Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
Der erste technische Doppelausfall seit 1955: Warum die Defekte von Valtteri Bottas und Lewis Hamilton in Österreich den Mercedes-Bossen Sorgen bereiten sollten
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
stellt Euch vor, Ihr wacht am Morgen nach dem Rennen auf und stellt fest: Euer schlimmster Albtraum ist wahr geworden. Dann wisst Ihr, wie sich Niki Lauda und Toto Wolff an diesem Montag fühlen. Denn beim Österreich-Grand-Prix in Spielberg ist eben dieser Albtraum der Mercedes-Teambosse eingetreten: Beide Fahrzeuge schieden mit technischen Defekten aus. Und das hat es unter ihrer Führung noch nie gegeben!
Ein Blick in die Formel-1-Historie zeigt sogar: Es ist der erste technisch bedingte Mercedes-Doppelausfall seit dem Italien-Grand-Prix 1955. Damals schieden die Silberpfeil-Werksfahrer Karl Kling und Stirling Moss mit Getriebe- und Motorschaden aus. Dieses Mal erwischte es Valtteri Bottas und Lewis Hamilton mit fehlerhafter Hydraulik und fehlendem Benzindruck.
Die Historie entschärft den langen Zeitraum zwischen den Doppelpannen aber natürlich sofort wieder: Denn Mercedes war nach 1955 und bis einschließlich 2009 gar nicht mit einem eigenen Werksteam in der Formel 1 vertreten, kehrte erst 2010 in den Grand-Prix-Sport zurück.
Der letzte nicht technische Doppelausfall datiert übrigens aus dem Jahr 2016, als sich Hamilton und Rosberg beim Spanien-Grand-Prix gleich zu Beginn gegenseitig aus dem Rennen kegelten. Es siegte - wie auch beim neuerlichen Doppelaus von Silber in Spielberg - Max Verstappen für Red Bull.
Die Ausfall-Statistik der Silberpfeile ist dennoch bemerkenswert: Seit dem Beginn der modernen Turbo-Ära in der Formel 1 im Jahr 2014 schieden Mercedes-Werksautos nur zehn Mal mit technischen Defekten aus. 2016 und 2017 hatte das Team sogar jeweils nur eine Panne zu beklagen: die Motorschäden von Hamilton im Malaysia-Grand-Prix 2016 und von Bottas im Spanien-Grand-Prix 2017. Das entspricht einer Ausfallquote von nur zwei bis drei Prozent bei insgesamt 38 beziehungsweise 40 Rennstarts pro Jahr!
Mercedes glänzt mit hervorragender Pannenstatistik
Ähnlich beeindruckend liest sich die Erfolgsstory von Lauda und Wolff seit der Übernahme der Teamleitung zur Saison 2013: Lose Räder und nicht festgezurrte Radmuttern nicht mitgerechnet mündeten nur sieben Prozent aller immerhin 214 Rennstarts (nämlich 15) in einem technisch bedingten Ausfall. (Weitere Details finden Sie in unserer umfangreichen Formel-1-Datenbank!)
Und dann der bittere Totalausfall in Spielberg, der Mercedes nicht nur einen möglichen Rennsieg, sondern auch die Führung in beiden WM-Gesamtwertungen kostete! Es profitiert Hauptgegner Ferrari - und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem Mercedes wieder das Heft in die Hand zu nehmen schien.
Wir erinnern uns: Auch dank der Motoren-Ausbaustufe "2.1" hat Mercedes beim Frankreich-Grand-Prix vergangene Woche die Initiative im Titelkampf zurückgewonnen, wollte in Österreich mit einem großen Aerodynamik-Update nachlegen. Die neuen Teile verfehlten ihre Wirkung nicht: Bottas und Hamilton fuhren im Qualifying geschlossen in die erste Startreihe und im Rennen einem möglichen Doppelsieg entgegen. Doch jetzt ist Vettel plötzlich wieder WM-Spitzenreiter ...
Krisensitzung in Brackley am Montag
Wolff sprach nach dem Rennen vom "schmerzhaftesten Tag" seiner Mercedes-Karriere. Kein Wunder: Einen solchen Tag, mit gleich zwei Ausfällen in der Formel 1, hatte er als Sportchef der Marke bisher noch nie erlebt. Entsprechend groß dürfte die Motivation sein, die Fehler aufzuspüren und auszumerzen. So war es in der Vergangenheit jedenfalls bei jeder noch so kleinen Niederlage. Man darf also gespannt sein, wie viele Hebel Mercedes für die Nachforschungen bei seinem GAU-Ergebnis in Bewegung setzt.
