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Rennvorschau Melbourne: Warum es chaotisch wird
Die Vorschau auf den Formel-1-Saisonauftakt: Warum mehr Stopps ein Nachteil sind, die Strecke für Red Bull ungünstig ist und Petrus das Chaos perfekt machen könnte
(Motorsport-Total.com) - Eigentlich ist Melbourne der perfekte Austragungsort für den Saisonstart. Die gesamte Stadt lebt und atmet an diesem Wochenende die Formel 1, die Strecke befindet sich unweit des Stadtkerns und die Begeisterung der "Aussies" ist überall zu spüren. Auch am Strand von St. Kilda, der von der Strecke zu Fuß erreichbar ist und von den Teams im Vorfeld des Rennens gerne für PR-Termine genutzt wird. Da kann man schon einmal Stars wie Lewis Hamilton in lockerer Atmosphäre über den Weg laufen.
© xpb.cc
Für Melbournes Skyline werden die Piloten dieses Jahr noch weniger übrig haben Zoom Download
Und wenn es dann im Albert Park wirklich losgeht, hat man immer noch das Gefühl, sich als Gast bei einer gemütlichen Gartenparty zu befinden. Im Fahrerlager, wo Campingstühle, Tische und Sonnenschirme in der Wiese stehen, wirkt alles entspannter, freundlicher und familiärer als sonst. Ein Eindruck, der dieses Jahr enormer Hektik weichen könnte - denn selten zuvor kam die Königsklasse des Motorsports unvorbereiteter zum Saisonstart als 2014.
Ausfallsorgie droht
Der Wechsel von den altgedienten V8-Saugmotoren auf die hochkomplexen V6-Turbo-Antriebseinheiten mit doppelter Energierückgewinnung hat die Formel-1-Teams maßlos überfordert. Zwölf Testtage reichten nicht annähernd aus, damit die Teams und Motorenhersteller den Boliden ihre Kinderkrankheiten austreiben konnten.
"In Melbourne könnte es passieren, dass kein einziges Auto die Zielflagge sehen wird, weil alle Teams so schwerwiegende Probleme bei den Testfahrten hatten", prophezeit Roberto Dalla, Chef des Formel-1-Elektronikzulieferers Magneti Marelli, gegenüber der 'Gazzetta dello Sport'. Ein derartiges Ergebnis wäre eine Schmach für den Sport, doch ausschließen kann dies derzeit niemand, zumal sogar das Mercedes-Team, das am besten vorbereitet in die Saison geht, mit unerwarteten Problemen rechnet.
Melbourne: Weniger Probleme als beim Testen?
Zudem hat der Albert Park Circuit in der Vergangenheit immer wieder für unberechenbare und ausfallsreiche Rennen gesorgt. 1999, 2002 und 2008 waren nur acht Piloten klassiert, 1998 waren es neun. Angesichts der größten Reglementänderungen der Formel-1-Geschichte darf davon ausgegangen werden, dass man diese Marken 2014 unterbieten kann. Das würde bedeuten: Wer das Ziel sieht, sieht auch automatisch WM-Punkte.
Melbourne darf tatsächlich als absolute Herkulesaufgabe betrachtet werden, da viele Teams bei den Tests noch keine Rennsimulationen abgespult haben - auch Boxenstopps-Trainings, Setup-Arbeit und ähnliche Dinge stehen vor allem bei den Renault-Teams erst in Australien auf dem Programm. Es gilt bereits jetzt als fix, dass bei einigen Fahrern und Ingenieuren die Nerven blank liegen werden, denn die Trainingstage werden wie die Tests voraussichtlich von Pannen geprägt sein, auch wenn die Fehlerquote sinken wird.
