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Uneinigkeit über Zweikampf-Richtlinien: Was Verstappen so perfekt ausnützt
Nach der Kontroverse um Norris und Verstappen in Austin fragen sich Fahrer und Experten: Was taugt die aktuelle Richtlinie der FIA? Die Antwort darauf ist diffizil
(Motorsport-Total.com) - Das Duell zwischen Max Verstappen und Lando Norris in Austin erhitzt weiter die Gemüter im Formel-1-Kosmos: Fans, Verantwortliche und Fahrer diskutieren gleichermaßen, ob die Fünf-Sekunden-Strafe für den Briten nach seinem Überholmanöver außerhalb der Strecke in Kurve 12 gerechtfertigt war.
Kurios: Bei den Formel-1-Piloten selbst scheint deshalb weiterhin viel Unklarheit zu herrschen: "Das ist interessant", kommentiert etwa Williams-Fahrer Alex Albon beim Blick auf die heikle Szene zwischen den WM-Anwärtern: "Wenn du auf der Strecke bleiben kannst, schön und gut, dann hast du es. Wenn aber beide von der Strecke abkommen, dann wird es ein bisschen eine Grauzone... das erinnert mich an Brasilien 2021."
Damals hatte Verstappen den angreifenden Lewis Hamilton von der Strecke gedrängt, beide fuhren durch die Auslaufzone, der Red-Bull-Pilot behielt die Nase dabei vorne und wurde nicht bestraft. Allein: Was sich seit damals geändert hat, ist die Tatsache, dass die FIA gemeinsam mit den Piloten eigentlich klare Richtlinien für die einzuhaltenden Fahrstandards erarbeitet hat.
Kernproblem: Kein Fall gleicht exakt dem anderen
Wie klar diese nun aber wirklich sind, steht nach den jüngsten Vorkommnissen in Texas einmal mehr infrage: In dem sechsseitigen Dokument, das nicht öffentlich einsehbar ist, jedoch allen Fahrern und auch unserer Redaktion vorliegt, ist beschrieben anhand welcher Kriterien die Stewards ihr Urteil zu bestimmten Zweikampfsituationen fällen. Ab 2025 soll es auch in den internationalen Sportkodex der FIA aufgenommen werden, und damit serienübergreifend gelten.
Bereits einleitend geht aus dem Dokument jedoch auch der sinnige Hinweis hervor, dass kein Vorfall dem anderen gleicht - was bereits der Kernproblematik vorweggreift, wenn es um eine klare und schnelle Regelauslegung in derlei Fällen geht.
In Bezug auf Austin sticht in sämtlichen Argumentationen natürlich der Fakt heraus, dass auch Verstappen bei seiner Verteidigung mit allen vier Rädern die Strecke verlassen hat. Genau dadurch wird der Fall tatsächlich weit weniger eindeutig, denn das Defensivverhalten des Niederländers macht es nicht zum ersten Mal extrem diffizil, die Sache anhand der herrschenden Fahrstandards zu bewerten.
Ganz einfach: So setzt Verstappen Norris schachmatt
Zur Erklärung: Der Angreifer, in diesem Fall Norris, muss gemäß der Richtlinien drei Kriterien erfüllen, um sich bei seiner Attacke auf der Außenbahn - die explizit als schwierigeres (und damit mit geringerer Wahrscheinlichkeit positiv abzuschließendes) Manöver gebrandmarkt ist - das Recht auf den viel zitierten "Raum zum Überleben" am Kurvenausgang zu verdienen.
Doch bereits an Punkt eins, die Vorderachse am Scheitelpunkt der Kurve zumindest gleichauf mit der Vorderachse des anderen Autos zu haben, scheitert Norris - wegen Verstappen: Der Niederländer bremst schlicht deutlich später als Norris, und ist dadurch am Scheitelpunkt innen wieder vor dem McLaren-Piloten. Mit dieser einfachen Taktik setzt Verstappen gemäß der geltenden Richtlinien Norris' Attacke quasi schachmatt.
Die beiden anderen Kriterien, dass der Angreifer während des gesamten Manövers sicher und kontrolliert fahren muss, und, dass er die Kurve innerhalb der Streckenbegrenzungen durchfahren muss, kommen so in weiterer Instanz schon gar nicht mehr zum Tragen.
Dennoch wirft das Defensivverhalten des Red-Bull-Piloten gleichsam weitreichendere Frage über die Wirksamkeit der aktuellen Regeln auf. Die Richtlinien besagen: "Wenn ein Auto, während es seine Position verteidigt, die Strecke verlässt (oder eine Schikane abkürzt), und in der gleichen Position zurückkehrt, wird das generell von den Stewards als Erzielen eines nachhaltigen Vorteils gewertet."
Die Konsequenz: "Die Position sollte generell, wie in den Regeln vorgeschrieben, zurückgegeben werden." Im Umkehrschluss stellt sich daher die Frage: Hätte Norris die Attacke abgebrochen, und Verstappen wäre über das Ziel und die Kurve hinausgeschossen, hätte der Niederländer seine Position dann an den McLaren-Fahrer zurückgeben müssen?
Brundles provokante Frage: Wer überholt hier wen?
Dabei zeigt sich die Problematik der Fokussierung der Regelung auf den Scheitelpunkt der Kurve, an dem Spätbremser Verstappen die Nase bereits wieder vorne hatte. Heißt übersetzt: Wer auch immer später bremst, sichert sich dadurch effektiv zusätzliche Rechte bei der nachträglichen Beurteilung des Falles - etwas, das Verstappen offenbar schon länger verstanden hat, und mittlerweile nahe an der Perfektion exerziert.
