Red-Bull-Designer Adrian Newey: "Wir wissen, wie man der Jäger ist"
Red-Bull-Designer Adrian Newey spricht im Interview über den bisherigen Zweikampf mit Red Bull, Streitereien abseits der Strecke und die Aussichten von Max Verstappen
(Motorsport-Total.com) - Zum ersten Mal seit acht Jahren befindet sich Red Bull zur Saisonhalbzeit wieder ernsthaft in einem Formel-1-Titelkampf. Acht Punkte trennen Max Verstappen nach dem Ungarn-Rennen von Spitzenreiter Lewis Hamilton, zwölf Punkte sind es bei den Konstrukteuren. Noch vor zwei Rennen schien der Vorsprung aus Red-Bull-Sicht komfortabel, doch nun ist man der Jäger.
Red-Bull-Technikleiter Adrian Newey kennt enge Titelkämpfe aus der Formel 1 zur Genüge und spricht im Interview über die aktuelle Situation, die erbitterten Kämpfe abseits der Strecke und den erfolglosen Protest gegen den Zwischenfall der beiden WM-Rivalen in Silverstone.
Frage: "Herr Newey, die Saison ist beinahe zur Hälfte um und Red Bull befindet sich nach langer Zeit wieder in einem Titelkampf. Sie haben das schon öfters erlebt, aber wie fühlt es sich an, jetzt wieder mitten dabei zu sein?"
Adrian Newey: "Wir müssen in allen Bereichen auf höchstem Niveau arbeiten, um ein siebenmaliges Weltmeisterteam zu schlagen, und ich glaube, das haben wir getan. Die vergangenen Rennen waren sehr schmerzhaft für uns, nachdem wir beim Tripleheader Frankreich-Steiermark-Österreich stark waren. Das macht deutlich, wie schnell sich die Dinge ändern können."
"Vor allem nach dem Großen Preis von Österreich sah es sehr gut aus. Wir hatten einen ordentlichen Punktevorsprung in den beiden Meisterschaften. Zwei Rennen später liegen wir in beiden leicht zurück, was umso schmerzhafter ist, als dass es nicht unsere Schuld ist. Das ist die Natur - und der Wettbewerb - des Sports, den wir betreiben. Wir müssen uns einfach weiter fokussieren und weiter Gas geben."
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Frage: "Hilft es, schon einmal in so einer Situation gewesen zu sein?"
Newey: "Eines der großartigen Dinge an Red Bull ist, dass wir immer eine gute Atmosphäre im Team hatten. Und dadurch hatten wir auch eine sehr gute Stabilität in der Belegschaft, die bis in eine Zeit zurückreicht, bevor wir erstmals einen Titelkampf führen konnten."
"Wir haben 2009 verloren, aber das und die Erfahrungen von zwei sehr knappen Siegen in den Jahren 2010 und 2012 haben uns geformt und uns ein Maß an Widerstandsfähigkeit gegeben, das uns jetzt sehr nützlich ist. Wir wissen, wie man der Jäger und der Gejagte ist, und das ist definitiv eine Stärke."
Bahrain als Bestätigung
Frage: "Habt ihr erwartet, in diesem Jahr um den Titel zu fahren? War das schon abzusehen, bevor der RB16B zum ersten Mal auf die Strecke gegangen ist?"
Newey: "Bis man auf der Strecke ist, weiß man nicht viel. Wir hatten über den Winter eine mittelgroße Regeländerung in Bezug auf einige aerodynamische Einschränkungen am Boden und am Heck des Autos. Es war keine große Änderung, aber sie erforderte einige Optimierungen am Auto."
"Außerdem waren wir in der einzigartigen Situation, dass wir das letztjährige Auto homologieren mussten, um der Formel 1 bei der Bewältigung der COVID-Probleme zu helfen. Das schränkte die Möglichkeiten ein, die wir mit den Token hatten. Wir haben uns entschieden, unsere für das Getriebegehäuse auszugeben, was uns auch ermöglichte, die Anordnung der Hinterradaufhängung zu ändern. Das war die einzige Sache, die meiner Meinung nach beim RB16 nicht so gut funktioniert hatte."
