihenfolge wurde durch die Safety-Car-Phase von der zweiten bis zur vierten Runde bestimmt. Beim Restart war Hamilton extrem aggressiv und wollte unbedingt die Führung übernehmen, doch stattdessen verbremste er sich und fiel auch hinter Bottas zurück. Bottas war dann zunächst schneller unterwegs als Massa, doch just als es vom Team die Anweisung gab, nicht gegeneinander zu kämpfen, setzte sich der Finne bei Stowe (am Ende der DRS-Zone) neben den Führenden.
Williams reagierte auf diese trotzige Reaktion und ließ die beiden doch frei fahren (Pat Symonds: "Das ist die DNA von Williams"), aber auch wenn er mehrmals knapp dran war, kam er schlussendlich doch nicht vorbei. Also blieb die Reihenfolge bis zum ersten Boxenstopp unverändert. Mercedes war zwar schneller, kam aber nicht vorbei - und versuchte aus diesem Grund, schon in der 14. Runde einen Boxenstopp anzutäuschen, um Williams zu einem früheren Boxenstopp zu verleiten.
Doch auf dieses Spiel ließen sich Massa und Bottas nicht ein, und so dauerte es bis zur 19. Runde, ehe Hamilton an die Box kam. Eine Runde später wechselten der führende Massa und Rosberg von Medium auf Hard. Bei Massa arbeiteten die Mechaniker zwar langsamer, aber es reichte, um das Beschleunigungsduell in der Boxenstraße zu gewinnen. Nur Hamilton profitierte vom sogenannten "Undercut" und übernahm die Führung.
Bottas kam als Letzter aus dem Führungsquartett rein und setzte sich haarscharf vor Rosberg, dessen Teamkollege an der Spitze sofort enteilen konnte. Marc Surer versteht im Nachhinein nicht, dass Williams nicht mit einem Auto früher an die Box gekommen ist: "Wenn man zwei Autos in Führung hat, sollte man die Aufgaben teilen. Einer früher rein, einer später rein, damit man die Chance hat, die frischeren Reifen zu nutzen", kritisiert der Formel-1-Experte.
Immerhin hielt sich Williams vor Rosberg, bis es leicht zu regnen anfing, aber da konnten sich Massa und Bottas dann nicht mehr gegen den Mercedes wehren. Kimi Räikkönen (Ferrari) war da der Erste, der auf Intermediates wechselte, kurz nachdem er von Sebastian Vettel überholt wurde - aber der "Iceman" war damit zu früh dran und verlor fünf Sekunden pro Runde. Vettel hingegen timte seinen Boxenstopp perfekt und fand sich plötzlich an dritter statt sechster Stelle wieder.
"Ohne den Regen wären wir nicht auf dem Podium", gibt der Deutsche zu. "Wir haben genau den passenden Zeitpunkt erwischt. Das war der Schlüssel. Unverhofft kommt oft. Wir hatten heute auch das nötige Quäntchen Glück. Das ist das perfekte Ergebnis, das wir uns eigentlich gar nicht verdient hätten." Williams-Chefingenieur Robert Smedley, am Ende nicht ganz glücklich mit P4/5, stimmt zu: "Wir waren zum ersten Mal in diesem Jahr schneller als Ferrari, das ganze Wochenende."
Für Vettel hatte das Rennen miserabel begonnen, der Deutsche lag zu Beginn nur noch an neunter Stelle. Ausreden sucht er dafür nicht: "Ich habe gepennt." Am Ende landete er aber wieder auf dem Podium - zum 20. Mal hintereinander in den Punkterängen. Damit rückt er dem alten Räikkönen-Rekord (27) näher. Der Finne beendete das Rennen als Achter, musste in der Schlussphase seine stark verschlissenen Intermediates wechseln, was aber auf das Ergebnis keine Auswirkungen hatte.
Daniil Kwjat (Red Bull) fehlten auf der Ziellinie nur 0,8 Sekunden auf Bottas, dessen Reifen komplett hinüber waren. Siebter wurde Nico Hülkenberg (Force India), der seinen fünften Zwischenrang in der Phase der Boxenstopps verlor, aber zufrieden ist: "Die Updates haben uns nach vorne gebracht." Teamkollege Sergio Perez fuhr als Neunter ebenfalls in die Punkte, gut eine Minute vor Fernando Alonso (McLaren), der damit erstmals in dieser Saison anschreibt.
Danach hatte es am Start gar nicht ausgesehen: Beide McLarens und beide Lotus wurden in der ersten Runde in eine Kollision verwickelt. Nur Alonso überlebte den Zwischenfall, musste aber an der Box die Nase wechseln. "Fernando wollte ausweichen und hat dabei das Heck verloren", schildert Jenson Button. "Die Frontpartie seines Autos hat dann meinen Hinterreifen getroffen. Daraufhin ist das Auto abgehoben und mir ist der Motor abgestorben."
Wegen der Aufräumarbeiten kam das Safety-Car für drei Runden auf die Strecke. Später wurde das Rennen mittels virtuellem Safety-Car neutralisiert, als Carlos Sainz ausrollte. Für Toro Rosso gab es heute einen Doppelausfall - Max Verstappen hatte das Auto schon früh weggeschmissen, als es noch trocken war. Auch Red-Bull-Pilot Daniel Ricciardo schied aus. Bei ihm streikte die Motorenelektronik. Und Felipe Nasr konnte gar nicht erst starten, weil es sein Sauber nicht einmal in die Startaufstellung schaffte.
Am Ende waren aber alle happy: "Das war mit Abstand das beste Rennen in diesem Jahr", findet etwa Jackie Stewart, und Mercedes-Sportchef Toto Wolff setzt ein ironisches Grinsen auf, wenn er sagt: "Langweiliges Rennen. Wir haben eine Krise! 140.000 Fans stürmen auf die Strecke." In der Weltmeisterschaft führt nach neun von 19 Rennen Hamilton (194 Punkte) vor Rosberg (177) und Vettel (135). Bei den Konstrukteuren liegt Mercedes (371) vor Ferrari (211) und Williams (151).