Es bröselt und bröckelt: Wessen Reifen halten durch?
Halten die weichen Reifen drei Kurven oder doch fünf Runden: Das ist die spannende Frage vor dem morgigen Rennen - Strategien in allen Formen und Farben?
(Motorsport-Total.com) - Und täglich grüßt das Murmeltier. Doch halt, in Kanada sind wir doch noch gar nicht, wo die possierlichen Tierchen den Fahrern auch mal auf der Strecke zuwinken. Vielmehr dürfte für alle Fahrer schon wieder Murmeltiertag sein - wie an jedem Rennwochenende. "Es geht nur um Reifen, Reifen, Reifen, Reifen, Reifen....(etc.)", hatte Mark Webber vor drei Wochen in Malaysia moniert. Und auch in China drehen sich die Strategien der Teams wieder um das schwarze Gold.
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Die Reifen brauchen auch in China wieder eine besondere Streicheleinheit Zoom Download
Doch irgendetwas ist an diesem Wochenende anders. Genau, Sebastian Vettel steht nicht auf der Pole-Position. Anders als in Melbourne und Sepang entschied sich der Red-Bull-Pilot für ein Taktikspielchen und legt sich morgen mit den harten Pneus von Rang neun aus auf die Lauer - auf die Lauer nach zerbröselnden weichen Reifen vor sich. Wie schnell das gehen kann, hat der Auftakt im Albert Park gezeigt, als die ersten Fahrer schon nach vier Runden die supersoften Reifen loswerden wollten.
Viel länger werde es auf dem Shanghai International Circuit am Sonntag auch nicht dauern, will TV-Experte Marc Surer beobachtet haben: "Schon nach fünf Runden bauen die Reifen brutal ab. Nach der Qualifikation haben die weicheren Pneus bereits drei Runden hinter sich. Man kann also davon ausgehen, dass vielleicht fünf schnelle Runden möglich sind. Dann sind die Reifen hinüber", so der Schweizer Ex-Pilot.
"Wobei die Fahrer ja losfahren und das im Hinterkopf haben. Sie fahren also wie auf rohen Eiern und versuchen, die Reifen am Leben zu erhalten, um möglichst lange auf der Strecke bleiben zu können. Mal sehen. Vielleicht gibt es ja doch noch eine Überraschung", analysiert Surer. Eine Überraschung wie in Melbourne, als Adrian Sutil das Rennen aufgrund seiner Strategie lange Zeit anführte? "Es ist möglich", spricht der Deutsche seine Chancen an.
Ist die Pole nichts mehr wert?
"Die Fahrer auf den weichen Reifen werden ziemlich früh stoppen, also werden wir vielleicht ein ähnliches Szenario erleben. Man muss aber auch im Hinterkopf behalten, dass man in Australien ein wenig länger auf den harten Reifen bleiben konnte. Hier sollte die Lebensdauer der härteren Pneus ebenfalls begrenzt sein", so der Force-India-Pilot, der noch nicht entschieden hat, welche Pneus er morgen für den Start aufziehen lassen will.
Ohnehin wird es für ihn schwerer, einen ähnlichen Husarenritt wie im Albert Park zu vollbringen. Entscheidet er sich für die weichen Reifen, muss er sowieso früh an die Box. Entscheidet er sich für die härtere Mischung liegen trotzdem noch Fahrer wie Jenson Button oder Sebastian Vettel vor ihm, die eine ähnliche Strategie fahren und ihn wohl nicht so einfach vorbei lassen. Sebastian Vettel, wie schon angesprochen, ging in Q3 gar nicht erst auf die Jagd nach der Pole-Position. Genau wie Nico Hülkenberg. Scheinbar ist die Pole in Zeiten des Reifenzerfledderns nicht mehr viel wert, oder?
"Doch, die ist schon noch etwas wert", verteidigt der Sauber-Pilot. Allerdings sei es doch wichtiger, die Strategie für den Rennsonntag festzulegen. Den weichen Reifen will er zu Beginn nicht unbedingt aufziehen: "Die weichen Reifen sind gestern ziemlich auseinandergefallen, das wird morgen sehr schwierig und extrem zu managen", weiß 'Hulk'. "Für uns wäre es eh nicht um die Pole-Position gegangen, von daher ist es für uns eh nicht relevant gewesen."
Wer kämpft, verliert
Doch irgendwann wird auch Hülkenberg an die Box kommen müssen, um sich die soften Schlappen zu holen. Ob diese Taktik unbedingt besser ist, wird sich morgen herausstellen. Mark Webber kann sich in jedem Fall nicht vorstellen, dass das viel bringen wird, wie man an Sutil in Melbourne gesehen habe. "Er hat gesagt, dass es nicht funktioniert hat, weil er mit Leuten auf der Strecke gekämpft hat", schildert der Australier. Dementsprechend hat er einen ganz simplen Trick, um die Reifen am Leben zu erhalten: "Kämpf' nicht mit anderen Leuten."
