Vowles Bestandsaufnahme: Was alles falsch lief bei Williams
Knallharte Selbstanalyse: So kritisch sehen Teamchef James Vowles und Cheftechniker Pat Fry die aktuellen Prozesse bei Formel-1-Team Williams
(Motorsport-Total.com) - "Wie man hier das Auto baut, das unterscheidet sich ziemlich von dem, was ich als normal bezeichnen würde. Und besonders effizient geht man dabei nicht vor." So lautet das Fazit von Pat Fry, der seit November 2023 als Cheftechniker für Williams arbeitet - und bei der finalen Entwicklung des FW46 für die Formel-1-Saison 2024 Augenzeuge wurde, was beim englischen Team eigentlich wie passiert.
Was Fry im Williams-Werk in Grove gesehen hat, hat ihn zutiefst erschüttert. Der frühere leitende Techniker bei Benetton, McLaren, Ferrari und Renault meint: "So etwas habe ich bisher noch nicht erlebt und ich will es auch nicht nochmals erleben müssen. Ich bin mir sicher, James [Vowles] denkt ähnlich."
Denn "alles" in der finalen Entwicklungsphase des Formel-1-Autos für 2024 sei "massiv verspätet" passiert, sagt Fry. "Es ist nicht so, als würde man diese Dinge bewusst so spät machen. Aber: Für die Leistung weniger entscheidende Teile baut man üblicherweise früh, den Unterboden dagegen so spät wie möglich, weil es deine wichtigste Aerodynamik-Komponente ist. So bin ich es jedenfalls gewohnt."
Doch bei Williams läuft vieles anders und "das schadet in vielerlei Hinsicht", meint Fry. Er kritisiert ausdrücklich auch die "Pipeline", also technisch bereits freigegebene Komponenten, die aber lange nicht produziert werden. "Wir schieben einfach eine gewaltige Bugwelle vor uns her. Das ist nicht sehr kosteneffizient. Und wir schaden uns am Ende selbst."
Immerhin: Die Ursachen will Fry in seinen wenigen Wochen in Grove bereits erkannt haben. "Es liegt an unserer Herangehensweise und an der Unternehmenskultur", so sagt er, ohne ins Detail zu gehen.
Auch Vowles entdeckt große Defizite bei Williams
Mit Teamchef Vowles hat Fry hier aber einen Verbündeten. Denn auch Vowles hat im Winter 2023/24 erstmals selbst mitbekommen, wie die Fahrzeug-Entwicklung im Williams-Rennstall abläuft. Bei seinem Dienstantritt zu Beginn der Saison 2023 waren diese Arbeiten bereits abgeschlossen gewesen.
Nun sagt Vowles, das Chassis des FW46 habe noch im Januar 2024 nur aus "einem Haufen Teile" bestanden und damit keine gute Ausgangsbasis dargestellt. "So kann man nicht arbeiten", meint Vowles. Das Team schaffe sich so "ein Stresslevel, den das Unternehmen nicht braucht" und kämpfe eher ums reine Überleben als darum, ein leistungsfähiges Fahrzeug auf die Rennstrecke zu bringen.
Teamchef: Was bei Williams falsch läuft, ist offensichtlich
Genau hier müsse er als Teamchef ansetzen, meint Vowles. "Das ist das, was Pat mit Kultur beschreibt." Und eben diese Williams-Kultur, die über die Jahre wiederholt kritisiert wurde, werde jetzt schrittweise umgekrempelt.
Vowles: "Ich will mich nicht beschweren, sondern nur darauf hinweisen, dass es in unserem System eine Menge Möglichkeiten gibt, es besser zu machen. Und wir müssen sicherstellen, dass dies der letzte Winter und die letzte Bauphase ist, die wir so durchmachen. So darf es nicht mehr laufen."
Diese Kritik weitet Vowles auch auf die Entwicklungsarbeit seines Rennstalls aus. Das sei zwar eine im Vergleich kleinere Aufgabe und sie laufe "kontrollierter" ab, doch es habe 2023 "Anzeichen für Probleme" gegeben, die ebenfalls gelöst werden müssten.
Als Teamchef habe er also eine gewaltige Aufgabe vor sich. "Aber das wusste ich eigentlich schon an meinem zweiten Tag", meint Vowles. "Denn es dauert nicht lange, bis man merkt, dass es bei Williams im Vergleich zu dem, was ich gewohnt war, sehr wenig gibt. Und damit meine ich nicht nur die Einrichtungen und Gebäude, sondern auch die Datenverarbeitung."
