Charles Leclerc erklärt: Wann Ferrari den SF-23 wirklich verstanden hat
Ferrari-Fahrer Charles Leclerc benennt den Schlüsselmoment seines Teams aus der Formel-1-Saison 2023, der zum sportlichen und technischen Aufschwung geführt hat
(Motorsport-Total.com) - Wann genau hat sich für Ferrari die Formel-1-Saison 2023 zum Besseren gewendet? Das wurde Charles Leclerc bei der Präsentation des Ferrari SF-24 gefragt. Seine Antwort weicht ab von den Äußerungen, die er zum Jahresende getroffen hat - aber nur auf den ersten Blick. Und erst jetzt erschließt sich, was wirklich den sportlichen und technischen Umschwung bei Ferrari eingeleitet hat.
© Davide Cavazza
Der neue Ferrari SF-24 beim Shakedown auf der Formel-1-Strecke in Fiorano 2024 Zoom Download
Dafür muss man laut Leclerc "sechs Monate" zurückgehen und landet beim ersten Grand Prix nach der Formel-1-Sommerpause in Zandvoort. Aber das Besondere erschließt sich nicht anhand der Ergebnislisten zum Niederlande-Grand-Prix: Bei anderen Rennen war Ferrari deutlich erfolgreicher. Was also ist in Zandvoort genau passiert?
Leclerc spricht von "speziellen Tests", die sein Team im Freien Training absolviert habe, und davon, dass diese Tests "klare Ergebnisse" geliefert hätten, von denen Ferrari nachhaltig profitiert habe. Was konkret ausprobiert wurde, dazu sagt Leclerc aber nichts.
Neuteile jedenfalls waren es nicht: Ferrari war eines der Teams, das in Zandvoort kein Update einsetzte. Was auch immer der Rennstall aus Maranello gemacht hat, es waren Experimente mit bestehendem Material.
Die Theorie zum Ferrari-Aufschwung nach Zandvoort
Laut The Race soll vor allem der Beam-Wing für Erkenntnisse gesorgt haben. Unter dem Beam-Wing versteht man die kleinen Flügelflächen unterhalb des Heckflügels, aber oberhalb des Diffusors. Und in der Variante für viel Abtrieb soll dieser Beam-Wing den Ferrari SF-23 sehr instabil gemacht haben, weil damit viel Untersteuern auftrat. Dieses Untersteuern bekam Ferrari in Zandvoort nicht ausbalanciert.
Dieser Theorie zufolge war das der Aha-Moment, auf den Ferrari gewartet hatte: dass die Fahrzeug-Front zu wenig aerodynamischen Abtrieb generierte, um die Gesamtleistung des Autos zu optimieren. Und diese Erfahrung dürfte im zweiten Schritt für eine Weiterentwicklung gesorgt haben, die diese Probleme kurierte.
Denn schon drei Rennwochenenden später in Suzuka hatte Ferrari einen neuen Unterboden dabei. Und dieser, so sagte Leclerc am Saisonende, habe alles verändert für ihn im Cockpit des SF-23: Auf einmal war da eine "starke Front", die es davor nicht gegeben hatte. Auf einmal fühlte sich Leclerc "viel wohler" im Auto. Und auf einmal ging es bei der Entwicklung "in die richtige Richtung", meint Leclerc.
Ferrari-Teamchef Vasseur: Zandvoort war nur ein Puzzlestück
Ferrari-Teamchef Frederic Vasseur aber will all das nicht auf den Niederlande-Grand-Prix reduziert wissen. Er sagt: "Ich bin mir nicht sicher, ob das nur mit Zandvoort zusammenhängt, aber es war ein Teil unserer Erholung."
Fotostrecke: Formel-1-Technik: So brachte Ferrari den SF-23 auf Kurs
Das Nase des SF-23 unterscheidet sich von seinem Vorgänger durch ihre Länge, da die Spitze nicht mehr mit der Hauptplatte des Frontflügels verbunden ist. Fotostrecke
Letztlich habe sich das Testen im Freitagstraining also gelohnt, betont Vasseur: "Es ist nie einfach, eine Session zu opfern für ein paar Experimente, aber ich denke, wir haben das gut gemacht. Es war die richtige Entscheidung im richtigen Augenblick. Und wahrscheinlich war das einer der Gründe für den Aufschwung im Team."
Ein Durchbruch auch für die Moral im Team
Für Leclerc war es nicht nur ein technischer Durchbruch. Er erkannte schon damals eine "enorme Motivation" im Team, die durch die neuen Erkenntnisse entstanden sei. "Wir dachten: 'Jetzt verstehen wir, wo die Schwachstellen des Autos liegen, an denen wir arbeiten müssen.' Und von diesem Moment an waren alle völlig einverstanden mit dem Kurs, den wir einschlugen."
Als ob es plötzlich "klick" gemacht habe bei Ferrari, sagt Leclerc: "Es ergab jetzt alles Sinn. Und der neue Unterboden in Japan war sofort ein Fortschritt an der Frontpartie, aber auch bei der Windanfälligkeit", erklärt er.
Und die Ferrari-Ergebnisse wurden besser: Leclerc erzielte allein an den restlichen sechs Wochenenden drei Polepositions und fuhr viermal unter die Top 3 in Grands Prix und Sprintrennen. Das bezeichnet er als den "Schwung, an den [der SF-24 für 2024] hoffentlich anknüpfen kann". Sprich: Ferrari will Red Bull in der neuen Rennsaison von Anfang an herausfordern.