"Beim Testen geht man natürlich näher an die Grenze, weil man die ja finden will", erklärt Formel-1-Simulationsexperte Peter Schöggl von der österreichischen Firma AVL gegenüber 'Motorsport-Total.com'. "Nach dem Ende der Wintertests bleiben aber noch eineinhalb Wochen Zeit, um für Abhilfe zu sorgen. Das klingt nach sehr wenig Zeit, aber die Teams sind ja wahnsinnig schnell. Vermutlich wird es in Melbourne weniger Probleme geben als beim Testen."
Technikprobleme im Training könnten sich böse auswirken
Wenn aber der Fehlerteufel in Aktion tritt, dann könnte es im Gegensatz zur vergangenen Saison zu längeren Wartezeiten kommen. "Wenn ein Problem auftritt, dauert ein Motorwechsel mehrere Stunden bis zu einem halben Tag", weiß Schöggl. "Früher ging das in einer halben Stunde bis Stunde: Motor raus, Motor rein, ein paar Kabel anschließen, Benzin, Wasser, Öl - und man konnte schon wieder starten. Das hat sich komplett verändert, auch wegen der vielen Kühlkreisläufe."
Fotostrecke: FIA-Fast-Facts: Australien
1996 wurde im Albert Park zum ersten Mal ein Formel-1-WM-Lauf ausgetragen. Bereits in den 1950er-Jahren fand zweimal ein Grand Prix von Australien in Melbourne statt, damals aber ohne WM-Status als "formelfreies Rennen". 1956 gewann Stirling Moss am Steuer eines Maserati 250F. Fotostrecke
Dazu kommt, dass manche Piloten bei den Tests so wenig zum Fahren gekommen sind, dass sie die vielen neuen Knöpfe am Lenkrad und andere Bedienelemente der neuen komplexen Technik nur rudimentär kennen. "Manchmal ändern wir die Einstellung vier- oder fünfmal pro Runde, was ein bisschen zu viel ist", klagt Lotus-Pilot Romain Grosjean. "Das ist ein eine ziemliche Herausforderung."
Zweithöchster Spritverbrauch der gesamten Saison
Dann wäre da noch der Spritverbrauch, der dieses Jahr auf 100 Kilogramm pro Rennen limitiert ist - das ist um ein Drittel weniger als 2013. Da sich Vollgas-Passagen mit meist langsamen Kurven abwechseln, wird den Verbrennungsmotoren einiges abverlangt, was auch den Verbrauch in die Höhe treibt.
Im V8-Zeitalter handelte es sich bei Melbourne um den Kurs mit dem zweithöchsten Spritverbrauch in der gesamten Saison - das dürfte sich auch in der V6-Ära nicht ändern. "Bei einigen Rennen werden wir uns Gedanken machen müssen, wie wir am besten Sprit sparen", weiß auch Ferrari-Chefingenieur Fry.
"Wir werden die elektrische Energie und den Spritverbrauch miteinander abwägen und so herausfinden, welcher Weg der beste für das Rennen sein wird", ergänzt er. Schöggl rechnet mit Auswirkungen auf den Rennverlauf: "Der eine wird bei der Spritanzeige im roten Bereich sein und dann sparen müssen, der andere kann Gas geben."
Wetterbericht sorgt für zusätzliche Spannung
Und zu allem Überdruss könnte auch das Wetter an diesem Wochenende verrückt spielen: An den Trainingstagen werden hohe Temperaturen um die 30 Grad Celsius erwartet, am Renntag könnte es zu einem Temperatursturz kommen. Die Wetterfrösche prognostizieren Werte unter 20 Grad - dazu kommen mögliche Regenschauer.
Regnet es wirklich, könnte sich der Kurs im Albert Park plötzlich in eine Art Eislaufplatz verwandeln. Das Rennen wird zum Teil auf öffentlichen Straßen ausgetragen - die Verkehrsmarkierungen sorgen für enorme Ausrutschgefahr. Zudem besitzen die Teams kaum Erfahrungswerte der neuen Antriebseinheiten bei Nässe - das deutlich höhere Drehmoment sorgt bereits auf trockener Piste für durchdrehende Hinterräder. Man kann sich also vorstellen, mit welchen Herausforderungen die Piloten auf einer feuchten Strecke konfrontiert wären.
