Rennvorschau Suzuka: Hoffnung im Realitätscheck
Mercedes geht nach dem Sonderfall Singapur als defektanfälliger Favorit auf die Bahn und könnte sich den Konstrukteurs-Titel sichern - Wer hat wirklich aufgeholt?
(Motorsport-Total.com) - In kaum einem Land werden die Formel-1-Piloten mit so viel Begeisterung empfangen wie in Japan. Völlig verrückte Kostüme, die die Fans in Blechkleider oder ganze Pappmaché-Boliden hüllen, gibt es genauso wie Anhänger, die sich den Arm ihres Babys signieren lassen wollen. Klar, dass der Zirkus dem Aufritt im Land der aufgehenden Sonne am kommenden Wochenende begeistert entgegenfiebert, schließlich wartet vor den Tribünen auch eine der letzten Fahrerstrecken im Kalender.
Auf 5,807 Kilometern in Form einer Acht bietet die 1980 erstmals befahrene Bahn den Piloten einen guten Mix aus schnellen und langsamen Abschnitten. Darunter sind spektakuläre Kurven wie die Esses, die Spoon-Kurve oder die legendäre 130R. Ob der Highspeed-Knick hin zur besten Überholmöglichkeit der Bahn, die Schlussschikane vor der Start- und Zielgeraden, mit den Autos der neuesten Hybrid-Generation noch so problemlos mit Vollgas gefahren werden kann wie in der Vergangenheit, muss sich zeigen.
Nicht zuletzt kommt es darauf an, welchen Trumpf die Teams im Abstimmungspoker ziehen. Beim Frontflügel ist eine Herangehensweise wie in Barcelona oder Silverstone zu erwarten, während der Heckflügel und die Aufhängung allen voran dafür sorgen müssen, dass das Auto bei den zahlreichen schnellen Richtungswechseln nicht aus der Balance gerät. Weniger belastend ist Suzuka in Sachen Verzögerung: Es gibt nur zwei harte Bremspunkte (vor der Haarnadel und der Schikane), sodass Aufwärmen mehr als Kühlen die Devise ist.
Müdigkeits- trifft Spaßfaktor
Pirelli liefert seine zwei härtesten Mischung nach Japan, was als Tribut an den dank der Kursform gleichmäßigen Reifenverschleiß zu verstehen ist. In der 130R erwärmen sich die Pneus auf bis zu 120 Grad Celsius. Für die stark beanspruchten Seitenwände stellt das eine enorme Belastung dar. Jede Kurve geht in die nächste über, Erholungsphasen sind Fehlanzeige. Es darf ein ähnlicher Trend wie 2013 bei der Strategie erwartet werden: eine Mischung aus Zwei- und Drei-Stopp-Taktiken kam schon damals zum Einsatz.
Fotostrecke: Triumphe & Tragödien in Japan
Der erste Grand Prix von Japan findet am 24. Oktober 1976 in Fuji statt. Im denkwürdigen Regenrennen holt sich Mario Andretti (Lotus) den Sieg. Die Schlagzeilen beherrscht aber das Titelduell zwischen James Hunt (McLaren) und Niki Lauda (Ferrari). Der Brite holt sich den Titel, als der Österreicher seinen Boliden abstellt, ehe der Zweikampf auf der Strecke begonnen hat. Er will nach seinem schweren Nürburgring-Unfall im gleichen Jahr sein Leben nicht riskieren, stellt ab und verbietet dem Team, einen technischen Defekt als Ausfallgrund zu propagieren. Fotostrecke
Japan ist mit Blick auf die Zeitverschiebung eines der härtesten Wochenenden ür die Teams. Hier fällt die Umgewöhnung besonders schwer. Das gilt besonders für alle jene, die in den Fabriken in Europa arbeiten und praktisch eine Nachtschicht einlegen müssen, aber auch für die Piloten. Es führt unvermeidlich zur Belastung des Körpers. Umso besser, wenn sich das per Spaßfaktor ausgleichen lässt: "Suzuka war auch meine Lieblingsstrecke", erinnert sich Ex-Formel-1-Pilot Heinz-Harald Frentzen bei 'ServusTV'.
Der Mönchengladbacher erkennt ein Machwerk der alten Schule: "Es handelt sich dabei nicht um eine Stop-and-Go-Rennstrecke, wie sie zuletzt durch die Unfälle entstanden sind, sondern es ist eine wirklich heiße." Auch Nick Chester glaubt, dass bei einem Setup entfernt von maximalem Abtrieb der Mann am Volant voll auf seine Kosten kommt: "Als Fahrer kann man absolut ans Limit gehen, ohne dass das Auto völlig am Boden klebt", erklärt der Lotus-Technikchef, was die Bahn so reizvoll macht.
Wetterkapriolen & Papierschiffchen-Rennen möglich
Spannung bietet in Japan auch der Wettergott. Es gibt regelmäßig Veränderungen der Fronten. Nicht zwangsläufig im Verlauf eines Rennwochenendes, aber von Jahr zu Jahr. Die Temperaturen liegen im Bereich von 23 bis 25 Grad. Die Streckentemperaturen schwanken normalerweise zwischen 25 und 38 Grad. Die schwülen Bedingungen führen regelmäßig zu nächtlichen Gewittern, die sich auch in den Tag erstrecken können. Das zeigte sich bei den legendären Papierschiffchen-Rennen in der Boxengasse im Jahr 2010.
Erste Prognosen sagen für das Wochenende sommerliche Temperaturen voraus, allerdings soll es am Rennsonntag zu Niederschlägen kommen. Die Chancen, das Bernd Mayländer im Safety-Car ein paar Runden drehen darf, würden steigen. Die Strecke zählt außerdem zu den "Old-School"-Kursen und die Auslaufzonen bestehen vor allem aus Wiesen, Kiesbetten und Reifenstapeln. Die enge erste Kurve ist ein weiterer wichtiger Faktor. Hier kommt es vor allem auf der ersten Runde zu Berührungen.
