Analyse: Hätte Lando Norris ohne das Bremsproblem gewonnen?
Das Bremsproblem am McLaren von Lando Norris hat die Formel-1-Fans beim Grand Prix von China 2025 womöglich um einen packenden Zieleinlauf beraubt
(Motorsport-Total.com) - Oscar Piastri fuhr beim Grand Prix von China 2025 in beeindruckender Manier vom Startplatz 1 zu seinem dritten Formel-1-Sieg. Doch da Teamkollege Lando Norris wegen eines sich verschärfenden Bremsproblems keinen Angriff mehr starten konnte, stellt sich in der Analyse des Rennens die Frage: Wurde der Formel 1 damit ein packendes Finale in Shanghai verwehrt?

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Teamwork makes the dream work: McLaren-Jubel nach dem Doppelsieg in Shanghai Zoom Download
Die Pressekonferenzen nach McLaren-Siegen in der Formel 1 - seit Lando Norris' Durchbruch in Miami 2024 - hatten es in sich. Von der Erleichterung, die aus Norris' überschwänglichen Emotionen in den Katakomben des Hard-Rock-Stadiums sprach, über die spürbare Spannung zwischen den beiden Fahrern nach Piastris Premierensieg in Ungarn, bis hin zu den ausgelassenen Feierlichkeiten beim Titelgewinn und dem Auftaktsieg in Abu Dhabi 2024 sowie in Australien zu Beginn dieser Saison.
Auf der zweiten Etage der imposanten Haupttribüne von Shanghai war das Tageslicht bereits am Verblassen. Was das erste durchgängig sonnige und smogfreie China-Wochenende seit Jahren gewesen war, endete unter grauen Wolken und mit ein paar Regentropfen im Fahrerlager - kurz nach Piastris drittem Grand-Prix-Sieg.
Doch Norris, der neben ihm saß, wirkte zufrieden mit Platz 2. Das lag vor allem an der gewaltigen Wende in seinem Wochenende - begünstigt, aber auch erschwert durch das Sprintformat. Aber hätte der Fahrer, der noch zu Beginn des Wochenendes klagte, "gar keinen Speed" zu haben - und der das Sprintrennen mit Vollgas, aber ohne Fortschritt absolvierte -, am Sonntag das Hauptrennen gewinnen können, das Piastri letztlich dominierte?
Wie Piastri seine Lehren aus 2024 gezogen hat
"Wenn ich sage, dass ich letztes Jahr ein bisschen Probleme hatte, ist das schon freundlich formuliert", meint Piastri, mit Aussagen von Teamchef Andrea Stella konfrontiert, der seine Fortschritte von 2024 auf 2025 in Shanghai hervorhob.
Im Vorjahr hatte der Australier im Mittelfeld gekämpft, sich dabei Schaden am Auto eingehandelt. Nach dem Rennen - Norris war damals bereits Zweiter und konnte sogar Red Bull unter Druck setzen, noch bevor McLaren große Updates am MCL38 brachte - saßen Stella und Piastri beisammen und waren laut dem Italiener "etwas ratlos". Sie analysierten gemeinsam, wie Piastri sich in Rennen mit frontlastiger Belastung - wie in Shanghai - verbessern könne.
Das zahlte sich nun, 2025, deutlich aus. Denn obwohl die langen Kurven der Strecke Norris im Vorjahr noch kaum Probleme bereitet hatten, war diesmal alles anders: Der mit Bitumen bearbeitete, neu aufbereitete Asphalt hatte die typischen Graining-Probleme an der Vorderachse zunächst entschärft. Doch gleichzeitig entstand dadurch eine neue Herausforderung: starkes Untersteuern, gerade in den langgezogenen Kurven.