Fans dürfen sich auf Quersteher und Drifts freuen
Auch wenn es nicht regnen sollte, dürfen sich die Fans in Melbourne auf zahlreiche Quersteher und Drifts freuen. Dafür sorgt das Layout mit seinen engen Ecken, der geringe Grip und die noch nicht optimal justierten Motoreneinstellungen. Ein Faktor, der ganz klar gegen Red Bull und die anderen Renault-Teams spricht, denn gerade das Ansprechverhalten des Motors war bei den Tests eine der Problemzonen.
"Zuerst steigst du aufs Gas, aber die Leistung kommt nicht", beschreibt Red-Bull-Motorsportkonsulent Helmut Marko gegenüber 'ServusTV' das sogenannte Turboloch, das Sebastian Vettel zu schaffen machte. "Und dann kommt die Leistung urplötzlich, die Räder drehen durch, dadurch rutscht das Auto, du verlierst Speed, aber auch Drehzahl, weil du wieder vom Gas musst." Dadurch sei es für Red Bull "nicht möglich, kontinuierlich Kurven und konstante Rundenzeiten zu fahren".
Streckenlayout: Vorteil Mercedes, Nachteil Red Bull
All das ist ein Beweis dafür, dass Renault und Red Bull das Zusammenspiel der Elektromotoren und des Verbrennungsaggregats noch nicht im Griff haben. Das könnte sich in Melbourne wegen der Streckencharakteristik, die eine gute Traktion erfordert, besonders stark bemerkbar machen.
Grundsätzlich sind sich aber alle einig, dass der Sieg in Australien - wenn alles mit rechten Dingen zugeht - nur über ein Mercedes-Team führt. Für Surer gilt als "sicher", dass die Silberpfeile, Williams, McLaren und Force India sowie Ferrari "untereinander das Rennen ausmachen" werden. Und Mercedes-Aufsichtsratsvorsitzender Niki Lauda tippt gegenüber dem 'ORF', "dass die ersten drei Startplätze beim Grand Prix Mercedes-Motoren sein müssen".
Williams und Force India als Geheimtipps
Im Gegensatz zum Renault-Motor ist das Mercedes-Triebwerk nicht nur standfester, sondern auch fahrbarer, was in Melbourne ein entscheidender Faktor sein wird. Das bestätigt auch Lauda: "Alle Fahrer mit Mercedes-Motor - die ich natürlich alle gefragt habe - haben gesagt, dass der Motor im ersten Moment sehr einfach zu fahren ist und auch bis jetzt die Leistung bringt."
Es wäre also durchaus möglich, dass sich das Feld in Australien in eine Dreiklassengesellschaft unterteilt: vorne die Mercedes-Boliden, in der Mitte die Ferrari-Fahrzeuge und am Ende die Renault-Autos. Bei Mercedes versucht man gar nicht, die Favoritenrolle abzustreifen, Williams gilt nach den tollen Wintertests als heißer Außenseiter, der das Werksteam möglicherweise herausfordern kann, und Force India mit Nico Hülkenberg befindet sich in Lauerstellung.
Zumal sich der Emmericher in Melbourne über eine abgespeckte Version seines Boliden freuen darf: Das Chassis wird um zehn Kilogramm leichter, wodurch das Auto unter dem Mindestgewicht liegt und man daher mit Zusatzgewichten bei der Balance spielen kann. Zudem wird der Bolide mit neuen Flügeln, einem neuen Unterboden und überarbeiteten Leitblechen aufgerüstet.
Button dämpft McLaren-Erwartungen
Die große Unbekannte stellt aktuell Ferrari dar. In Maranello sieht man sich derzeit hinter Mercedes und Williams "als dritte Kraft". Es gibt aber Gerüchte, wonach man bei den Tests bluffte und besser aufgestellt ist, als dies den Anschein macht.