Nach einer unruhigen Nacht hat in der Teamzentrale in Brackley in Großbritannien bereits die Aufarbeitung begonnen. Die erste Sitzung wurde für Montagmorgen um 8 Uhr anberaumt. Dann muss sich Mercedes auch die Frage stellen, ob es mit seinem Update-Marathon in den letzten Tagen zu viel gewollt hat. Oder ob es nur Zufall war, dass in Spielberg beide Silberpfeile mit technischen Defekten ausgerollt sind. Beide Fälle wären schlechte Nachrichten für das erfolgsverwöhnte Mercedes-Werksteam, von der falschen Taktik im Rennen mal ganz zu schweigen. Gerade die Pannen-Häufung an nur einem Rennwochenende dürfte Lauda und Wolff nachdenklich stimmen und mehr als nur eine Sitzung lang beschäftigen.
Fotostrecke: Alle Formel-1-Autos von Mercedes
1954: Mercedes W196 / Fahrer: Juan Manuel Fangio, Karl Kling, Hans Herrmann, Hermann Lang Fotostrecke
Doch Mercedes ist nicht nur Weltmeister in der Formel 1, sondern auch absolute Spitze bei der eigenen Fehleranalyse. Das hat sich schon mehrfach gezeigt: Wann auch immer die Silberpfeile eine Niederlage einstecken mussten, die Reaktion erfolgte prompt nach einer eingehenden Untersuchung hinter den Kulissen. Auf diese Stärke werden Lauda und Wolff auch in diesem Fall vertrauen. Die verlorenen Punkte aus Österreich bringt das natürlich nicht zurück. Aber vielleicht etwas mehr Ruhe in den kommenden Nächten.
Wer sonst noch schlecht geschlafen hat:
Lewis Hamilton dürfte nach dem Rennen in Spielberg gefrustet zu Bett gegangen sein. Nicht nur aufgrund des Ausfalls in aussichtsreicher Position, sondern vor allem aufgrund der kuriosen Strategie seines Teams, ihn unter virtuellem Safety-Car nicht zum Boxenstopp hereinzuholen. Lassen sich die Zweifel, die Hamilton schon während des Rennens per Funk äußerte, mit einer einfachen Entschuldigung von Cheftaktiker James Vowles einfach so wegwischen? Auch die verlorene WM-Führung wird Hamilton ärgern. Doch unter Druck hat er oftmals schon geglänzt. Und als nächstes folgt sein Heimrennen in Silverstone ...
Auch sein Mercedes-Teamkollege Valtteri Bottas dürfte eine unruhige Nacht verbracht haben, wenngleich er die vielen Rückschläge in diesem Jahr inzwischen mit Humor nimmt. Ganz nach dem Motto: Wie viel Pech kann man denn haben? Und das ist in seinem Fall wahrscheinlich eine rhetorische Frage. Denn immerhin war es bereits sein zweiter Ausfall im neunten Rennen und er liegt mit dem vielleicht schnellsten Auto der Formel 1 2018 nur auf Position sechs der Fahrerwertung, gut 50 Punkte hinter Hamilton. Das sollte ihm zu denken geben.
Ob Daniel Ricciardo einen erholsamen Schlaf hatte? Wohl kaum: Ausgerechnet sein Teamkollege Max Verstappen bescherte Red Bull am Red-Bull-Ring den wahrscheinlich prestigeträchtigsten aller Formel-1-Siege bisher. Und Ricciardo selbst kam nicht mal über die Distanz, an seinem 29. Geburtstag. Dazu noch sein "Meuterei-Versuch" beim Windschatten-Fahren im Qualifying und die über allem stehende Frage für 2019: bei Red Bull bleiben oder das Team verlassen? An diesem Wochenende wird Ricciardo also gleich mehrfach ins Grübeln gekommen sein.
Neben Mercedes sind vor allem Renault und Williams frustriert aus Österreich abgereist. Bei Renault debütierte der neue "Party-Modus" im Qualifying, enttäuschte aber (fast) auf ganzer Linie, weil nicht mal die Fahrer selbst einen Leistungssprung ausmachen konnten. Im Rennen rauchte Nico Hülkenbergs Renault-Motor dann spektakulär ab, das Team blieb erstmals 2018 ohne Punkte - wobei der Kampf im Mittelfeld hinter den drei Topteams immer enger wird. Und Williams? Wieder mal abgeschlagen Letzter ohne Chance auf Punkte, obwohl einige Top-10-Anwärter ausgefallen sind. Da helfen bald auch keine Durchhalteparolen mehr: Das Traditionsteam hat die sportliche Talfahrt noch immer nicht hinter sich. Bringt auch das Silverstone-Update nichts, wird es allmählich zappenduster in Grove ...
Euer
Stefan Ehlen
Übrigens: Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat, nämlich die beiden Red-Bull-Verantwortlichen Dietrich Mateschitz und Helmut Marko, das können Sie jetzt in der Schwesterkolumne meines Kollegen Christian Nimmervoll auf de.motorsport.com nachlesen.