Untersteuern: Für Norris schlimmer als für Piastri
Und genau hier griff die Vorbereitung: Piastris Arbeit seit dem Rennen 2024 sowie sein natürlicher Fahrstil - ruhig, präzise, balanciert - machten ihn 2025 in Shanghai zum Maß der Dinge. Er war von Anfang an der stärkere McLaren-Pilot, denn sein geschmeidiger Stil half ihm, das Untersteuern zu managen.
Etwas, das Norris laut eigener Aussage "fast genauso sehr hasst wie Bremsversagen". Norris' Fahrweise ist insgesamt energiegeladener, er lädt die Vorderräder deutlich stärker auf. Ein Nachteil auf einem Kurs wie diesem.
Das bedeutete, dass Piastri beim Grand-Prix-Qualifying ein geringeres Risiko einging, die empfindlichen C4-Soft-Reifen zu überfordern. Ein Vorteil, der durch McLarens klassischeren Ablaufplan mit Aufwärmrunde und anschließendem schnellen Versuch noch verstärkt wurde. Dieser Plan war einer der Faktoren, der das Team nach der Sprint-Qualifikation, in der Ferrari und Lewis Hamilton knapp die Nase vorn hatten, zurück an die Spitze brachte.
"Für mich ist es sehr befriedigend, dass ich ausgerechnet an einer Strecke, an der ich letztes Jahr am meisten zu kämpfen hatte, wohl mein bislang komplettestes Formel-1-Wochenende hatte", sagt Piastri.
Was der neue Asphalt damit zu tun hat
Der neu asphaltierte Kurs sorgte für noch höhere Kurvengeschwindigkeiten als üblich, was vor allem den linken Vorderreifen stark beanspruchte - besonders im kürzeren Sprint, den Hamilton dominierte. Dabei erwies sich die saubere Luft an der Spitze als entscheidend für die Lebensdauer der Mediumreifen, da der sonst übliche Abrieb in "dirty Air" fehlte. Und das, obwohl Pirelli den Mindestdruck an den Vorderreifen vor dem Sprint von 26,5 auf 27,5 psi angehoben hatte.
Ein weiterer Aspekt des massiven Graining-Problems war es, die Reifen in den Kurvenkombinationen 1-2-3-4 sowie 11-12-13 - den sogenannten "Schneckenkurven", wie sie der Veranstalter nennt - nicht zu früh zu stark zu beanspruchen.
Nach dem Ende des Parc-ferme-Zustands durch den Sprint durften die Teams das mechanische Set-up des Autos anpassen, etwa über Stabilisatoren und Feinabstimmungen, ebenso wie das aerodynamische Gleichgewicht zugunsten der Hinterachse verändern. Und dann war da noch der harte Reifen - ein neuer C2 mit überarbeiteter Konstruktion für 2025 -, der im Grand Prix erstmals überhaupt zum Einsatz kam.
Aber vor allem hatten die Fahrer nach dem Sprint endlich auch Gelegenheit, mit ihren Ingenieuren ein echtes Longrun-Datenpaket durchzuarbeiten, was beim komprimierten Freien Training des Sprintformats zuvor kaum möglich war. "Oscar hatte weniger Graining als Lando, also musste Lando sich bei Oscar etwas abschauen", erklärt Teamchef Stella im Hinblick auf Norris' Auseinandersetzung mit dem Kurveneingang und dem allgemeinen Reifenmanagement.
"Und auch Oscar hat sich ein paar Dinge bei Lando abgeschaut. Aber ganz ehrlich, das habe ich schon in Australien gesagt: Die Tatsache, dass wir zwei Fahrer auf diesem extrem hohen Niveau haben, bedeutet eben auch, dass die Informationen, die der eine vom anderen aufnimmt, wirklich valide sind."
Norris: Mit tollem Start an Russell vorbei
Trotz aller Veränderungen war der Start nach wie vor ein Schlüsselmoment für den Rennverlauf. Mercedes-Fahrer George Russell hatte sich zwischen die beiden McLaren auf der Startaufstellung geschoben. Er erwischte den besten Start der Top 3 und tauchte auf der Innenseite neben Piastri auf, als das Feld auf die erste Schneckenkurve zustürmte.
