Gegenrechnung: Warum Andretti gar nicht so teuer sein könnte wie gedacht
Würde Andretti für die bestehenden Player in der Formel 1 wirklich so großen Schaden anrichtet, wie das bisher prognostiziert wurde?
(Motorsport-Total.com) - FIA-Präsident Mohammed bin Sulayem ist davon überzeugt, dass die Formel 1 von einer Aufnahme von Andretti-Cadillac als elftes Team nicht nur im Sinne der Fans, sondern auch finanziell profitieren würde. Und widerspricht damit Teamchefs wie James Vowles oder Toto Wolff, die zuletzt wirtschaftliche Bedenken im Hinblick auf ein zusätzliches Team angemeldet hatten.
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FIA-Präsident Mohammed bin Sulayem würde die Aufnahme von Andretti begrüßen Zoom Download
Eine Hochrechnung von Motorsport-Total.com prognostiziert, dass eine Aufnahme von Andretti jedes der bestehenden Teams auf einen Zehnjahreszeitraum gerechnet 141 Millionen US-Dollar kosten könnte, also etwa 14 Millionen pro Saison. Doch diese Hochrechnung geht davon aus, dass Andretti aus dem Preisgeldtopf der Formel 1 den Durchschnittswert aller Teams kassieren würde.
Das wird in der Praxis eher nicht der Fall sein. Sollte Andretti einsteigen, würde das Team voraussichtlich zunächst am hinteren Ende des Feldes kämpfen und damit weniger stark am (an der Konstrukteurs-WM orientierten) Preisgeldtopf partizipieren als Topteams wie Red Bull, Mercedes oder Ferrari.
Auf Basis der aktuellsten Geschäftszahlen wird Rechteinhaber Liberty Media 1,157 Milliarden Dollar an die bestehenden zehn Teams ausschütten, also durchschnittlich 115 Millionen Euro pro Team. Andretti würde aufgrund der zu erwartenden Platzierung in der Konstrukteurs-WM aber wahrscheinlich nicht 115, sondern eher gegen 80 Millionen Dollar kassieren.
Und wenn Andretti nur 80 Millionen aus dem Topf nimmt, kostet das jedes der bestehenden Teams Stand heute durchschnittlich acht Millionen pro Jahr. Das würde obendrein auch noch, zumindest in Teilen, durch die Antiverwässerungsgebühr kompensiert, die Andretti bezahlen muss: 200 Millionen Dollar, die auf die anderen zehn Teams aufgeteilt werden.
Die eine Seite rechnet so, die andere so ...
Dass Andretti für die anderen zehn Teams einen Einnahmenentgang darstellen würde, ist unbestritten. Je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet, gibt es aber Unterschiede in den Hochrechnungsinterpretationen. Klar ist nur: Den bestehenden Teams wird von vielen Fans vorgeworfen, Andretti aus reiner Gier verhindern zu wollen.
Ein Annäherungsversuch in der Kalkulation könnte so aussehen: Wenn Andretti im ersten Jahr 80 Millionen Dollar kassiert und man in Folgejahren von acht Prozent Wachstum des Preisgeldtopfs ausgeht, dann würde Andretti in einem Fünfjahreszeitraum (für den die Concorde-Verträge üblicherweise ausgelegt sind) insgesamt rund 470 Millionen Euro kassieren.
Das entspricht durchschnittlich 47 Millionen Einnahmenentgang für jedes der bestehenden zehn Teams. Teilweise aufgefangen durch 20 Millionen Antiverwässerungsgebühr pro Team, sodass letztendlich nur 27 Millionen Dollar weniger Einnahmen stehen bleiben. Also durchschnittlich 5,4 Millionen pro Team und Jahr.
Dabei berücksichtigt diese Rechnung noch nicht, dass Andrettis Partner und Sponsoren, etwa der Automobilhersteller General Motors (GM) mit der Marke Cadillac, über Bandenwerbung oder Paddock-Club-Tickets aller Voraussicht nach auch dazu beitragen werden, dass der Preisgeldtopf, den es zu verteilen gibt, wachsen könnte.
Sind die Teams zu gierig, um Andretti zuzulassen?
Dabei scheinen die Teams sonst nicht zimperlich dabei zu sein, das durch die Budgetobergrenze eingesparte Geld an anderer Stelle auszugeben. Die absoluten Topfahrer der Formel 1 verdienen dem Hörensagen nach 30 Millionen Dollar und mehr pro Jahr, und die Shareholder des Mercedes-Teams haben erst im März 2023 92 Millionen Dollar Dividende aus dem Unternehmen entnommen.