Mercedes vor Gewinn des Konstrukteurs-Titels
Toto Wolff wird alle Daumen gedrückt halten, dass es keine zwischen seinen Silberpfeilen ist. Auf einer Strecke, die als Referenzmarke für die Qualität der Fahrzeuge gilt und einen beträchtlichen Vollgas-Anteil besitzt, ist Mercedes mehr als in Singapur der haushohe Favorit. Läuft alles glatt, dürfte die Konkurrenz dem Klassenprimus kein zweites Mal so auf die Pelle rücken wie auf dem Stadtkurs. Das heißt auch: Die Bühne ist bereitet für den nächsten Schlagabtausch zwischen Nico Rosberg und Lewis Hamilton.
Die seit der Sommerpause andauernde Strähne von Pech und Patzern des Deutschen, der erstmals seit vier Monaten nicht mehr als WM-Leader zu einem Grand Prix reist, soll enden. Da Rosberg in der Gesamtwertung nur drei Zähler von seinem britischen Teamkollegen trennen, wären mit einem Sieg die Verhältnisse wieder umgekehrt. Allerdings scheint Hamilton derzeit einen Lauf zu haben und besonderen Hunger auf einen Sieg in Suzuka zu verspüren, wo er in seiner Formel-1-Karriere nie gewann. Holen die Silberpfeile den nächsten Doppelerfolg, ist ihnen der Konstrukteurs-Titel nicht mehr zu nehmen.
Red Bull & Ferrari: Hat das Formplus Bestand?
Nach einem Erfolg lechzt indes auch Sebastian Vettel. Über zehn Monate nach seinem jüngsten Grand-Prix-Sieg in Brasilien 2013 hat der Heppenheimer nicht nur mit den schier übermächtigen Kontrahenten in Silber zu kämpfen, sondern auch mit seinem Teamkollegen Daniel Ricciardo. Immerhin hat das Red-Bull-Lager Mut geschöpft: "Wir hatten in Singapur sehr gute Updates - ein neuer Frontflügel, auch hinten hatten wir einen eigenen und verschiedene Komponenten", erklärt Teamchef Christian Horner bei 'ServusTV'.
Rang zwei in der Konstrukteurs-WM dürften die Österreicher so gut wie sicher haben, wenn sie in den kommenden Wochen nicht komplett einbrechen. In der Fahrerwertung allerdings herrscht ein Vierkampf um Platz drei, in den neben den beiden Red-Bull-Stars (181 respektive 124 Punkte für Vettel und Ricciardo) auch Fernando Alonso (133) verwickelt ist. Der Spanier hatte zuletzt ungewöhnlich offen den positionsmäßigen Stillstand bei der Scuderia beklagt, der seit Monaten herrscht. Suzuka wertet er deshalb als Test, ob der Abstand auf die Spitze wirklich verkürzt wurde.
Williams reist mit großem Update-Paket an
Es ist gut möglich, dass von diesen Erkenntnissen auch die sportliche Zukunft Alonsos abhängt, schließlich wird er immer wieder mit McLaren in Verbindung gebracht. Immerhin scheint Kimi Räikkönen endlich besser mit dem F14 T klarzukommen, was sich allerdings nicht in Ergebnissen manifestiert. Kurzum: Es sieht stark danach aus, als sollte der scheidende Ferrari-Präsident Luca di Montezemolo in seiner bis zum 13. Oktober währenden Amtszeit nicht mit einem Sieg verabschiedet werden.
Deutlich näher an einem großen Pokal war WM-Bronze-Kandidat Nummer vier: Valtteri Bottas (122 Punkte). Er und Williams erlebten in Singapur einen Rückschlag, nahmen aus dem Stadtstaat jedoch positive Erkenntnisse mit. Nachdem der Antriebsstrang und insbesondere die enorme Höchstgeschwindigkeit seit Saisonbeginn zu den großen Stärken der Briten zählen, scheinen sie endlich auch das Management der Reifen in den Griff bekommen zu haben. Im Gepäck nach Japan befindet sich ein großes Aero-Paket, das in Suzuka für den letzten Kick sorgen könnte.
Dreikäsehoch Verstappen debütiert
Aus diesen Gefilden verabschiedet zu haben scheinen sich Force India und Nico Hülkenberg. Für die Vijay-Mallya-Truppe steht nur noch der Kampf um Rang fünf in der Konstrukteurs-Wertung auf der Agenda, den es gegen den im Jahresverlauf ebenfalls zunehmend schwächelnden Ex-Technikpartner McLaren zu gewinnen gilt. Adrian Sutil und Sauber gehen in der schlechtesten Saison der Teamgeschichte auf die Hatz nach den ersten WM-Punkten, dürften aber nur bei Chaos und Regen mit realistischen Chancen gesegnet sein.
Ein seltenes Spannungsmoment verspricht das Freie Training, in dem Toro-Rosso-Youngster Max Verstappen drei Tage nach seinem 17. Geburtstag zum ersten Mal an einem Grand-Prix-Wochenende mit einem Formel-1-Boliden unterwegs sein wird. Der Niederländer ersetzt Jean-Eric Vergne, den er 2015 auch als Stammpilot ablöst. "Mein Vater (Ex-Pilot Jos; Anm. d. Red.) ist oft in Suzuka gefahren und hat mir erzählt, dass es für den Anfang keine einfache Strecke ist. Es wird für mich eine wertvolle Erfahrung sein, Zeit im Auto zu verbringen und mit dem Team zusammen zu arbeiten", sagt Verstappen, der sich sonst im Simulator vorbereitet.