Doch genau das wurde ihm im ersten Stint zum Verhängnis: Polesetter Piastri zog leicht rüber und drängte den Mercedes auf die Innenlinie, während Norris außen herum beschleunigte und sich Platz zwei sicherte. Anschließend jagte er Piastri durch den 14 Runden langen ersten Stint des Rennens - nie mehr als 2,1 Sekunden entfernt, trotz des Abtriebsverlusts durch die "dirty Air" des führenden MCL39. Erst kurz vor den Boxenstopps vergrößerte sich der Abstand leicht auf 2,5 Sekunden.
Als Piastri zum Wechsel von Medium- auf Hardreifen in die Box kam, folgte ihm Russell, während Norris mit seinem Set-up-bedingten Untersteuern und der Eigenheit des neuen Asphalts zu kämpfen hatte und daher eine Runde länger draußen blieb. Beim Wiedereinstieg musste er sich in den ersten Kurven des Kurses etwas zurückhalten - was dazu führte, dass Russell wieder vor ihm lag, als sie auf den noch nicht gestoppten Aston Martin von Lance Stroll trafen.
Norris ging jedoch bald am Aston Martin vorbei und befand sich sofort im DRS-Fenster zu Russell. In Runde 18 überholte er ihn mit einem starken Manöver in Kurve 1. Zu diesem Zeitpunkt lag Piastri allerdings bereits 3,1 Sekunden voraus. Das Rennen schien entschieden. Doch es sollte sich später noch spürbar verändern.
Wie aus zwei Stopps plötzlich einer wurde
Zunächst wurde deutlich, dass der harte Reifen "viel besser war, als alle erwartet hatten", so Piastri, und das in Kombination mit dem zunehmenden Gummiabrieb auf der Strecke sorgte für eine signifikante Veränderung der Streckenevolution. Das Gummi riss und körnte nicht mehr wie zuvor, und so wurde eine Einstoppstrategie plötzlich möglich.
"Denn wenn man sich die Temperatur ansieht, hat sie sich eigentlich nicht verändert", erklärt Pirellis Motorsportchef Mario Isola im Hinblick auf die dichten Wolken, die sich kurz nach dem Rennstart über der Strecke aufgebaut hatten. "Selbst mit der Bewölkung hat sich nicht viel verändert."
Inmitten dieses Szenarios begann Norris, auf Piastri aufzuschließen, während McLaren den zweiten Stint auf über 30 Runden ausdehnte. Zum Vergleich: Die Mediumreifen, die im 19-Runden-Sprint verwendet wurden, wiesen laut Pirelli bei manchen Autos nahezu 100?Prozent Verschleiß auf.
Mit einer Serie schnellster Runden und persönlicher Bestzeiten im Mittelteil des Rennens verschaffte sich Norris schließlich die Oberhand im zweiten Streckensektor. Dort hatte zuvor das ganze Wochenende über Piastri dominiert. Einige Zehntelsekunden fielen nun plötzlich auf Norris' Seite, was sich mit seiner generellen Stärke im ersten Sektor kombinierte.
Der Rückstand, der in Runde 21 noch bei 4,3 Sekunden gelegen hatte, schrumpfte auf 2,4 Sekunden - wuchs dann aber wieder langsam an, weil auch Piastri das Tempo erhöhte. McLaren hatte seinem Führenden befohlen, ebenfalls zu pushen, denn "als Team mussten wir die Lücke zu Russell und den Ferraris vergrößern", erklärt Stella. "Denn sie waren lange in der Undercut-Zone, und wir haben heute gesehen: Sobald du an die Box gehst, kannst du zwei bis drei Sekunden schneller fahren."