Ebenfalls mit Ferrari-Power ist dieses Jahr Adrian Sutil unterwegs: Sein Sauber-Team hatte am Ende der Tests immerhin die Zuverlässigkeit im Griff. Es wäre aber schon eine Überraschung, wenn der Gräfelfinger wie im Vorjahr bei seinem Force-India-Comeback das Rennen anführen würde.
Rennen des Jahres für Marussia und Caterham
Auf eine Überraschung hoffen auch die beiden Nachzügler Marussia und Caterham. Für sie ist der Grand Prix von Australien das vielleicht wichtigste Rennen in der Teamgeschichte. Noch nie war die Chance auf WM-Punkte so groß wie jetzt, denn in Melbourne droht eine Ausfallsorgie. Oberstes Ziel also: das Ziel erreichen.
Im "Kellerduell" hat nach den Tests ganz klar Marussia die Oberhand. Das russische Team verfügt mit Ferrari über den besseren und zuverlässigen Motorenpartner und erlebte im Vergleich zu einigen anderen Teams überraschend problemlose Versuchsfahrten. "Die Leute werden überrascht sein, wie konkurrenzfähig sie tatsächlich sind", prophezeit Button.
Mit einem guten Punkteergebnis könnte die Entscheidung, welches der beiden Teams 2015 in den Genuss der TV-Gelder kommen wird, bereits in Melbourne fallen. Und auch Sensationen können in Melbourne keineswegs ausgeschlossen werden. "Der Grand Prix von Australien ist dieses Jahr auch ein bisschen Casino, denn so genau weiß nach den dramatischen Regeländerungen über den Winter niemand, was uns erwartet", vermutet Safety-Car-Fahrer Bernd Mayländer in seiner neuen Kolumne auf 'Motorsport-Total.com'.
Vieles spricht für weniger Stopps
Das könnte auch für ihn Folgen haben - die Wahrscheinlichkeit, dass Mayländer an diesem Wochenende zum Einsatz kommt, ist außerordentlich groß. "Die Chancen liegen gewöhnlich bei etwa 50 Prozent", weiß Williams-Ingenieur Rod Nelson. Mit einem gewöhnlichen Rennen rechnet aber ohnehin kaum jemand.
Das könnte sich auch auf die Strategie auswirken, denn: Je weniger Stopps man plant, desto flexibler kann man auf eventuelle Schrittmacher-Phasen während des Rennens reagieren. Zudem sinkt der Spritverbrauch, wenn man seltener stoppt. Auch Pirelli würde dies den Teams mit härteren Reifenmischungen ermöglichen: Während im Vorjahr die Supersoft-Reifen zum Einsatz kamen, sind es dieses Jahr Soft und Medium. Pirellis Motorsportchef Paul Hembery rechnet mit "zwei bis drei Stopps".
Kommen die Reifen nicht auf Temperatur?
Sinken die Temperaturen am Sonntag wirklich um zehn Grad Celsius, könnten die Piloten große Probleme haben, die neuen Pneus auf Temperatur zu bringen. Das gilt vor allem für die Rennställe, deren Boliden nicht zu konkurrenzfähigen Rundenzeiten imstande sind und daher weniger Reifentemperatur aufbauen.
So klagen einige Piloten schon in Bahrain, wo die Quecksilbersäule über 30 Grad anzeigte, über zu kalte Reifen. Es deutet also einiges daraufhin, dass ab dem Saisonauftakt in Melbourne auch die hitzigen Diskussionen um das "Schwarze Gold" der Formel 1 ein Comeback feiern werden - und damit eine weitere Unbekannte in die komplexe Gleichung eingefügt werden muss. Eines ist daher schon jetzt sicher: Bis zur Zielflagge kann im Albert Park dieses Jahr alles passieren...