Nach Norris-Kontroverse: Was die Formel 1 von IndyCar lernen kann
Wie die Formel-1-Fahrer auf die Austin-Kontroverse rund um Max Verstappen und Lando Norris reagieren und welche Änderungen sie umgesetzt haben wollen
(Motorsport-Total.com) - Was ist eigentlich erlaubt im Zweikampf mit einem anderen Formel-1-Fahrer und was geht zu weit? Diese Frage beschäftigt das Fahrerlager seit dem USA-Grand-Prix 2024 in Austin besonders intensiv, nachdem im Rennen die beiden WM-Kandidaten Max Verstappen und Lando Norris wiederholt aneinandergeraten sind. Seither wird kontrovers darüber diskutiert.
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Max Verstappen (Red Bull RB20) vor Lando Norris (McLaren MCL38) beim Formel-1-Rennen in Austin 2024 Zoom Download
Und sind die Spielregeln wirklich jedem klar? "Für mich schon", meint Valtteri Bottas. "Es war immer ziemlich klar. Es ist nur so: Ein paar Fahrer gehen an die Grenzen der Regeln und führen sie damit fast ad absurdum."
Das liegt laut Carlos Sainz aber auch an den Regeln selbst: "Es ist halt schwierig, über irgendwelche Vorgaben nachzudenken, wenn du gerade überholst und 20 Meter später innen anbremst. Da fragst du dich nicht, ob du beim Scheitelpunkt vorne bist oder ob die Sportkommissare dein Verhalten als falsch einstufen. Ich jedenfalls denke nicht darüber nach. Ich will einfach aggressiv, aber fair vorgehen."
Doch genau hier liegt das Problem aus der Sicht der Fahrer: Die aktuellen Regeln in der Formel 1 werden von vielen als zu große Einschränkung aufgefasst. Lance Stroll etwa findet es "ein bisschen zu komplex", was den Fahrern an Vorgaben gemacht wird.
Seine These: "Früher war es einfacher. Da musste man Platz lassen, sobald ein anderes Auto auch nur ein Stück neben dir war. Jetzt musst du dich in einer bestimmten Position seitlich zum anderen Fahrzeug befinden und so weiter. Das Racing ist eine Raketenwissenschaft geworden. Deshalb finde ich, es wäre an der Zeit für etwas einfachere Spielregeln."
Ohne Regelbuch kein Racing mehr
Das sieht auch Verstappen so und sagt: "Ich glaube, wir kommen an einen Punkt, an dem ich immer das Regelbuch im Auto dabeihaben muss. Und dieses Buch ist über die Jahre ziemlich dicker geworden. Wir sind definitiv überreguliert. Aber ich verstehe das natürlich: Wenn es keine Regeln mehr gibt und dann ein Zwischenfall passiert, dann heißt es gleich wieder: Es braucht mehr Regeln. Es ist immer das gleiche."
Und darunter leidet der Rennsport auf der Rennstrecke. Zumindest Yuki Tsunoda fühlt sich als Formel-1-Fahrer nicht richtig wahrgenommen. "Ich habe den Eindruck, man erwartet von uns, wie Maschinen zu fahren, als wären wir von einer künstlichen Intelligenz gesteuert, um jede einzelne Regel zu befolgen. Aber wir fahren Rennen und kämpfen miteinander."
"Wenn man das wegnimmt, dann ist wie bei der KI in dem Projekt in Abu Dhabi. Ich finde, die FIA muss einen gewissen Spielraum lassen. Ich hoffe zumindest, dass wir unsere Interessen hier eines Tages etwas besser in Einklang bringen."
Von einer Hundert-Prozent-Lösung spricht ohnehin niemand im Fahrerlager. "Mit den ganzen Regeln und Vorgaben lassen sich ohnehin nicht alle möglichen Situationen abbilden", erklärt Oscar Piastri. "Deshalb bleibt es immer Stückwerk. Und deshalb sind manche Entscheidungen ein bisschen überraschend, finde ich."
Wie hart darf man fahren in der Formel 1?
Aber Wie viel tragen die Fahrer selbst zu solchen Kontroversen bei? Hat sich das Verhalten anderen Fahrern gegenüber in den vergangenen Jahren so krass verändert? Lewis Hamilton sagt: "Es sollte halt nicht erlaubt sein, einfach innen reinzustechen, von der Strecke zu fahren und trotzdem die Position zu behalten." Verstappen erwähnt er nicht in seiner Aussage, meint aber sicherlich auch ihn damit.
Auch Sainz hat bestimmt Verstappen im Hinterkopf, wenn er ergänzt: "Das ist genau die Frage, die ich den Sportkommissaren stellen muss. Denn im Prinzip kann der Verteidiger auf der Innenbahn so spät bremsen, wie er will, und dann so tun, als würde er noch versuchen, den Scheitel zu treffen. Das sind die Hauptpunkte, die es zu diskutieren gilt. Es muss einfach klar sein."
Bottas wiederum sieht hier neues Konfliktpotenzial, weil es inzwischen "nicht immer so einfach nachvollziehen [sei], wer mehr oder weniger Vorteil nimmt" bei einer strittigen Überholsituation mit Verlassen der Strecke.
