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"Senna" auf Netflix: Für echte Formel-1-Fans nur schwer zu ertragen
Die Mini-Serie "Senna" über das Leben von Ayrton Senna ist auf Netflix angelaufen: Was Fans zu erwarten haben und ob sich die fünf Stunden lohnen? Eine Rezension
(Motorsport-Total.com) - Ayrton Senna springt aus dem Streckenfahrzeug und erstarrt: Am Boden liegt der blutüberströmte Roland Ratzenberger, über ihn gebeugt sind die Rettungskräfte, die um sein Leben kämpfen. Sennas Blick und der von Rennarzt Sid Watkins treffen sich, und mit einem leichten Kopfschütteln gibt der Doktor ihm zu verstehen, dass es keine Hoffnung mehr gibt für seinen Fahrerkollegen ...
Heftig, wie sich das damals alles abgespielt hat, in Imola 1994, wird sich der ein oder andere Netflix-Zuschauer bei diesen Szenen wohl denken. Allein: Das hat es nicht. Und genau hier liegt das Problem der neuen Senna-Serie des Streaminganbieters, die seit vergangenem Wochenende nun also endlich verfügbar ist: Denn durch derlei "künstlerische Freiheiten" verkommt "Senna" teilweise zur realitätsfernen Seifenoper.
Zwar fuhr Senna in Imola tatsächlich zur Unfallstelle Ratzenbergers, um das Wrack zu begutachten - als er dort ankam, war der verunglückte Österreicher aber längst mit dem Krankenwagen abtransportiert. Es sind genau diese kleinen Ungenauigkeiten, die bei allen echten Fans einen faden Beigeschmack hinterlassen: In sechs Episoden zeichnet die brasilianische Produktion Sennas Leben mit Schauspielern nach - doch eigentlich wird schon während der ersten Folge klar: Das war keine gute Idee.
"Senna": Überspitzungen, Fehler, mangelnde Tiefe
Vielleicht ist der echte Senna einfach zu präsent im Gedächtnis aller Formel-1-Fans, vielleicht ist es aber auch einfach zu klischeehaft, was Regisseur Vicente Amorim dem Publikum da teilweise vorsetzt:
Denn immer, wenn er die Fallhöhe dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit zeigen könnte, entscheidet er sich für den Stereotypen. Senna wird zum glatten Helden hochstilisiert, alles, was er anfasst, wird zu Gold. Die vielen Ecken und Kanten, vor allem aber das Charisma des streitbaren Brasilianers sucht man vergebens - genauso wie seine Tiefe.
Noch schlimmer: Die oftmals fehlende Präzision und die teilweise groben Überspitzungen - klar, kennen wir alles schon von "Drive to Survive" - doch bei "Senna" wird es mitunter grotesk: Da wird der junge Emporkömmling also schon im Go-Kart von FISA-Präsident Jean-Marie Balestre um den Titel betrogen ...
Schurkenbildung im frühen Stadium sozusagen, und gleichsam die Einstimmung auf den später auftretenden Antihelden Alain Prost, mitsamt seiner Entourage. Doch auch mit Senna macht diese einseitige Rollenverteilung etwas, drängt sie ihn doch früh unweigerlich in die Rolle des ewig unfair behandelten Verschwörungstheoretikers.
Kaum hat der fachkundige Zuschauer das Kopfschütteln darüber beendet, spätestens da merkt er, dass ausnahmslos alle Rennen von Sennas mehrjähriger Formelkarriere in Großbritannien auf ein und derselben Strecke stattfinden. Wer also auf magische Club-Racing-Atmosphäre in Snetterton, Oulton Park oder Brands Hatch gehofft hatte, wird ein erstes Mal herbe enttäuscht.
Ein guter Vorgeschmack allerdings auf das, was noch so alles kommt: Egal, ob wildgewordene Brundle-Fans, die im Stile englischer Fußballhooligans am Gatter rütteln, wenn der junge Senna vorbeiläuft, oder der Titelheld mal eben schnell mit dem PKW nach Italien düst, um seinen Motor frisieren zu lassen, und gerade so pünktlich zum Start ins alles entscheidende Rennen wieder in der Box ist ...
Viel CGI und digitale Effekte: Aber der 80ies-Look lebt
Zugegeben: Die frühen Senna-Jahre einzufangen ist, anhand der im Vergleich zur späten Epoche weitaus weniger minutiös gesammelten Aufzeichnungen über das Leben der Rennlegende, nicht so einfach. Netflix' Ungenauigkeit und dramaturgische Übertreibung in vielen Szenen ist hierbei aber eher kontraproduktiv.
Auch nicht gerade hilfreich: Gedreht worden ist die Serie in Argentinien, Uruguay und Brasilien. Einzig für einige Aufnahmen in Sennas englischer Wahlheimat Norwich hat die Produktion den Sprung nach Europa gewagt - und ist dabei in Nordirland gelandet ...
Die Start-Ziel-Gerade von Monte Carlo wurde auf einem Flughafen in Uruguay nachgebaut, den Rest erledigt CGI - wie auch auf allen anderen Strecken, die allesamt in Südamerika abgedreht wurden, und nicht an den Originalschauplätzen.