Runde 48: Norris meldet Bremsprobleme
Als der Abstand zwischen Norris und Russell in Runde 36 schließlich fünf Sekunden betrug, durften beide McLaren-Piloten "das Tempo selbst bestimmen", um das Rennen untereinander auszumachen. Doch in Runde 48, knapp zehn Runden vor Schluss, meldete Norris erstmals, dass sein Bremspedal "lang wird".
Ein Problem, das McLaren laut Norris schon "viel früher in den Daten gesehen hatte und wusste, dass es ein Problem werden würde. Ich glaube, das Team hat es vor mir verheimlicht", sagt er. Das Problem war eine Leck in einer Komponente des MCL39 - allerdings, so Stella, "nicht in der Bremsleitung". Weitere Details will er "aus IP-Gründen" nicht nennen.
Norris musste daraufhin den maximalen Bremsdruck begrenzen, was er laut den immer eindringlicheren Funksprüchen von Renningenieur Will Joseph kaum noch tun konnte. Tatsächlich schrumpfte Piastris Vorsprung von 4,1 Sekunden in Runde 46 auf 3,0 Sekunden bei noch drei zu fahrenden Runden.
Doch hier musste Norris einsehen, dass das Problem "in den letzten fünf Runden kritisch geworden" war. Er verlängerte seine Lift-&-Coast-Phasen in jeder großen Bremszone deutlich, was seine Rundenzeiten bis ins Ziel um drei Sekunden steigen ließ. Piastris Vorsprung wuchs dadurch auf 9,7 Sekunden an, während Russell auf den letzten Metern noch auf 1,3 Sekunden an Norris herankam.
Piastris Rundenzeiten im unerwartet langen zweiten Stint lagen konstant im Bereich von 1:36 Minuten, während Norris eine Serie von Zeiten im hohen 1:35er-Bereich fuhr, ehe sein Bremsproblem voll durchschlug.
Fazit: Hätte Norris Piastri attackieren können?
Stella betont, dass der spätere Sieger dieselbe Reifenstrategie wie sein Teamkollege für den verlängerten zweiten Stint auf den harten Reifen gewählt habe: "Lando wollte ein paar Reifenreserven aufheben, um zu sehen, ob er Oscar im letzten Teil des Rennens angreifen kann. Ich denke, Oscar hat es ziemlich ähnlich gemacht. So nach dem Motto: 'Falls Lando angreift, will ich ein Reifenbudget haben, um zu kontern.'"
Doch es war vor allem das, was Stella nicht sagt, auf die Frage, ob McLaren ein Duell bis zur Zielflagge erlaubt hätte. Das liefert den größten Hinweis darauf, was hätte passieren können, wäre Norris' Bremsproblem nicht aufgetreten. Statt die naheliegende Option zu wählen und die Frage einfach abzuwürgen, wiederholt Stella lediglich seine Position: "Wir hätten einen sehr interessanten letzten Rennabschnitt gehabt. Wir haben ihn nur wegen des Bremspedals nicht gesehen."
So oder so: Norris ist mit dem Ergebnis eindeutig zufrieden. Nachdem er im Sprint noch weit hinterhergefahren war und nur ein ernüchternder achter Platz heraussprang, reist er nun mit einem um einen Punkt vergrößerten Vorsprung (acht Punkte) in der WM-Wertung ab. Größer als noch nach Melbourne.
"Das Rennen war deutlich besser, als ich gedacht hatte", erklärt er während der Pressekonferenz nach dem Rennen. "Ich war überhaupt nicht zuversichtlich. Ich war nervös, dass ich genauso zu kämpfen hätte wie im Sprint, ehrlich gesagt. Aber ich bin sehr zufrieden, zu sehen, wie sehr ich mich verbessert habe. Sowohl was das Auto betrifft als auch meine Fahrweise."
"Heute war ein deutlich stärkerer Tag, also bin ich froh, dass ich Antworten auf meine Schwierigkeiten gefunden habe. Das macht mich glücklich. Aber am glücklichsten bin ich natürlich über den Doppelsieg für das Team."