Ferrari: Im Nachhinein ist man klüger...
Niemand wirft Ferrari vor, um den Sieg gezockt zu haben, doch bei McLaren glaubt man, dass Fernando Alonso auch mit zwei Stopps gewinnen hätte können
(Motorsport-Total.com) - Bis in die 64. von 70 Runden lag Fernando Alonso beim gestrigen Grand Prix von Kanada in Führung, dennoch kam er nur als Fünfter ins Ziel - und das, obwohl er keinen späten Boxenstopp mehr einlegte. Oder gerade deswegen? Denn Sieger Lewis Hamilton und der viertplatzierte Sebastian Vettel entschieden sich für eine Zweistopp-Strategie und kamen damit vor dem Ferrari-Piloten an.
Als Hamilton einmal vorbei war, brachen die Soft-Pirellis von Alonso binnen kürzester Zeit hoffnungslos ein - so dramatisch, dass in der letzten Runde fast sogar noch Nico Rosberg vorbeigezogen wäre, der seinen Rückstand auf den letzten 4,361 Kilometern von 3,6 auf 0,4 Sekunden verkürzen konnte. Davor waren der Reihe nach Hamilton, Romain Grosjean, Sergio Perez und Vettel am inzwischen entthronten WM-Leader vorbeigezogen.
Nur noch Kanonenfutter
Doch da war Alonso nur noch Kanonenfutter: "Das waren keine spektakulären Überholmanöver mehr, sondern eher ein Vorbeilassen und Hoffen, dass die Reifen noch bis ans Ende des Rennens halten", zeigt Adrian Sutil als Experte des TV-Senders 'Sky' Mitleid mit dem Ferrari-Piloten. "Alonso hat es wirklich durchgezogen mit einem Stopp, aber am Ende waren die Reifen wirklich hinüber. Dann hat er wesentlich mehr Plätze verloren, denn sonst wäre ein zweiter Platz drin gewesen."
"Er hat's riskiert. Womöglich ist er auf Sieg gegangen", vermutet der ehemalige Force-India-Fahrer - und liegt mit seinem Verdacht goldrichtig: "Wenn ich hinter Hamilton an die Box komme, werde ich Zweiter hinter Hamilton", erlaubt Alonso Einblicke in seine Überlegungen während des Rennens. "Aber wenn meine Reifen genauso abbauen wie bei Grosjean, dann gewinne ich das Rennen, Vettel wird Zweiter, Grosjean Dritter und Hamilton Vierter."
"Ich finde nicht, dass es die falsche Strategie war. Grosjean hätte mit einem Stopp fast gewonnen. Ein Stopp war die richtige Strategie", reibt er den bohrenden Journalisten unter die Nase. Wenn das Pokerspiel um den zweiten Saisonsieg aufgegangen wäre, "dann würdet ihr jetzt bei McLaren stehen und denen sagen, dass zwei Stopps die falsche Strategie sind", lässt der 30-Jährige die Kritik am Verzicht auf einen zweiten Boxenstopp nicht stehen.
McLaren: Alonso hätte gewinnen können
Ideal wäre gewesen, mit oder kurz nach Hamilton, also um die 50. Runde herum, Reifen zu wechseln. Denn mit einem Stopp in der 51. Runde hätte Alonso sogar gewinnen können: "Nach Lewis' zweitem Stopp hatte Fernando Lewis kurzeitig im Griff, da hatte er für eine Runde einen Boxenstopp Vorsprung", rechnet McLaren-Sportdirektor Sam Michael vor. "Wenn er dann in die Box gekommen wäre, hätte er Lewis vielleicht bis ins Ziel hinter sich halten können."
Der ehemalige Technische Direktor des Williams-Teams kann die Überlegung seiner Kollegen bei Ferrari aber durchaus nachvollziehen: "Wir könnten uns natürlich hinstellen und sagen, dass Red Bull und Ferrari die falsche Strategie gewählt haben, aber bei Lotus und Sauber hat diese Strategie funktioniert. Die sind mit diesen Reifen 44 Runden gefahren. Hätten sie bei Alonso genauso lange gehalten, hätte er uns geschlagen."
Eigentlich nur nach Vettel gerichtet
"Ungefähr zehn Runden vor Schluss" wurde bei Ferrari entschieden, nicht mehr an die Box zu kommen - und zwar relativ spontan, wie Alonso verrät: "Als Hamilton reinkam, blieben wir zuerst nur draußen, um zu sehen, was Vettel macht. Zehn Runden vor Schluss dachten wir dann, dass es nichts mehr bringt, an die Box zu gehen, weil ein Boxenstopp 15 Sekunden kostet. Die musst du in neun Runden erst einmal aufholen. Also blieben wir draußen."
Vettel hingegen zog den richtigen Schluss, als Hamilton in der 62. Runde mühelos an ihm vorbeidüste, und absolvierte einen extrem späten zweiten Stopp. "Er hat Schadensbegrenzung betrieben, indem er zwar sehr spät, aber doch noch gestoppt hat", analysiert Sutil. "Alonso hat gar nicht mehr gestoppt, ist voll auf einen Stopp gegangen. Das hat ihn weit nach hinten geworfen. Vettel hat gut reagiert, aus dieser Situation noch ein bisschen was rauszuholen."
"Im Nachhinein ist man immer klüger", seufzt Ferrari-Teamchef Stefano Domenicali, der aber grundsätzlich findet, dass sein Kommandostand heute gute Entscheidungen getroffen hat: "Wir haben beim ersten Stopp alles richtig gemacht und sind in Führung gegangen, und danach war nicht klar, ob ein oder zwei Stopps besser sind." Auch Hamilton kam in erster Linie rein, weil er davon ausging, dass Alonso und Vettel ebenfalls nicht durchfahren können.
Auch Massa mit Reifenproblemen
"Aufgrund von Fernandos Tempo und seiner Aussagen dachten wir, dass eine Einstopp-Strategie funktionieren müsste", so Domenicali. "Es gibt den Punkt, da muss man sich entscheiden. An diesem Punkt sah alles gut aus, also behielten wir die Richtung bei. Klar, im Nachhinein war das falsch, aber der eigentliche Fehler war, dass wir Vettel am Ende nicht abgedeckt haben. Wir hätten nicht damit gerechnet, dass er so schnell aufholen kann und dass unsere Reifen so eklatant abbauen."
Felipe Massa kann verstehen, dass sich sein Teamkollege im Finish nicht mehr wehren konnte: "Du spürst, dass die Hinterreifen abbauen, und nach ein paar Runden sind sie komplett am Ende", bestätigt der Brasilianer. Massa musste in der zwölften Runde wegen eines Drehers seinen ersten Boxenstopp vorziehen und kam in Runde 58 noch einmal rein. Dabei hatte er eigentlich vor, mit einem Stopp durchzufahren.
"Ich habe es versucht", glaubt Massa, dass eine Einstopp-Strategie für Ferrari keine gute Option war. "Es wäre besser gewesen, früher zu stoppen, denn dann hätte ich ein, zwei Positionen gewonnen, trotz meines Fehlers. Ich war der Erste an der Box, weil meine Reifen nach dem Dreher eine flache Stelle hatten und Vibrationen erzeugten. Die Soft-Reifen waren konstant, aber die Restdistanz war für eine Einstopp-Strategie einfach zu lang."