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McLaren gewinnt Reifenkrimi in Montréal
Lewis Hamilton vor Jenson Button im strategisch geprägten Grand Prix von Kanada - Vettel auf Platz vier - Schumacher verliert WM-Punkte im Finish
(Motorsport-Total.com) - Viel wurde nach dem gestrigen Qualifying darüber gesprochen, dass die Reifen heute den Grand Prix von Kanada entscheiden könnten, und das Rennen in Montréal war tatsächlich vom "schwarzen Gold" geprägt. Am besten löste erneut das McLaren-Team den Reifenkrimi auf dem Circuit Gilles Villeneuve: Lewis Hamilton und Jenson Button feierten nach Istanbul ihren zweiten Doppelsieg hintereinander!
Die auf harten Reifen gestarteten und deshalb von vielen Experten favorisierten Red Bulls erlebten im Gegensatz zu den britischen Chrompfeilen keinen reibungslosen Nachmittag, kamen nur auf den Positionen vier (Sebastian Vettel) und fünf (Mark Webber) ins Ziel und verloren damit die Führung in der Fahrer-WM. Die wurde an den heutigen Sieger Hamilton und dessen McLaren-Team abgegeben, das derzeit auf Wolke sieben zu schweben scheint.
Handicap für Webber
"Wir haben die besten Fahrer der Welt", jubelt Teamchef Martin Whitmarsh - und das wohl nicht ganz zu Unrecht, denn dass Hamilton und Button als Erster und Zweiter über die Ziellinie fahren würden, hätte zu Beginn des turbulenten 70-Runden-Rennens wohl kaum jemand gedacht. Hilfreich war sicherlich, dass Webber nicht als Zweiter, sondern nur als Siebter in den Grand Prix starten konnte, weil Red Bull das Getriebe des Australiers wechseln musste.
Kanada 2010 war von den ersten Metern an ein richtiger Thriller! Zwar fädelten sich die Top 3 (Hamilton, Vettel und Ferrari-Pilot Fernando Alonso) im Senna-S sauber ein, aber dahinter krachte es gleich einmal: Michael Schumacher (Mercedes) verlor ein kleines Frontflügelelement am Renault von Robert Kubica (Renault), während Vitantonio Liuzzi (Force India) und Felipe Massa (Ferrari) bei ihrer Berührung einen richtigen Blechschaden anrichteten.
In diese Kollision wäre übrigens beinahe auch Button hineingezogen worden. Weiter hinten im Feld räumte der quer über die Strecke fliegende Renault von Vitaly Petrov Pedro de la Rosas Sauber ab, was dem Russen später eine seiner zwei Durchfahrstrafen einbrachte. Profiteur dieser chaotischen Szenen war Schumacher, der sich vor Webber als Vierter einreihte. Nico Rosberg (Mercedes) fiel im Gegensatz dazu auf Rang 13 zurück, weil er in der ersten Runde blockiert wurde.
Früher Doppelausfall für Sauber
Wer glaubte, dass wie so oft in der Formel 1 nach der anfänglichen Hektik Ruhe einkehren würde, der lag völlig falsch. Denn Ende der zweiten Runde besiegelte Kamui Kobayashi mit einem Abflug an der "Wall of Champions" den Sauber-Doppelausfall, während Webber im Kampf um Platz vier die Schlagzahl gegen Button erhöhte - und tatsächlich einen Weg am McLaren vorbei fand, als die weichen Reifen nachließen und die harten immer mehr zum Vorteil wurden.
Bereits in der fünften Runde eröffnete Rosberg den heutigen Reifenkrimi, indem er von Supersoft auf Medium wechselte. "Das war genau die richtige Strategie", findet Mercedes-Sportchef Norbert Haug. Wäre ein Safety-Car auf die Strecke gegangen, hätte Rosbergs Taktik sogar voll aufgehen können, aber wie durch ein Wunder lief der Grand Prix von Kanada dieses Jahr ohne Gelbphase ab, weil es während des Rennens keine wirklich schweren Unfälle gab.
An der Spitze bildete sich früh ein Paket mit Hamilton, der von Vettel unter Druck gesetzt wurde, und Alonso. Webber konnte nach seinem Überholmanöver gegen Button rasch zu diesem Trio aufschließen - bis Red Bull sogar die Doppelführung erbte, als Hamilton und Alonso gleichzeitig zum ersten Boxenstopp kamen. Dabei arbeitete die Ferrari- besser als die McLaren-Crew, was Alonso ermöglichte, in der Boxengasse an Hamilton vorbeizugehen!