Der Unterschied zu Mercedes ist gewaltig
Und Vowles kennt gewissermaßen den "Goldstandard" in der Formel 1: Er war jahrelang in leitender Funktion beim Mercedes-Werksteam beschäftigt. Umso deutlicher fallen ihm die Unterschiede nun auf.
Ein Beispiel: Williams habe keinerlei Daten darüber zusammengestellt, Wie viel ein Bauteil koste oder wie lange es dauere, um bestimmte Teile herzustellen. Es habe auch an Übersichten für komplexere Produktionen gefehlt.
"Wenn dir diese Rohdaten fehlen, verwundert es nicht, dass man nicht weiß, wo sich die Sachen im Unternehmen befinden, wie sie zusammengesetzt gehören oder wie lange es dauert, bis sie entwickelt und gebaut sind", sagt Vowles. Die Mängel bei Williams seien also "sehr offensichtlich".
Ein Erbe der letzten Jahre unter Williams-Eigentümerschaft
Und diese Mängel gehen vermutlich zurück auf die letzten Jahre unter dem Management der Williams-Familie, die das Traditionsteam bis Mitte 2020 selbst geführt und dann an die US-Investorengruppe Dorilton Capital verkauft hat. Schon weit vor diesem Verkauf hatten ehemalige Teammitglieder wiederholt davon berichtet, wie "eingestaubt" die Strukturen bei Williams seien, wie überholt die Arbeitsabläufe.
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Nun obliegt es Vowles, Williams in die Moderne zu führen. Und er sieht eine gute Chance, das tatsächlich zu schaffen. "Denn wir sind kein faules Unternehmen. Im Gegenteil: Die Leute in unserem Team sind dazu bereit, auf dem Boden zu schlafen, damit wir die Arbeit erledigt kriegen. Aber das braucht es gar nicht."
"Wir haben nämlich eine Reihe von Personen, die eine sehr gute Vorstellung davon besitzen, was am Auto benötigt wird", sagt Vowles. Einzig die Umsetzung sei die große Schwachstelle, weil es bisher "nicht systematisch" abgelaufen sei, weil es "keine Prozesse dahinter" gegeben habe.
Vowles: Dieser extreme Winter wiederholt sich nicht
Das alles habe er aber erst einmal für sich selbst herausfinden müssen. Deshalb habe er den Winter 2023/24 dazu genutzt, "das [aktuelle] System bis ans absolute Limit zu belasten, um zu verstehen, wo es bricht und wie es bricht", erklärt Vowles.
Er betont: "Das machen wir einmal. Das ist der einzige Winter, in dem wir so was tun. Von jetzt an tun wir das nicht mehr."
Kein "so wie immer" mehr bei Williams
Dazu gehöre auch, mit bestimmten Denkmustern im Unternehmen aufzuräumen, so Vowles. Ein "das haben wir immer schon so gemacht, also machen wir es weiterhin so" werde es unter seiner Regie nicht mehr geben. Es bleibe "nur noch ein bisschen" dessen, was früher bei Williams Usus gewesen sei.
Das gehe nicht spurlos an der Belegschaft vorbei, sagt Vowles. Denn sein Vorgehen ist "völlig anders als das, was sie bisher gekannt haben". Und "kulturelle Veränderungen vollzieht man nicht in einer Stunde, in einem Tag oder gar über einen Winter hinweg. Für eintausend Personen dauert das etwa drei Jahre lang", meint Vowles.
In dieser Zeit gelte es, die Mitarbeiter zu begleiten und für die neuen Ansätze zu begeistern. "Wir wollen niemanden in eine Schublade stecken, sondern sie davor bewahren, Stunden ihres Lebens mit etwas Sinnlosem zu verbringen. Wir wollen anfangen, intensiv darüber nachzudenken, wie wir vorankommen können", sagt Vowles.
Dieser Prozess sei für manche Menschen "mit Unbehagen verbunden" und das sei ihm bewusst. "Das ist kein Widerstand im Sinne eines offensichtlichen Kampfes dagegen", meint Vowles. "Aber es ist der ganz normale Widerstand, auf den man stößt, wenn man versucht, seine Kultur zu verändern."