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"Diese Änderungen haben uns einen vernünftigen Schritt nach vorn gebracht. Als wir in Bahrain ankamen, sah es so aus, als hätten wir die Regeln zu den aerodynamischen Einschränkungen recht gut verstanden. Checo war den RB16 natürlich noch nicht gefahren, aber Max hatte sofort das Gefühl, dass das neue Auto einen ordentlichen Schritt im Vergleich zum Vorgänger darstellte, und äußerte sich sehr positiv."
"Nach dem Test hatten wir das Gefühl, ein konkurrenzfähiges Paket zu haben - aber man weiß nie so recht, wo man liegen wird. Man weiß nicht, mit welchen Motormodi die anderen gefahren sind, wie viel Benzin sie getankt haben und so weiter. Der Große Preis von Bahrain hat dann bestätigt, dass wir konkurrenzfähig sind. Den haben wir zwar nicht gewonnen, aber seither war es ziemlich eng."
Frage: "Sind sie glücklich mit der Performance der Bereiche, in denen die Token verwendet wurden?"
Newey: "Um ein wenig zurückzugehen: Als wir letztes Jahr vom RB15 von 2019 auf den RB16 umgestiegen sind, gab es einige Dinge am Auto, die wir nicht ganz verstanden haben. Selbst mit dem Windkanalprogramm und all unseren Simulationswerkzeugen gibt es immer noch Dinge, die einen aus der Bahn werfen können, und genau das ist zu Beginn des Jahres 2020 passiert."
"Es hat ein wenig gedauert, bis wir diese Probleme verstanden und in den Griff bekommen haben. Der Vorteil dabei ist - wie so oft -, dass man Dinge lernt, die man sonst nicht gelernt hätte. Aus den Fehlern lernt man mehr als aus den guten Dingen. Ich denke, das war eine gute Voraussetzung für das, was wir über den Winter gemacht haben, und diese Entwicklungen haben uns dahin gebracht, wo wir jetzt sind."
Größte Regeländerung seit 1982
Frage: "Wir reden zwar über die Halbzeit, aber eigentlich sind noch mehr Rennen zu fahren als bisher absolviert wurden. Wie beeinflusst der harte Kalender mit potenziell zwölf Rennen in 16 Wochen die Entwicklung des Teams?"
Newey: "Das ist eine enorme Belastung für das Rennteam in Bezug auf Reisen und Zeit fern von zu Hause und eine Belastung für das Werk in Bezug auf den Verbrauch von Teilen - obwohl die letzten beiden Rennen natürlich eine ähnliche Belastung darstellten, wenn man die Menge an Unfallschäden bedenkt, mit denen wir jetzt zu kämpfen haben. Was die Entwicklung angeht, so hat die Anzahl der Rennen keinen großen Einfluss darauf. Der große Spagat ist die große Regeländerung."
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Frage: "Wie groß ist denn die Veränderung? Gibt es in der Geschichte der Formel 1 irgendetwas Vergleichbares?"
Newey: "Ich würde sagen, dies ist die größte Reglementsänderung, die wir seit dem Verbot der Ground-Effect-/Venturi-Autos Ende 1982 erlebt haben. Das ist wirklich eine Revolution. Das Einzige, was wirklich gleich bleibt, ist die Antriebseinheit, alles andere ist anders."
"Der Spagat besteht darin, dass wir das diesjährige Auto weiterentwickeln müssen, weil wir im Moment eine Chance auf den Titel haben - aber gleichzeitig können wir uns nicht nur auf dieses Jahr konzentrieren und die Zukunft ignorieren. Wir tun unser Bestes, um diese beiden Bälle zu jonglieren - und gleichzeitig mit der Budgetgrenze zurechtzukommen, die, wie jeder weiß, dazu geführt hat, dass wir das Team in einigen Bereichen leider verkleinern mussten."
Frage: "Das Team war in diesem Jahr in einige Scharmützel abseits der Strecke verwickelt. Wie ist das Gefühl, wenn Gegner einen durch Regeländerungen einbremsen wollen? Schmeichelt das?"