Heißes Duell in der Boxengasse
"Ich kam weit vor ihm rein, aber wir hatten nicht den besten Boxenstopp", erinnert sich Hamilton an den Positionstausch mit seinem früheren Erzrivalen. "Ich habe gar nicht gesehen, dass er da war, aber dann habe ich versucht, ihm genug Platz zu lassen. Er kam da auch an mir vorbei, aber wir hatten dann eine gute Pace - und wir haben die Nachzügler gut gemanagt, was heute einer der entscheidenden Faktoren war."
Alonso gegen Hamilton sollte dann zum Duell um den Sieg werden - und in Runde 15 fiel die Vorentscheidung: Im Windschatten von Sébastien Buemi (Toro Rosso), der dank eines späten ersten Boxenstopps sogar einige Führungskilometer sammeln durfte, zog Hamilton vor der Zielschikane an Alonso vorbei, der sich gar nicht groß wehrte. Der Ferrari-Pilot ließ sich in der Folge nicht abschütteln, konnte aber auch nicht wirklich attackieren.
Die beiden fuhren zu jenem Zeitpunkt ein Fernduell gegen die Red Bulls, die beim ersten Boxenstopp ihre Strategien switchten: Vettel wechselte von harten auf weiche, Webber von harten auf harte Reifen. In jener Phase fuhren Hamilton und Alonso vorne die besseren Zeiten, sodass Vettel strategisch einige Positionen verlor. Das kam für den Deutschen im Cockpit völlig überraschend, denn er konnte die Zeitunterschiede ja nicht auf dem Timingmonitor verfolgen.
Vettel über Positionsverlust verwundert
"Es ist schon ein bisschen komisch, wenn man sich die Nippel abfährt, als Erster an die Box kommt und dann sind auf einmal drei Autos vor einem! Da wusste ich nicht genau, was jetzt meine Aufgabe ist. Da müssen wir erst analysieren, wie das kommen konnte", wundert sich Vettel. Später musste er auch noch mit Getriebeproblemen kämpfen: "Ich wusste nicht genau, was das Problem war - man hat mir nur gesagt, ich soll langsamer machen."
Zwischendurch sah daher Webber wie die größere Red-Bull-Hoffnung aus, denn der Australier lag durch seinen langen Mittelstint in Führung und hatte mehr als zehn Sekunden Vorsprung auf Hamilton, mehr als 17 auf Vettel! Doch als seine harten Reifen nachließen, hatte er Hamilton, Alonso, Button und Vettel plötzlich wieder im Rückspiegel - womit klar war, dass er nach dem Boxenstopp auf Platz fünf zurückfallen würde.
Schnellste Runde wechselte ständig
Wirklich den Durchblick hatten in jener Phase nur noch wenige: "Solche Rennen sind besonders schwierig, weil die Reifen wichtig sind. Man ist nie sicher, ob man die Reifen schonen muss oder attackieren kann", gibt selbst Button zu. "Es hat heute aber viel Spaß gemacht, denn man musste sich immer Gedanken machen. Unterschiedliche Leute waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Rennen unterschiedlich schnell."
Je länger das Rennen dauerte, desto mehr spitze sich der Kampf um den Sieg auf Hamilton, Alonso und Button zu - und als Hamilton mit einer schnellsten Runde verdeutlichte, dass er die Lage im Griff hat, ging es nur noch um den zweiten Platz. Den sicherte sich Button mit einem cleveren Manöver: Als Alonso beim Überrunden von Karun Chandhok (HRT) kurz vom Gas gehen musste, nutzte der McLaren-Pilot seinen Geschwindigkeitsüberschuss und zog vorbei!
Trotzdem war Alonso nicht unzufrieden: "Es war ein schönes Duell und für mich ein sehr gutes Gefühl, dass ich wieder einmal um den Sieg kämpfen konnte. Das Auto war hier sehr konkurrenzfähig. Wir hatten eine gute Gelegenheit, das Rennen zu gewinnen. Ich habe zweimal wegen des Überrundungsverkehrs eine Position verloren. In Summe macht das zehn Punkte aus. Aber in Istanbul waren wir noch weit weg, hier waren wir dran. Es geht in die richtige Richtung", so der Spanier.