Der Rat des Red-Bull-Piloten dürfte zumindest für die weich beginnenden Piloten am Start nur schwer umsetzbar sein. Hinzu komme laut Mercedes-Teamchef Ross Brawn ein weiteres Problem: Wer anfangs auf den weicheren Reifen losfährt, wird nach seinem Stopp in den Verkehr zurückfallen", so der Brite. Trotzdem hat er seine beiden Fahrern in Q3 auf weichen Reifen in die Spur geschickt - mit unterschiedlichem Erfolg. Während Lewis Hamilton das Rennen von der (vielleicht nicht mehr so wichtigen) Pole in Angriff nehmen darf, startet Teamkollege Nico Rosberg vom vierten Rang.
Der Deutsche ist sich sicher, dass den Zuschauern die Reifenaction gefallen wird: "Es wird sicher ein verrücktes Rennen. Die Frage bei diesen Reifen ist nicht, wie viele Runden sie halten, sondern eher, wie viele Kurven sie überstehen. Mit den weichen Reifen schaffen wir vielleicht drei Kurven, und dann ist Ende. Dann zerfetzen sie sich, weil sie einfach ein bisschen zu weich sind." Jenson Button reibt sich deswegen schon die Hände: "Hoffentlich habe ich einen guten Start und dann irgendwann eine freie Strecke vor mir."
Normale Dreistopp-Strategie erwartet
Falls sich jetzt immer noch jemand im Unklaren über die Haltbarkeit der gelb markierten Pirelli-Softs befindet, dem seien hier noch kurz ein paar Fahrerzitate präsentiert: Während es Lewis Hamilton "unmöglich" findet, die weichen Reifen am Leben zu erhalten, vergibt Sebastian Vettel "Schulnote sechs". Mark Webber vergleicht die Reifen sogar mit einem Wrestlingverband: "Jeder weiß, was mit den Pneus los ist und ist sich im Klaren darüber, dass es sich nicht um einen Rennreifen handelt."
Kurz gesagt: "Wahrscheinlich wollen viele ihn schnell loswerden." Doch zur eigentlichen Kernfrage: Wie wirkt sich der Reifen auf die morgige Rennstrategie aus? Wie viele Boxenstopps dürfen die Zuschauer erwarten angesichts der Horrorszenarien Rosbergs, der weiche Reifen würde wirklich nach drei Kurven am Ende sein? Drei Stopps? Vier Stopps? Fünf Stopps? Pirelli-Motorsportchef Paul Hembery sieht wie immer nur Panikmache in den Aussagen der Fahrer: "Wir glauben, dass die meisten Piloten mit einer Drei-Stopp-Strategie unterwegs sein werden", so der Brite.
Auch Jenson Button glaubt nicht an eine erhöhte Zahl an Stopps: "Ich denke, viele Fahrer werden drei Boxenstopps absolvieren. Es würde mich überraschen, eine Vierstopp-Strategie zu sehen. Dafür müsstest du schon sehr große Reifenprobleme haben." Dem Grundtenor nach haben die aber fast alle Fahrer. Vermutlich werde es sich am Ende wie immer als halb so schlimm herausstellen, glaubt Hembery. Er sieht auch Zweistopp-Strategien als Möglichkeit für den Rennsonntag - und geht sogar noch eine Stufe weiter: "Hätten wir den harten Reifen mitgebracht, würden wir vielleicht eine Strategie mit nur einem Boxenstopp sehen."
Strategien en masse
So oder so, die Reifenfrage wirft für morgen viele Taktikmöglichkeiten in den Ring. Zumindest die Piloten, die ihr Rennen auf der Medium-Mischung beginnen dürften einigen Spielraum haben. Marc Surer rechnet vor: "Fünf Runden vor Schluss kannst du abbiegen und die weichen Reifen holen. Man kann auch sagen: Ich habe zwischendurch ein paar Runden lang freie Fahrt, hole mir die weicheren Reifen und knalle vier, fünf schnelle Runden hin. Wenn die dann hinüber sind, wechsle ich sofort wieder und fahre mit der härteren Mischung weiter. Alles ist möglich."
Doch unabhängig vom morgigen Rennen haben die Pneus schon im heutigen Qualifying wieder für eine leere Strecke und ungeliebte Taktiken gesorgt, nur sieben Fahrer haben in Q3 eine konkurrenzfähige Zeit auf weichen Reifen gesetzt - und das auf den allerletzten Drücker. Grund: "Die Strategie wird am Sonntag deutlich wichtiger sein als vielleicht zwei, drei Positionen in der Startaufstellung", erklärt Felipe Massa.
Obwohl dieses Szenario bereits in den vergangenen beiden Jahren zu beobachten war, wurden noch keine Lösungsvorschläge umgesetzt. Dabei wäre es vermutlich so einfach, hat Nico Rosberg die passende Idee: "Man könnte sicherlich überlegen, einen Reifensatz mehr an die Strecke zu bringen." Ob das der Weisheit letzter Schluss ist, bleibt abzuwarten, doch eines ist sicher: Auch Pirelli sind bei den Regeln der FIA die Hände gebunden.