Newey: "Es ist absolut richtig, dass sich die Spitzenteams nur dafür interessieren, was ihre Hauptkonkurrenten machen, und sich nicht sonderlich darum kümmern, was ein Team am anderen Ende der Startaufstellung tut."
"In vielerlei Hinsicht ist es ein Kompliment für das Team, dass wir von anderen so genau unter die Lupe genommen werden. Wir haben das schon einmal erlebt, aber ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der wir hinter den Kulissen so viel Politik und Lobbyarbeit gegen unser Auto erfahren haben."
"Als wir 2010 und 2011 die flexible Aerodynamik erforscht haben, standen wir unter ständiger Beobachtung und mussten uns an jedes neue Regelwerk anpassen. Das haben wir auch schon bei den letzten Meisterschaftskämpfen mit Ferrari erlebt, bei denen es ebenfalls zu Streitigkeiten über die Flexibilität des Bodyworks kam. Ich mag den Vergleich mit dem Krieg nicht besonders - aber es ist ein guter Vergleich, und man muss jeden Aspekt betrachten, um seine Wettbewerbsposition zu verbessern."
"Das liegt in der Natur der Formel 1 und ist eines der Dinge, die sie so anregend machen, aber die Häufigkeit und Intensität in diesem Jahr sagt eigentlich alles."
Überprüfung der Hamilton-Strafe richtig
Frage: "Viele dieser Fragen werden hinter verschlossenen Türen behandelt, aber die Diskussion um die 'Flexi-Flügel' wurde ziemlich öffentlich ausgetragen. Was machen Sie daraus?"
Newey: " Wenn man das Problem mit dem flexiblen Heckflügel betrachtet, waren wir sicherlich nicht das einzige Team, das dieses Problem hatte. Aber als Mercedes anfing, darum Staub aufzuwirbeln, hat es sie natürlich nicht interessiert, was Alfa macht. Sie haben sich nur dafür interessiert, ob wir einen Vorteil daraus ziehen würden. Das war aber nicht der Fall."
"Der Austausch dieses Teils war aber mit Kosten verbunden, was natürlich schmerzhaft war. Es ist jedoch ein großartiger Beweis für die Stärke unseres Teams, dass wir auf Veränderungen reagieren können. Und es ist ein großartiges Beispiel dafür, dass wir, wenn unser Team in eine Ecke gedrängt wird, wieder aufstehen und genauso wettbewerbsfähig sein können."
Frage: "Rückblickend betrachtet: War es richtig, die Kommissare noch einmal um eine Neubewertung der Hamilton-Strafe für den Unfall in Silverstone zu bitten?"
Newey: "Ich glaube absolut, dass das richtig war. Das Recht auf einen Einspruch basiert auf neuen Beweisen. Die Regel ist ziemlich alt, und der Gedanke war damals, dass vielleicht jemand auf den Tribünen ein Video gefilmt hat, das einen neuen Blickwinkel bietet. Das wäre als neuer Beweis zulässig."
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"In unserem Fall hatten wir die Analyse von GPS-Daten, was für mich analog zu einem Video von den Tribünen ist. Beide sind während des Events technisch verfügbar, aber beide liegen den Kommissaren nicht vor. Im Fall von GPS braucht es die Analyse eines Spezialisten, um etwas erkennen zu können. Von daher war ich sehr enttäuscht, dass die Kommissare dies nicht als neuen Beweis angesehen haben. Das ist schade, aber es ist ihre Entscheidung, und wir akzeptieren das."
Frage: "Wir wird Max nach den Enttäuschungen der letzten beiden Rennen zurückschlagen? Sie haben mit einigen der absolut besten Formel-1-Fahrer gearbeitet. Wie fällt der Vergleich mit Max aus?"
Newey: "Er besitzt den gleichen stählernen Willen wie jeder Weltmeister. Also das Zeug, das man braucht, um trotz aller Widrigkeiten durchzuhalten und weiterzumachen. Er kann die Vergangenheit hinter sich lassen und sich auf das nächste Rennen konzentrieren. Sein fahrerisches Können ist natürlich großartig, und er ist zu einem großartigen Rennfahrer gereift."
