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Lewis Hamilton: Die Wunden von Abu Dhabi 2021 werden nie verheilen
Lewis Hamilton hat endlich wieder gewonnen: Warum die Dämonen von Abu Dhabi 2021 trotzdem immer noch nachhallen und wie der Brite heute damit umgeht
(Motorsport-Total.com) - Es war das Ende einer großen Durststrecke und ein Befreiungsschlag, der bei Lewis Hamilton sogar ungewohnte Tränen fließen ließ: Nach langen 945 Tagen gewann der Mercedes-Star in Silverstone wieder ein Rennen - erstmals seit dem Großen Preis von Saudi-Arabien am 5. Dezember 2021, vor allem aber auch erstmals seit dem kontroversen WM-Finale eine Woche später in Abu Dhabi.
© Motorsport Images
Sein schwerster Moment: Hamilton gratuliert Verstappen zum WM-Titel 2021 Zoom Download
Dass seine Gedanken in der Stunde des erneuten Triumphes auch noch einmal in jene dunkle Nacht von Yas Island zurückgingen, in der ihn eine Fehlentscheidung von Rennleiter Michael Masi den sicher geglaubten achten Titel, und damit den alleinigen Status als Rekordweltmeister kostete, daraus macht Hamilton nach seinem Sieg in Silverstone keinen Hehl.
Auf die Frage, ob der erste Erfolg seit den dramatischen Vorkommnissen auch Teil des Heilungsprozesses sei, den er wegen der erlittenen Ungerechtigkeit zu durchlaufen habe, antwortet Hamilton: "Das ist eine weitausholende Frage. Ich denke, nur die Zeit wird es zeigen. Was ich aber sagen kann, dass ich nicht aufgebe."
Seine Gedanken seien auch mal anders gewesen, wie Hamilton einräumt: "Ehrlich gesagt, als ich 2022 zurückgekommen bin, dachte ich, dass ich drüber hinweg bin. Und ich weiß, dass ich das nicht war, und es mit Sicherheit eine lange Zeit gebraucht hat, um diese Art von Gefühl zu heilen - was einfach nur normal ist, für jemanden, der diese Erfahrung macht. Und ich habe versucht einfach weiterhin an mir zu arbeiten und Tag für Tag diesen inneren Frieden zu finden."
Nach der Entscheidung in Abu Dhabi tauchte Hamilton für Monate ab, löschte beispielsweise alle seine Beiträge auf Instagram und schwieg einfach. Mit Start der Saison 2022 kehrte er zurück - ein wirklich ausführliches erstes großes Interview zu den Geschehnissen beim Finale und seiner Sichtweise darauf, gab der Brite aber erst im folgenden Sommer, in Form einer mehr als lesenswerten Coverstory für die US-amerikanische Vanity Fair.
Hamilton über 2021: "Bestohlen? Offensichtlich."
Vom Gefühl, betrogen worden zu sein, berichtete Hamilton darin. Nun hat der mittlerweile 39-Jährige diesen April wieder ein großes Covergespärch mit einem vergleichbaren Hochglanzmagazin geführt, wieder ging es natürlich auch um den Traumamoment in Hamiltons Karriere - und knapp zwei Jahre später hat sich zwar seine Sichtweise auf die Sache nicht fundamental verändert, doch die Perspektive hat sich erweitert ...
"Wurde ich bestohlen? Offensichtlich. Ihr kennt alle die Geschichte", sagt Hamilton im Interview mit GQ, und fügt dennoch hinzu: "Aber ich denke, was wirklich schön war in diesem Moment, was ich davon auch mitnehme, dass mein Vater mit mir da war. Wir sind gemeinsam durch diese riesige Achterbahn des Lebens gegangen, rauf und runter. Und der Tag, als es am meisten wehgetan hat, da war er da."
Hamilton erinnert sich, dazu erzogen worden zu sein, "immer wieder aufzustehen, den Kopf oben zu behalten". So erklärt er sich auch seine Reaktion nach dem Rennen in Abu Dhabi, denn wer nach dem Aussteigen auf einen wütenden, ungehaltenen Hamilton gewettet hatte, der lag falsch: "Ich bin zu Max gegangen, um ihm zu gratulieren, ohne den Einfluss zu realisieren, den das haben würde."
Hamilton: "Aber irgendwie war es mir auch bewusst, als würde eine kleine Version von mir zuschauen. Das ist der definierende Moment meines Lebens. Und ich denke wirklich, dass es das war. Ich habe es gespürt. Ich wusste nicht, wie es wahrgenommen würde, ich habe es nicht visualisiert, wenn man so will. Aber mir war definitiv bewusst: Diese nächsten 50 Meter, die ich gehe - dort falle ich entweder hin und sterbe, oder ich stehe auf."
Hamilton entschied sich für Letzteres und zeigte in seinem wohl bittersten Moment Größe. Heutzutage will er sich mit dem verlorenen WM-Finale nicht mehr groß beschäftigen: "Wenn ich einen Clip davon sehe, fühle ich es noch", so Hamilton, "aber ich bin damit in Frieden".