"Wir stellen sicher, dass ein Team akzeptiert wird, weil es zusätzlichen Wert einbringt. Und Andretti bringt Wert für beide Seiten ein", argumentiert bin Sulayem. "Für die FIA, wenn es um den Sport und die Nachhaltigkeit des Sports und des Geschäftsmodells geht. Und für die kommerzielle Seite auch. Was man auch daran erkennen kann, dass der Aktienkurs gestiegen ist."
Aktienkurs bei Andretti-Bekanntgabe zehn Prozent gestiegen
Am 2. Oktober gab die FIA offiziell bekannt, der Bewerbung von Andretti grünes Licht zu erteilen. Prompt stieg der Aktienkurs von Liberty Media (FWONK) an der New Yorker Technologiebörse NASDAQ von 62,30 Dollar Schlusskurs am Freitag davor (29. September) auf 68,59 Dollar am Montag (2. Oktober). "Also wo ist das Problem?", fragt bin Sulayem.
Er sieht "viele Aspekte", die dafür sprechen, dass Liberty Media und Andretti zu einer Einigung kommen werden: "Liberty ist ein amerikanisches Unternehmen, und ich habe gelesen, dass sie ein elftes Team willkommen heißen. Der Aktienkurs ist auch gestiegen. Gut für sie. Und drittens wäre es sehr schwierig, zu einem amerikanischen OEM (Original Equipment Manufacturer; Anm. d. Red.) nein zu sagen."
GM wäre "gut fürs Geschäft", ist bin Sulayem überzeugt, aber auch gut für die FIA. Der Präsident träumt davon, eines Tages einen amerikanischen Fahrer in einem amerikanischen Auto und einen chinesischen Fahrer in einem chinesischen Auto am Start zu sehen. Und er findet generell: "Wenn du mehr Hersteller und mehr Powerunits hast, wird das Niveau des Wettbewerbs besser."
Ohne Concorde-Vertrag kein Startplatz
Zuletzt wurde in verschiedenen Medien berichtet, Andretti könne theoretisch selbst ohne Deal mit Liberty Media, nur auf Basis der FIA-Zusage, in die Formel 1 einsteigen - wenn man dazu bereit wäre, auf die Einnahmen aus dem Preisgeldtopf zu verzichten. Das ist jedoch nicht korrekt. Seit den 2021er-Concorde-Verträgen ist dieses Schlupfloch, das es früher einmal gab, eliminiert.
Und selbst wenn: Rein theoretisch könnte die FOM (Formula One Management) Andretti ohne Deal jederzeit die Zugangsberechtigungen ins Fahrerlager verweigern. Die Paddock-Pässe für die Teams werden von der FOM ausgestellt. Eine Gedanke, den bin Sulayem weglacht: "Wie kindisch kann man sein? [...] Wir sollten den OEMs den roten Teppich ausrollen!"
"Aber ich verstehe die Teams. Sie haben in der Angelegenheit kein Mitspracherecht, aber wir hören ihnen natürlich zu. Ihnen geht es auch ums Geld. Es geht ums Geld. Machen wir uns nichts vor: Es geht dabei nur um Geld", unterstellt der FIA-Präsident etwas, was Christian Horner & Co. zuletzt gar nicht mehr abgestritten haben.
Bin Sulayem: Keine Differenzen zwischen FIA und FOM
Dass es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung oder zu einem Bruch zwischen der FIA und Liberty Media kommen könnte, sollte Andretti trotz der FIA-Zusage der elfte Startplatz verweigert werden, schließt bin Sulayem übrigens aus: "Das ist eine aufregende Geschichte für die Medien, aber es wird nicht vor Gericht gehen. Da bin ich mir sicher. Warum sollten wir?"
Es sei wahrscheinlicher, dass sich der Papst 100 Mal scheiden lässt, als dass es zum Bruch zwischen der FIA und Liberty Media kommen wird, grinst der FIA-Präsident und unterstreicht: "Wir werden uns nicht scheiden lassen. Wir würden niemals zulassen, es vor Gericht zu zerren. Das steht überhaupt nicht zur Diskussion. Da greifen wir lieber zum Telefonhörer und regeln das so."
Und die FIA mischt sich von jetzt an auch nicht mehr in das Andretti-Aufnahmeverfahren ein. Was die FIA betrifft, ist die Sache erledigt. Jetzt ist Liberty Media am Zug. Und in der Branche kann sich kaum jemand vorstellen, dass das schnell genug gehen wird, um Andretti schon 2025 in der Startaufstellung zu sehen. Wenn überhaupt, erscheint 2026 realistischer.
Bin Sulayem will sich jetzt aus dem Thema raushalten: "Die FOM", sagt er, "hat alle Zeit der Welt. Es steht mir nicht zu, sie zu drängen oder ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Ich respektiere, was sie tun, und mische mich da nicht ein. Ich mag es auch nicht, wenn sich jemand in unsere Angelegenheiten einmischt. Das machen Andretti und die FOM jetzt unter sich aus."