Hamilton im Finish klar der Chef
Indes fuhr Hamilton seinen Sieg sicher ins Ziel - nach 70 Runden und zwei Boxenstopps hatte er 2,2 Sekunden Vorsprung auf Button, 9,2 auf Alonso, der im Finish vom Gas ging, 37,8 auf Vettel, der mit Getriebeproblemen kämpfte, und 39,2 auf Webber. "Auf anderen Strecken wird Red Bull vielleicht wieder vorne sein, aber an den Rennwochenenden machen wir als Team offensichtlich den besseren Job", grinst der neue WM-Leader aus Großbritannien.
"Es war ein unglaubliches Wochenende, einfach fantastisch! Ich habe so viele britische Flaggen auf den Tribünen gesehen - ich fühle mich hier einfach wohl. Umso schöner ist es, so ein Wochenende dann auf diese Weise zu beenden", freut sich der nunmehr zweifache Saisonsieger. "Das Team hat außergewöhnliche Arbeit geleistet, denn es war eines der schwierigsten Rennen bisher. Aber gerade die will man gewinnen. Wieder ein Doppelsieg - ich bin überglücklich!"
Sechster wurde Rosberg, der nach der miserablen ersten Runde phasenweise die schnellsten Rundenzeiten im Feld fahren konnte. "Ich hatte in der ersten Runde einfach Pech", ärgert er sich. "Vor mir war ein Unfall, ich musste bremsen. Da sind alle an mir vorbeigefahren." Doch immerhin feierte er einen weiteren Sieg im Stallduell gegen Schumacher, der auf den letzten drei Kilometern äußerst unglückliche Figur machte.
Schumacher mit Reifenproblemen
Denn der siebenfache Montréal-Sieger ging mit zwei sicheren Punkten in der Tasche in die letzte Runde, zog dann aber erst in einem beinharten Duell gegen Liuzzi den Kürzeren, musste in die Wiese und verlor anschließend auch noch eine Position gegen Landsmann Adrian Sutil (Force India). Zumindest war bis dahin der Speed besser: "Das lag auch daran, dass wir die Bremsscheiben gewechselt haben. Die waren gestern nicht in Ordnung", so der Mercedes-Pilot.
Dass Sutil trotz eines Reifenschadens noch in die Punkte fahren konnte, zeigt, wie chaotisch der Grand Prix verlaufen ist. Die vielleicht größte Schrecksekunde erlebte der Deutsche aber im Zweikampf mit Kubica, als er schon am Polen vorbei schien, der aber mit voller Geschwindigkeit noch einmal innen (!) ausscherte, nur um ein paar Meter weiter an die Box abzubiegen! Die Rennleitung wird diesen Zwischenfall noch genau untersuchen.
Kubica sorgte mehrfach für Wirbel: schon am Start, als er Schumachers Frontflügel beschädigte, dann bei einem weiteren Duell mit dem siebenfachen Weltmeister, bei dem beide in die Wiese mussten, und eben gegen Sutil. Am Ende sicherte er sich Platz sieben, knapp vor dem Schweizer Buemi, der eine persönliche Sternstunde erlebte, als er in der 60. Runden am mit desolaten Reifen kämpfenden Schumacher vorbeizog.
Schumacher vs. Massa: Nachspiel?
Zu den unterhaltsameren Akteuren des Nachmittags zählte auch Massa, der unter anderem ein Manöver gegen Sutil setzte, das man nur mit offenem Mund bestaunen konnte. Massa überholte unter anderem auch Schumacher, wobei es zu einer Berührung kam. Schumacher könnte dafür eine Strafe blühen, aber: "Für mich sah das okay aus", findet Teamchef Ross Brawn. "Felipe war da zu ehrgeizig, denn Michael hatte schon mit den Reifen zu kämpfen. Die waren komplett zerfallen."
Insgesamt kamen 19 von 24 gestarteten Autos in die Wertung; Nico Hülkenberg (Williams) war kurz nach dem Start schon Neunter, kollidierte dann aber mit einem anderen Fahrzeug und wurde nach einem langen Nachmittag schlussendlich 13., 1,1 Sekunden vor seinem Teamkollegen Rubens Barrichello. Heikki Kovalainen (Lotus) gewann als 16. mit zwei Runden Rückstand den "kleinen Grand Prix" der drei neuen Teams.
In der Weltmeisterschaft bleibt nach acht von 19 Rennen alles offen: Hamilton (109) Punkte hat erstmals die Führung übernommen, doch Button (106), Webber (103), Alonso (94) und Vettel (90) könnten rein rechnerisch mit einem einzigen Sieg (oder weniger) an ihm vorbeigehen. Schumacher (34) bleibt auf Rang neun. Bei den Konstrukteuren liegt nun McLaren (215) vor Red Bull (193), Ferrari (161) und Mercedes (108).