"Unter den aktuellen Regeln schauen die Leute deshalb einfach darauf, dass sie beim Scheitelpunkt vorne sind, und zwar egal, ob sie die Kurve kriegen oder nicht", sagt Bottas. "So sollte es nicht laufen, aber eine Lösung habe ich auch nicht parat. Es ist auch eine streckenspezifische Sache."
Asphalt-Auslaufzonen laden zum Drüberfahren ein
Alexander Albon pflichtet ihm an dieser Stelle bei und meint: "Wenn wir den Platz nicht hätten, um von der Strecke zu fahren, dann wäre das kein Thema. In Singapur oder in Monaco oder sonstwo gibt es das nicht."
Auf Strecken wie in Austin mit großzügigen Auslaufzonen aus Asphalt aber wissen die Fahrer, "da geht es noch weiter", und das habe Folgen. "Du kannst einen anderen Fahrer rausdrücken und selbst noch die Kurve kriegen. Oder du kannst es auf der Außenseite probieren und sagen, der andere hat dich rausgedrückt. Wir wissen, wie man dieses Spiel spielt", sagt Albon. "Das lernst du schon im Kindesalter."
"Das macht es schwierig für die FIA zu sagen, wer die Schuld trägt. Da kannst du auch die Fahrer fragen und jeder wird etwas anderes sagen. Wir müssen uns also eigentlich mit den Auslösern beschäftigen: mit den Auslaufzonen und den Flächen, die es uns erlauben, diese Spielchen zu spielen. Wenn da zum Beispiel Gras kommt, dann macht das einen großen Unterschied."
Sainz stimmt zu. Konkret auf den Austin-Vorfall zwischen Verstappen und Norris in Kurve 12 bezogen erklärt er: "Ist da ein Kiesbett, dann denkt Lando gar nicht darüber nach, so spät zu bremsen und auf der Außenbahn zu überholen, weil er zwei Sekunden verlieren würde und noch dazu Dreck auf die Reifen bekäme. Aber auch Max würde es sich zweimal überlegen, so spät zu bremsen und selbst zu riskieren, ins Kiesbett zu rutschen."
Der Red-Bull-Ring macht es vor
Auch Pierre Gasly hält "vor allem die Auslaufzonen" für "das Problem" in dieser Diskussion. "Solange da keine Mauer steht oder kein Kiesbett kommt, solange wird man sich nicht zu hundert Prozent einig darüber sein, ob ein Manöver auf der Strecke passiert ist oder ob jemand rausgedrückt wurde."
"Am Red-Bull-Ring hat ein kleines Stück Kies dafür gesorgt, dass wir von 48 Tracklimits-Verstößen auf fast null gekommen sind in einem Jahr. So kann es gehen. Dann weißt du: Wenn du es nicht hinkriegst, dann hat es Konsequenzen. Bei einer Mauer oder einem Kiesbett überlegst du es dir zweimal."
"Das muss man also als erstes angehen", meint Gasly. "Es braucht eine echte Abschreckung, sonst finden wir hier keine Lösung." Das sieht Sainz ähnlich: "Wir drehen uns dann weiter im Kreis, wenn wir nicht Änderungen an den Strecken vornehmen, wie es an manchen Strecken bereits passiert ist."
Sind permanente Rennkommissare die Lösung?
Aber das ist für manche Fahrer nur die halbe Wahrheit. Sie fordern auch permanente Rennkommissare in der Formel 1, um für mehr Konstanz bei den Entscheidungen zu sorgen. Albon zum Beispiel fände das "nicht schlecht".
Er ergänzt: "Die FIA braucht vielleicht auch Leute, die wissen, wie sich unsere Autos anfühlen, wie es ist, in Dirty-Air zu fahren, die unsere Strecken kennen und dergleichen. Dann würden wir über viele Dinge gar nicht sprechen oder andere Diskussionen führen."
Ein Grundproblem bliebe aber laut Piastri: unterschiedliche Interpretationen. "Jeder hat eben eine andere Perspektive auf das, was richtig ist und was falsch", meint er. "Wenn du 20 Fahrer zu einem Zwischenfall befragst, gibt es wahrscheinlich zehn, die für eine Strafe plädieren, und zehn, die dagegen sind."
"So war es doch schon immer", sagt Bottas. "Die Sportkommissare versuchen konstant zu sein und ihren Vorgaben zu folgen, aber es ist eben nicht immer schwarz und weiß. Jeder Zwischenfall auf der Rennstrecke ist anders. Und solange man unterschiedliche Sportkommissare hat, solange wird es unterschiedliche Meinungen geben. Dessen ist sich die FIA bewusst."
Was die Formel 1 von IndyCar lernen kann
Zeit für einen veränderten Blickwinkel? Das schlägt Kevin Magnussen vor: "Vielleicht muss sich die FIA mal anschauen, wie es bei anderen Rennserien läuft. Bei den IndyCars funktioniert es zum Beispiel wirklich gut, wenn auch auf anderen Rennstrecken. Dort gibt es dieses ganze Tracklimits-Thema nicht, und das ist schon viel wert."
Darüber hinaus müsse sich die Formel 1 mit einer Grundsatzfrage auseinandersetzen, meint Magnussen: "Sollten die Fahrer hart miteinander kämpfen können? Ich finde schon. Das wird aber nicht passieren, wenn es gute Chancen gibt, eine Strafe zu kassieren, was auch immer man tut. Deshalb ist das Racing derzeit nicht so toll, sondern sehr eingeschränkt."