"Er hat in diesem Jahr wirklich keinen einzigen Fehler gemacht. Die Rennen, bei denen er nicht so gut abgeschnitten hat - Baku, Silverstone und Ungarn - waren nicht seine Schuld, aber er hat kühlen Kopf bewahrt und sich von all dem erholt. Ich glaube nicht, dass ihn der Druck der Situation beeinträchtigen wird."
Fotostrecke: Red-Bull-Junioren in der Formel 1
Christian Klien (2004-2010): Mit Unterstützung von Red Bull debütiert der Österreicher 2004 bei Jaguar in der Formel 1. Nach der Übernahme des Rennstalls durch den Engergy-Drink-Hersteller fährt Klien auch 2005 und 2006 bei den meisten Grands Prix für das nun Red-Bull-Racing genannte Team an der Seite von David Coulthard. Ende 2006 scheidet Klien nach Streitigkeiten über einen Wechsel in die ChampCar-Serie aus dem Red-Bull-Kader aus. Später ist der Österreicher Testfahrer für Honda und BMW-Sauber und fährt 2010 drei Rennen für HRT. Fotostrecke
"Man kann sich sehr gut mit ihm unterhalten und er interessiert sich für viele verschiedene Dinge, was meiner Meinung nach für einen Formel-1-Fahrer sehr wichtig ist. Wenn man sich nur für die Formel 1 interessiert, kann das fast zu wichtig werden, wenn der Druck zu groß wird. Max hat in dieser Hinsicht ein sehr gutes Gleichgewicht."
Wie sich Newey in der Sommerpause entspannt
Frage: "Wurde von allen WM-Kämpfen schon einmal einer so intensiv abseits der Strecke ausgefochten wie in diesem Jahr?"
Newey: "Da die Zuschauerzahlen und die Größe der Teams zugenommen haben, ist die Formel 1 ein viel größeres Geschäft geworden, und das bringt mehr Medienwirbel und politische Manöver mit sich. Das Großartige an unserem Team ist, dass wir hier sind, um zu gewinnen, aber wir wollen es auf unsere Art und Weise tun, sodass wir mit Stolz auf unsere Siege blicken können."
"Wir sind auch ein Team, das intern und extern ehrlich miteinander spricht. Wir zeigen unsere Emotionen und sind stolz auf diese Offenheit in unserer Arbeitsweise, und für mich ist das ein erfrischendes Umfeld."
Frage: "Erfüllt Sie der enge Kampf mit Stolz, in diesem Jahr in der Formel 1 zu sein?"
Newey: "Wir haben in diesem Jahr einige großartige Rennen gesehen, aber der herausragende Zweikampf findet zwischen Max und Lewis statt. Es ist beeindruckend zu sehen, wie sich zwei Menschen, die absolut auf der Höhe ihres Könnens sind, Woche für Woche abrackern. Die Tatsache, dass sie mit unterschiedlichen Maschinen fahren und keine Teamkollegen sind, macht die Sache noch spannender. Der Wettbewerb wird dadurch noch größer, und das Auto und die Art und Weise, wie wir es schaffen, uns an die sich ständig verändernde Szene anzupassen, werden zu einem Faktor."
Frage: "Wie können Sie in der Sommerpause bei so einem knappen Duell überhaupt entspannen?"
Newey: "Normalerweise brauche ich ein paar Tage, um zur Ruhe zu kommen. Die erste Woche vergeht ziemlich langsam, dafür rennt die Zeit in der zweiten! In einem normalen Jahr versuche ich mit meiner Familie mal weg zu kommen und ins Warme zu gehen. Das ist in diesem Jahr aufgrund der Reisebeschränkungen und Quarantäne aber schwierig."
"Wir werden erst durch Großbritannien touren und dann ein paar Tage nach Kroatien fahren. Ich fahre gerne Wasserski und mache Paddleboarding. Ich mag Strandurlaub, aber liege nicht gerne am Strand. Ich möchte etwas machen, wenn ich da bin."