Ex-Formel-1-Pilot Martin Brundle, für den deshalb feststeht, dass die Richtlinien "eine ernsthafte Optimierung, und vor allem Vereinfachung" brauchen, geht in seiner Expertenkolumne für Sky Sports nach dem kontroversen Texas-Rennen sogar so weit, die provokante Frage in den Raum zu stellen: "Nachdem Norris vor Kurve 12 auf der Außenbahn Verstappen überholt hatte, bevor Verstappen innen wieder vorbeigesegelt ist, wer hat dann eigentlich am Scheitelpunkt der Kurve das Überholmanöver vollzogen, Verstappen oder Norris?"
Klar ist nach Austin jedenfalls, dass einige Fahrer offensichtlich nicht das Gefühl haben, gleich behandelt zu werden wie andere Kollegen. Als Präzedenzfall dient am Wochenende das Manöver im Sprint von Oscar Piastri gegen Pierre Gasly in Kurve 12, bei dem der Australier sogar auf der Strecke blieb, und trotzdem eine Strafe kassierte!
"Wenn man sich meine Strafe im Sprint anschaut, das war praktisch eine komplette Kopie von Max und Lando. Aber ich bin dabei auf der Strecke geblieben und kriege eine Strafe?", wundert sich der McLaren-Star. "Also nein, es ist nicht sehr klar. Es ist hart, es ist einfach sehr schwierig. Ich habe das Gefühl, dass wir als Fahrer alle sehr unterschiedliche Interpretationen davon haben, was fair ist, und was nicht", sagt Piastri.
Piastri sieht Diskrepanz: "Ähnlicher Fall, gegenteilige Strafe"
"Vor allem, wenn es darum geht auf der Außenbahn eines anderen Fahrers zu sein. Denn der Unterschied von zehn oder zwanzig Zentimetern, kann der Unterschied sein, ob du das Recht auf Raum hast oder nicht", erklärt Piastri, der zu bedenken gibt: "Für die Stewards, die im Normalfall nicht sehr oft so ein Auto gefahren sind, ist es sehr schwierig das in dem Moment zu beurteilen."
Trotzdem ist für den Australier spätestens nach Austin klar, dass etwas passieren muss: "Ich denke, mein Vorfall, und der von Lando und Max, sieht sehr ähnlich aus, aber mit den gegenteiligen Strafen am Ende. Also ich bin mir sicher, dass wir dazu ein paar Fragen haben."
Auch andere Fahrerkollegen, wie etwa die Ferrari-Piloten, wundern sich über die verschiedenen Regelauslegungen: "Einige Dinge sind klar, andere sind für mich schon noch etwas verschwommen, um es mal so zu sagen. Ich denke, es gab gestern ein Beispiel mit Oscars Überholmanöver, und das war komplett okay für mich und sehr ähnlich zu allem, was wir so miteinander im Sprint getrieben haben", sagt Carlos Sainz in Bezug auf das Duell mit Teamkollege Charles Leclerc.
Sainz: "Für mich war die Strafe gegen Oscar gestern sehr, sehr hart, und nicht in Einklang mit einigen Richtlinien, oder zumindest so, wie ich dachte, dass sie sind. Also diese Strafe hat mich schon überrascht." Von Leclerc erhält der Spanier Zustimmung, aber nur in Sachen Piastri: "Ich finde auch, das war zu hart. Was aber die Regeln betrifft, finde ich, sind sie recht klar."
Leclerc: "Natürlich kann die Interpretation der Regeln manchmal etwas anders sein, weil es unmöglich sein wird, ein Regelwerk zu schaffen, das jedes einzelne Szenario abdeckt. Jedes Szenario ist anders, hat seine Eigenheit, und du musst es auf verschiedene Art analysieren", so der Ferrari-Pilot, der davon überzeugt ist: "Die FIA gibt da ihr Bestes, selbst wenn wir manchmal nicht (mit dem Ergebnis) übereinstimmen."
Stewards mit Spielraum: Racing "dynamischer Prozess"
Während Leclerc davon ausgeht, dass die Causa in der nächsten Fahrerbesprechung sicher noch einmal auf den Tisch kommt, trifft der Monegasse mit seinen Äußerungen definitiv einen wichtigen Punkt, den die Stewards sogar selbst so in ihren Richtlinien festgehalten haben:
"Rennfahren ist ein dynamischer Prozess", heißt es darin - weshalb sich die Regelhüter bewusst einen gewissen Ermessensspielraum zugestehen, um verschiedene Faktoren miteinzubeziehen, wie etwa den Optimismus eines Manövers, verschiedene Kurventypen oder Reifenunterschiede: "Die Stewards werden, mit Hilfe unseres Fahrer-Stewards, alle Aspekte berücksichtigen, und unsere beste, aber finale Entscheidung zu diesem Zeitpunkt treffen", heißt es darin.
Damit lässt die FIA ihren Kommissaren einerseits die nötige Hintertür offen - doch genau diese ist es andererseits, durch die im Gegenzug dann auch die berechtigte Kritik der "Inkonstanz" bei gewissen Entscheidungen auf sie einprasselt, wie am Sonntag etwa durch den in diesem Fall gelackmeierten Norris oder auch Mercedes-Teamchef Toto Wolff.
Spannend bleibt daher vor allem die Frage, ob die Sportbehörde unter Leitung von Präsident Mohammed Ben Sulayem sich die Richtlinien noch einmal vorknöpft, bevor sie für 2025 auf großer Ebene durchgewunken werden - oder ob die FIA trotz der vielen Negativschlagzeilen rund um die Handhabung der Vorkommnisse in Austin zufrieden mit dem aktuellen Prozess ist.