Wie die erste Liebe: Hamiltons Herzschmerz hallt nach
Darüber hinaus sei er auch keine "Rache-Person", wie der Mercedes-Star verrät: "Es ging nie um Rache. Oder um Wiedergutmachung. Es liegt in der Vergangenheit, und es gibt nichts, was du an der Vergangenheit noch ändern kannst. Was du tun kannst, ist härter arbeiten, und mit Bewegung nach vorne noch präziser und besser sein."
Was aber nichts daran ändere, dass der Schmerz bei jeder Konfrontation mit dem Thema noch da ist: "Letztendlich verlässt dich dieses Gefühl niemals so ganz. Es ist so, wie wenn du an deine erste Liebe denkst. Sie wird immer diese eine erste Liebe sein, und auch der erste Herzschmerz", gewährt Hamilton Einblick in seine Emotionen.
"Die Narbe von Abu Dhabi ist da, und es wird immer diese Erinnerung geben", sagt der Brite gegenüber ESPN, "obwohl ich meine Psyche neu programmiert habe, hat es mich, glaube ich, das ganze Jahr danach gekostet, um es wirklich durchzumachen, weil wir einfach sofort wieder an der Arbeit waren. Es war keine schnelle Sache".
Ähnlich ging es auch Hamiltons engsten Mitstreitern, allen voran Mercedes-Teamchef Toto Wolff: Unvergessen, die verzweifelten Funkspruche des Österreichers an Rennleiter Masi, als sich das Unheil für die Silberpfeile in Abu Dhabi so gnadenlos zusammenbraute. Den aus der Situation entstandenen Schmerz, den fühlt Wolff, genauso wie sein Schützling, heute noch.
Wolff: "Abu Dhabi schmerzt wegen der Art und Weise"
Dabei ordnet der Wiener ein, dass der Grund dafür nicht per se der Umstand sei, dass Hamilton den achten Titel verloren habe: "Ich glaube schon, dass wir beide, er und das Team, das verdient hätten. Wir hätten das gern geschafft, aber es ist nicht so, dass es schmerzt. Schmerzen tun andere Dinge", sagt Wolff und bezieht sich direkt auf die Vorkommnisse beim kontroversen WM-Finale.
"Abu Dhabi schmerzt nicht, weil wir die Meisterschaft verloren haben. Die hat ein anderer verdient. Abu Dhabi schmerzt, wegen der Art und Weise, wie die Entscheidungsfindung stattgefunden hat", erneuert Wolff seine Kritik an Masi und der FIA. Wenngleich sich der Mercedes-Boss bezüglich der anschließend beim Automobilweltverband vorgenommenen Veränderungen zufrieden zeigt:
"Mit dem Wechsel des Präsidenten ist natürlich eine neue Ära mit neuem Leadership gekommen, mit allen Aufs und Abs, die das bringt. Aber es war glaube ich auch notwendig, Dinge zu verändern. Gerade nach dem Ferrari-Skandal und wie das Jahr ausgegangen ist. Es war schon gut, dass was Neues gekommen ist. Und jetzt ist ja alles wieder einigermaßen im Reinen", sagt Wolff.
Mit dem Hätte, Wäre, Wenn will sich der Wiener indes nicht mehr quälen, auch nicht mit der Frage, wie Hamiltons Leistungskurve und die der Silberpfeile wohl verlaufen wäre, wenn Abu Dhabi andersrum ausgegangen wäre - frei nach dem Motto: Am fehlgeschlagenen Zero-Pod-Konzept das folgte, hätte der WM-Ausgang auch nichts geändert ...
Höchstens vielleicht an der Moral im Team und bei seinem Superstar: "Es ist Physik, und keine Mystik", sagt Wolff mit Blick auf Mercedes' anschließende Talsohle: "Aber ich glaube schon, dass uns das emotional doch relativ hart getroffen hat. Vor allem als Sportler, dass du plötzlich fünf Runden vor Schluss einer Situation ausgesetzt bist, die du gar nicht hast kommen sehen."
Trotz Schumacher: Hamilton "hätte den GOAT verdient"
Das Mitleid mit Hamilton für das Erlebte ist nicht nur in den eigenen Reihen bis heute groß. Auch Ex-Wegbegleiter wie Philipp Brändle, der jahrelang als Aerodynamik-Ingenieur am Auto des Briten gearbeitet hat, und heute als Experte für ServusTV arbeitet, fühlt mit seinem ehemaligen Piloten - und erinnert sich im exklusiven Interview mit Motorsport-Total.com noch genau an die dramatischen Momente auf den letzten Metern der legendären Saison 2021.
"Es hat sehr weh getan, ja", erklärt der Österreicher, "ich konnte es tatsächlich nicht fassen, wie das zu Ende gegangen ist". Heute habe er den Ausgang natürlich genauso wie Hamilton und Co. akzeptiert, "aber ich muss schon sagen: Ich habe mit der Entscheidung sehr gehadert, weil ich finde, es war nicht im Sinne des Reglements und unabhängig vom sportlichen Ausgang."