Stichwort digitale Effekte: Diese verleihen auch den Fahraufnahmen zu oft eine Playstation-Optik - dabei sind die Autos an sich schön: Gleich 22 Exemplare von Senna und seinen größten Rivalen hat die Produktion aufwändig, mit viel Herzblut und Liebe zum Detail, nachbauen lassen: Der Look stimmt, wenngleich halt nichts echt ist, von dem, was man so zu sehen bekommt.
Dennoch: Mit Sennas Einstieg in die Königsklasse nimmt auch die Serie langsam ein bisschen Fahrt auf. Spaß macht es schon, sich wieder zurückversetzen zu lassen in diese goldene Ära der Formel 1 - den stimmigen Soundtrack, und vor allem den lässigen Vibe der Achtzigerjahre, besonders in Sennas brasilianischer Heimat, fängt die Serie gut ein, und so gelingt ihr, gerade als man die Hoffnung schon aufgeben will, doch noch der ein oder andere gute Moment.
Sechs Episoden, nur Folge vier kann überzeugen
Folge vier von sechs ragt dabei gewissermaßen raus: Nicht nur die teaminterne Entzweiung bei McLaren, und die politischen Machtspiele im Hintergrund, werden gut porträtiert - auch Sennas Beziehung zu Freundin Xuxa. Endlich gelingt es, auf allen Ebenen etwas tiefer in die Charaktere und Materie einzutauchen, weil sich die Serie hier endlich mal Zeit nimmt.
Ebenfalls zugute kommt ihr, dass deutlich mehr auf die Details geachtet wird: Sicher eine Begleiterscheinung davon, dass wir uns nun bereits in einer Phase von Sennas Leben befinden, die medial extrem gecovert wurde, doch die richtigen Outfits, Looks, Quotes und gewisse Posen verleihen trotzdem Authentizität - und auch Hauptdarsteller Gabriel Leone kann in dieser Epoche optisch als Senna-Double punkten, was ihm in den jungen Jahren noch schwerer gelingt: So hat "Senna" kurz nach Halbzeit seine besten Momente.
Gerade beim Nacherzählen und -spielen legendärer Momente und Konversationen, wie etwa bei Sennas Ausbruch bei der Fahrerbesprechung mit Balestre, Nelson Piquet und Co., stellt sich mitunter aber schon auch die Frage: Wofür brauchen wir die Serie eigentlich noch, gibt es all das doch im Original schon in der großartigen und preisgekrönten Senna-Doku von Asif Kapadia aus dem Jahr 2010.
Mit dem Höhepunkt der Fehde zwischen Senna und Prost 1990 in Suzuka endet dann auch schon wieder die beste Phase von "Senna" - und mit ihr die Genauigkeit: Nach dem kontroversen Startcrash werden Prosts Originalzitate einfach da eingefügt, wo es für das Hollywooddrehbuch gerade gut passt - und auch Sennas, eigentlich direkt geführter Streit mit Jackie Stewart, wird kurzerhand umgewandelt in ein Reportergespräch.
Dieses findet mit einer fiktiven Autosport-Journalistin statt, die Sennas sich wandelnde Beziehung zur Presse widerspiegeln soll, und ihn praktisch vom ersten Tag seiner Formelkarriere begleitet, bis nach seinem Tod in Imola - dabei wirkt sie stets so deplatziert wie das Auftauchen irgendwelcher von Senna eingesprochenen Memos, die quasi als Hinterlassenschaft des gefallenen Helden, nach seinem Unfall in der Tamburello, die trauernde Welt trösten sollen - in Realität so natürlich nie passiert.
Kein Donington 1993: Legendärster Senna-Moment fehlt
Bevor sich die Serie in der letzten der sechs Episoden schließlich dem schicksalhaften Wochenende von Imola nähert, und an diesem weitere inhaltliche Fehler einbaut - so unterbreitet etwa Niki Lauda höchstpersönlich Senna kurz vor dem fatalen Start noch ein Ferrari-Angebot - steht aber erst noch der endgültige Aufstieg zum Heldenepos rund um den Heimsieg des Nationalidols beim Brasilien-Grand-Prix 1991 an.
Anschließend gibt es vor dem tragischen Finale noch einen großen Zeitsprung, der die weniger erfolgreichen späteren McLaren-Jahre einfach unter den Tisch fallen lässt - und mit ihnen auch gleich die magische Regenfahrt von Donington 1993. Auch das eigentlich völlig undenkbar, in einer umfassenden Auseinandersetzung mit Sennas Formel-1-Karriere.
So kommt es wenig überraschend, dass das Beste unterm Strich die zweieinhalb Minuten Originalaufnahmen ganz am Ende sind, mit denen die Serie den Abspann einläutet. Vielleicht ist die Lebensgeschichte Sennas, mit den vielen Höhen und Tiefen, und all ihrer Tragik aber auch einfach zu gut und vollkommen, für ein derartiges Remake.
Vor über zehn Jahren gab es schließlich schon mal ein Filmprojekt, das sich mit Schauspielern an das schwierige Thema wagen wollte - und am Ende nicht realisiert wurde. Spätestens nach der Netflix-Serie stellt sich die Frage nun wieder, ob ein Spielfilm nicht vielleicht doch die bessere Variante gewesen wäre? In rund zwei Stunden kann man zumindest weniger Fehler machen als in knapp fünf ...