Erstmals seit 1968: Ferrari SF-24 in ganz neuen Farben!
Ferrari hat am Dienstag das neue Formel-1-Auto präsentiert und gleich den Shakedown damit absolviert. Weitere Formel-1-Videos
Das sei aber nicht als "neuer Optimismus" zu verstehen, betont Leclerc. "Ich denke, dieser Optimismus ist schon sechs Monate alt. Aber es ist natürlich gut, das zu sehen. Das macht es spannend für die Zukunft."
Mission 2024: Ein weniger empfindliches Auto
Eine der wichtigsten Baustellen war es für die Ferrari-Ingenieure, dem SF-24 weniger störende Eigenschaften mit auf den Weg zu geben. "2023 reagierte das Auto extrem empfindlich auf Änderungen der Windrichtung oder äußere Bedingungen", sagt Leclerc. "Das hat es uns sehr schwer gemacht, das Maximum aus dem Auto herauszuholen, sobald es auch nur geringfügig wechselhaft war."
"Daran", meint Leclerc, "haben wir intensiv gearbeitet. Und auf der Grundlage des Simulators haben wir einen Schritt nach vorn gemacht, sogar einen bedeutenden Schritt nach vorn. Aber noch ist es sehr früh, um zu beurteilen, ob das auch in der Realität so sein wird."
Denn bisher haben die Ferrari-Fahrer den neuen SF-24 nur kurz Probe gefahren beim Shakedown und dem anschließenden Filmtag in Fiorano. Dabei habe er "eigentlich nicht an die Grenzen" gehen können, sagt Leclerc. Immerhin: Der erste Eindruck sei ein positiver gewesen.
"Ich erinnere mich, dass ich im vergangenen Jahr nach den ersten drei, vier Runden [im SF-23] eigentlich nicht zufrieden war mit dem Verhalten des Autos, weil es sehr, sehr schwierig zu fahren war", sagt Leclerc. Der SF-24 dagegen präsentiere sich viel gutmütiger, fühle sich "gesünder und besser an", so formuliert es der Ferrari-Fahrer.
Ferrari will nicht überoptimistisch klingen, aber ...
"Andererseits sagt das nichts über die Wettbewerbsfähigkeit des Autos aus. Denn wenn andere Teams einen größeren Schritt nach vorne gemacht haben, was die Rundenzeiten angeht, dann kann das Auto zwar leichter zu fahren sein. Aber wenn es nicht schnell genug ist, wird es auf der Strecke eben nicht schnell genug sein."
Deshalb lässt sich Leclerc praktisch nur auf eine Aussage festnageln: Dass der erste Eindruck vom Neuwagen ein positiver ist. O-Ton: "Ich würde sagen, ich komme in diesem Jahr besser zurecht als 2023."
Also dürfte es Ferrari gelungen sein, eine Vorgabe von Teamchef Vasseur umzusetzen. Er wollte das Auto "einfacher zu fahren" machen und mit weniger "Einschränkungen" versehen. "Ich denke, da haben wir einen guten Schritt gemacht."
Ist damit auch der Rennspeed kuriert?
Vor allem die nicht konstante Ferrari-Leistung soll damit Geschichte sein, sagt Vasseur: "Im Großen und Ganzen waren wir 2023 im Qualifying konkurrenzfähig, aber im Rennen haben wir gelitten. Und ich bin nicht sicher, ob das immer am Reifenverschleiß lag. Es lag eher an unserer Nicht-Konstanz", so der Teamchef.
Ferrari-Fahrer Leclerc wiederum nennt es ein "Problem mit der Balance" und verweist erneut auf die "Wetterfühligkeit" des SF-23. "Das wirkte sich im Renntempo wahrscheinlich mehr aus als auf eine schnelle Runde im Qualifying."
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Ferrari hat bei seiner Online-Präsentation am 13. Februar einen mehrheitlich roten Ferrari SF-24 vorgestellt. Oder sogar zwei SF-24: Das Team zeigt nämlich gleich beide Autos und ... Fotostrecke
Leclerc nimmt an dieser Stelle sich selbst und seinen Teamkollegen Carlos Sainz in die Pflicht: "Wir Fahrer müssen hier wichtiges Feedback geben. Denn das sind die Dinge, die in den Daten etwas schwieriger zu definieren sind."
Ferrari: Nur Schritte nach vorne, aber keine zurück
Bleibt die Frage, ob Ferrari zugunsten einer besseren Balance andere Dinge vernachlässigen musste oder einen "Kompromiss" hat eingehen müssen, um die Verbesserung zu erzielen. Aber das verneint Leclerc: Sein Team habe nicht eine Facette des Fahrzeugs auf Kosten einer anderen optimiert.
"Oder lasst es mich so sagen: Man geht Kompromisse ein bei der Zeit der Ingenieure, wenn man sie an der Fahrbarkeit arbeiten lässt, statt am Abtriebsniveau des Autos. Aber das ist auch der einzige Kompromiss, den man eingeht. Und ich würde nicht mal sagen, dass es überhaupt ein Kompromiss ist."
"Es ist einfach die Art und Weise, wie wir vorgehen müssen. In diesem Fall mit Priorität - und ohne negative Folgen für einen anderen Bereich des Autos."