Brändle: "Ich finde, man sollte halt das Reglement dann schon konsistent auslegen ... Da hätte ich jetzt zum Beispiel auch kein Problem damit gehabt, wenn es geheißen hätte: okay, man will jetzt kein Safety-Car in der letzten Runde haben, weil es dann so zu Ende geht."
"Aber da muss man sich im Reglement vielleicht die Option offen lassen, wie beim Fußball, dass man Verlängerung spielt oder das irgendwie anders löst. Beim Fußball gibt es eine Extra-Spielzeit, beim Basketball oder beim Handball wird die Zeit vielleicht gestoppt. Dann muss man das halt irgendwie anders lösen", sagt der ehemalige Silberpfeil-Techniker.
"Wenn man das nicht will, im Sinne des Entertainments, alles gut. Aber dann darf man nicht das Reglement quasi einfach mal anders auslegen, nur weil es einem, so wie es jetzt gerade ist, halt nicht passt. Das fand ich ein bisschen schwierig", bezieht Brändle klar Stellung zu Masis Alleingang im Augenblick der Wahrheit.
Verstappen sei nach dem Megaduell der Megastars zwar auch ein würdiger Champion gewesen, denn: "Red Bull hatte das verdient, weil die waren in dem Jahr einfach gleichauf", sagt der Ingenieur: "Aber ich hätte das mit der ganzen Geschichte natürlich einfach dem Lewis gegönnt, dass er seinen achten Weltmeistertitel kriegt, dann alleiniger 'GOAT' wird, also Greatest Of All Time."
"Ich glaube, er hätte das verdient. Und das ohne Michael Schumachers Ehre zu schmälern", ordnet Brändle ein: "Aber ich glaube, der Lewis hätte das verdient gehabt, da Weltmeister zu werden, weil das ihm genauso alles abverlangt hat wie allen anderen auch." Dennoch fällt das Fazit des heutigen TV-Experten versönlich aus: "So ist der Sport halt. Deswegen lieben wir ihn, weil es halt manchmal auch Entscheidungen gibt, mit denen man vielleicht nicht so zurechtkommt."
Horner: "Wie zwei Schwergewichtsboxer"
Doch wie fällt im Gegenzug, während das langsam wiedererstarkte Mercedes-Team zweieinhalb Jahre später immer noch die alten Wunden leckt, eigentlich die Retrospektive bei den Glückspilzen der diskussionswürdigen Nacht von Abu Dhabi aus? Red-Bull-Teamchef Christian Horner räumt zwar ein: "2021 war umstritten - aber das Team hat nichts falsch gemacht."
Horner glaubt: "Wir haben an jenem Tag abgeliefert. Wir haben die Risiken genommen, die richtigen Entscheidungen getroffen, die Strategie richtig hinbekommen." Dabei ist sich der Brite bewusst: "Es wurden an diesem Tag Entscheidungen vom Schiedsrichter getroffen, aber wir haben auch die richtigen Entscheidungen getroffen. Mercedes nicht, sie haben ihren Fahrer nicht an die Box geholt. Sie haben ihn auf 45 Runden alten Reifen draußen gelassen..."
"Wir haben unsere Chance ergriffen, das Rennen gewonnen und damit auch den Titel", sagt Horner im Podcast Extraordinary Tales with Seb Coe und fügt an: "Und darauf sind wir verdammt stolz." Er sei direkt im Nachgang des Rennens darum bemüht gewesen, "den ganzen Lärm, der dann kam", von seinen Mannen fernzuhalten, um den eigenen Erfolg nicht in den Schatten gestellt zu bekommen.
"Was auch immer für Streitigkeiten es dann gab, die es umgeben haben: Natürlich haben die Leute Meinungen, es war immer klar, dass es dazu verschiedene geben würde. Aber für uns: Wir haben unser Ziel erreicht, und die Weltmeisterschaft gewonnen", sagt Horner. Mit über zwei Jahren Abstand ist dem Briten heute viel mehr an einer entsprechenden Würdigung des epischen WM-Duells zwischen Verstappen und Hamilton gelegen.
"Wie Max in jenem Jahr gefahren ist, da gab es wirklich einige heroische Schlachten. Was wir in der Saison gesehen haben, war wahrscheinlich das beste Racing in der Formel 1, das wir in ihrer 70-jährigen Geschichte zu Gesicht bekommen haben, wo wir zwei Fahrer am absoluten Höhepunkt ihrer Leistung hatten: Wie zwei Schwergewichtsboxer, die Wochenende für Wochenende, vom ersten Rennen an bis zum letzten in Abu Dhabi, alles gegeben haben."
Am Ende, so hofft Horner, werden diese Erinnerungen auch das unglückliche Ende von Abu Dhabi überstrahlen und überdauern: "Ich denke, es ist nur mit der Zeit, dass wir auf diese Saison zurückblicken werden, und uns denken: Wow, wovon wir da Augenzeugen wurden, war wirklich etwas ganz, ganz Spezielles." Nur, dass es eben einen Verlierer geben musste - und das war Lewis Hamilton ...