Toto Wolff: Hätte er doch schon 2020 auf seine Rücktrittsgedanken hören sollen?
Mercedes: Kein Licht am Ende des Tunnels
Mercedes hat den "Zero-Pod" entfernt, Mike Elliott in die Wüste geschickt, James Allison wieder aus dem Aufsichts- ins operative Tagesgeschäft geholt, als Technischen Direktor. Es wurde ein neues technisches Konzept entwickelt, Lewis Hamiltons Wunsch entsprochen, das Cockpit weiter nach hinten zu rücken, selbst die Farbe des Autos wurde geändert.Die Ergebnisse werden trotzdem nicht besser, sondern schlechter.Sicher, George Russell wurde ein bisschen zum Opfer eines miesen Tricks von Fernando Alonso, den die FIA auch bestraft hat. Und dass bei Lewis Hamilton zum ersten Mal seit Russell in Melbourne 2023 eine Mercedes-Powerunit des Werksteams abgeraucht ist, okay, kann passieren.Schließlich ist der Mercedes-Antrieb nicht gerade für Zuverlässigkeitsprobleme bekannt. Der letzte Motorschaden vor Melbourne 2023 passierte 2020 am Nürburgring, bei Valtteri Bottas.So steht unterm Strich eine Doppelnull bei Mercedes, die erste seit Baku 2021.Toto Wolff und sein Hamsterrad
In seiner Medienrunde nach dem Rennen wirkte Toto Wolff ungewohnt angefasst. Er müsste lügen, würde er sagen, dass er der Situation irgendwas Positives abgewinnen kann, meinte er unter anderem. Der Doppelausfall sei "brutal", sagte er. Und: "Mein Hamsterrad dreht sich, und ich komme nicht raus."
Was er damit meint: Sein Job hat ihm vermutlich schon mal mehr Spaß gemacht als jetzt. Und seine Position als Anteilseigner - Wolff gehören 33 Prozent des Mercedes-Teams - bringt es mit sich, dass er nicht einfach kündigen und zum nächsten Team wechseln kann, wie das Fußballtrainer regelmäßig machen.
2020: Erstmals Gedanken an Rücktritt als Mercedes-Teamchef
Es ist nicht seine erste Sinnkrise als Mercedes-Teamchef. Schon im März 2020 haben wir darüber berichtet, dass er seinen Job an den Nagel hängen könnte. Es war die Zeit, als der Österreicher gerade als Aktionär beim britischen Sportwagenhersteller Aston Martin eingestiegen ist.
Wolff dementierte die Gerüchte, er könne als Mercedes-Teamchef bald Geschichte sein, energisch - nur um sie dann zwei Jahre später, in einem Interview mit dem Telegraph, nachträglich als wahr zu bestätigen: "2020 ging es mir gar nicht gut. COVID hat nicht geholfen. Es war wichtig für mich, einmal über alles nachzudenken und zu hinterfragen, ob das noch mein Platz ist. Ist es das, was ich bis zum Ende meines Businesslebens machen will?"
Wolff erzählte engen Freunden von seinen Plänen und davon, dass er womöglich aufhören werde. Nur um es sich letztendlich doch anders zu überlegen.
Lewis Hamilton wurde 2020 noch einmal Weltmeister, und Mercedes gewann sogar bei der dramatischen WM-Niederlage gegen Max Verstappen in Abu Dhabi 2021 immerhin den Konstrukteurstitel. Ein Trostpreis, der in der historischen Nachbetrachtung jener denkwürdigen Saison oft vergessen wird.
Vielleicht wäre es gescheiter gewesen, Wolff hätte doch schon 2020 aufgehört.
Er war zu dem Zeitpunkt König der Welt, mit einer Weste, wie sie weißer gar nicht strahlen könnte. Seit er bei Mercedes war, fuhr das Team von Sternstunde zu Sternstunde, und selbst Zweifler wie ich, die immer gemeckert hatten, er habe viel von seinem Erfolg aus der Ross-Brawn-Ära geerbt, mussten aufhören zu kritisieren, als Wolff auch den Weggang der Masterminds Paddy Lowe und Andy Cowell verkraftete und Mercedes selbst nach der 2017er-Regelreform nicht aufhörte zu gewinnen.
Ist es wirklich nur ein Problem mit der Physik?
Aber wenn es stimmt, was Wolff jetzt wieder sagt, dann hat Mercedes eh kein Problem in Organisation und Struktur, sondern nur ein Problem mit der Physik des Rennwagenbaus. Eine Logik, nach der das Team früher oder später wieder gewinnen müsste.Letztendlich muss immer der Chef den Kopf hinhalten
Am Saisonbeginn, selbst nach den moderaten Ergebnissen in Bahrain und Saudi-Arabien, da glaubte Wolff noch, dass der W15 ein potenzielles Siegerauto ist, dessen Potenzial nur entfaltet werden muss. Jetzt, nach Melbourne, kommen ihm daran die ersten Zweifel."Die Daten treffen keine Entscheidungen", sagt er. "Die treffen die Menschen."Offenbar hat Mercedes in den vergangenen Jahren nicht die richtigen Entscheidungen getroffen. Und Toto Wolff, einer, der um Selbstkritik nie verlegen ist, ist sicher der Erste, der einräumen würde, dass dafür in allerletzter Konsequenz immer der Chef den Kopf hinhalten muss.Toto Wolff ist aber auch immer der Erste, wenn es darum geht, in einer Krise etwas Positives zu finden. In der aktuellen Situation könnte das sein: Wenn es ihm gelingt, Mercedes als Teamchef wieder an die Spitze der Formel 1 zu führen, dann wäre das endgültig die Vergoldung seines silbernen Lebenswerks.Nur: Was, wenn nicht?Einer hat letzte Nacht sicher besser geschlafen als Toto Wolff: Carlos Sainz. Warum, das hat Norman Fischer in der Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" aufgeschrieben.EuerChristian NimmervollHinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.
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